Tagebuch

8. Dezember 2020

Dass ich am 8. Dezember ein Gespräch lese, das Sven Michaelsen am 7. Dezember 1990 mit Friedrich Dürrenmatt geführt hat, ist purer Zufall. Oder doch nicht ganz: genau eine Woche später ist Dürrenmatt gestorben. Er spricht von seiner Zuckerkrankheit, was ich kenne. Er spricht von seinem Herzinfarkt, den ich kenne. Und er sagt: „Mit zunehmendem Alter wird man immer mehr eine Komödie.“ Ich zum Beispiel rege mich darüber auf, dass der ARD-Videotext offenbar eine schwere Niederlage gegen den Antidiskriminierungsbeauftragten der Bundesregierung erlitten hat. Seit heute stehen die Bundesländer mit ihren Zahlen alphabetisch sortiert, man sieht nicht mehr Berlin unangefochten an der Spitze der Hitparade pro 100.000 Einwohner, man sieht nicht mehr Sachsen als Chart-Stürmer und Thüringen ist jetzt auf dem allerletzten Platz, obwohl es heute erstmals die 1000 knackte, nur weil es mit T beginnt. Das find ich Scheiße und mich dabei komisch.

7. Dezember 2020

Die „Vossische Zeitung“ vom 27. Mai 1902 gab dem „Waarenhaus Hermann Tietz“ (genau so geschrieben) Gelegenheit, für Bier aus der Exportbier-Brauerei H. Siemens & Co. Berlin-Grünau zu werben: 30 Flaschen bestes helles Tafelbier frei Haus zu 2,05 Mark zuzüglich 60 Pfennig Pfand (für diese 30 Flaschen). Nur zwei Pfennig Pfand und trotzdem warfen die Hartz-IV-Empfänger des Kaiserreiches die Flaschen nicht ins Gebüsch! Unsereiner, der Welt nicht nur in Corona-Zeiten fast ausschließlich im Internet präsent, hat weltweites Publikum: Eben beantwortete ich die Anfrage eines spanischen Joseph-Roth-Übersetzers nach der Bedeutung eines Namens in einer frühen Erzählung meines Lieblingsmeisters aller Klassen. Würde mir das passieren, wenn ich meine Arbeit in den Joseph-Roth-Blättern der Universität Auckland in Neuseeland veröffentlicht hätte oder in der Festschrift für Professor Severin Mulschbüttel-Knesebroich, Bütten in Saffian-Leder zu 248 Euro?

6. Dezember 2020

Man pirscht sich an diesem Nikolaustag so durch diese und jene alte Zeitung, die Vossische vom 10. Januar 1929 meldet: „Bei Kabul wird gekämpft“ auf der Titelseite. Etwas weiter hinten werden die Todesurteile der letzten 60 Jahre in Sachsen statistisch ausgewertet: die größte Gruppe sind die zwischen 21 und 25 Jahren, gefolgt von der Gruppe von 26 bis 30 Jahren. Und dann folgt ein Satz, dem ich noch heute sämtliche Journalistenpreise nördlich des Äquators und westlich des Urals verleihen würde: „Mit Überschreitung des 40. Lebensjahres nahm das Morden ab.“ Meine Lebens- und Arbeitsgefährtin, im Jahrgang 1899 grasend, also 30 Jahre früher, musste fast noch mehr lachen als ich und so nahmen wir diesen Advent von seiner heitersten Seite, spazierten noch eine Runde bis zur 7000-Schritte-Grenze. In unserem Alter wird es nichts mehr mit dem Morden, wissen wir nun, es mangelt außerdem auch an der Bereitschaft des Staates, uns mit Höchststrafen zu beeindrucken.

5. Dezember 2020

Heute vor 150 Jahren ist Alexandre Dumas gestorben, also der, der immer der Ältere genannt wird. Der mit dem Grafen von Monte Christo und den drei Musketieren, die eigentlich vier sind. Ob der in Ohnmacht gefallen wäre, hätte er lesen müssen, dass sein wesentlich jüngerer Kollege Michel Houellebecq der Meinung ist, Trump sei einer der besten Präsidenten gewesen, die die USA je hatten? Was ja keinesfalls für Trump spricht, sondern nur und ausschließlich gegen Houellebecq. Den, falls er je eines hatte, das Urteilsvermögen verließ. Na gut, wir wissen, dass Provokation um der Provokation willen eine eher infantile Aktivität ist, wenn der so genannte Welterfolg sich leise in eine Schrumpfgröße verwandelt, wogegen auch das Synchronschwimmen, pardon, natürlich das Synchronschreiben der Großfeuilletons nicht mehr hilft. Hässlichkeit plus Kettenrauchen als Markenzeichen, ist, mit Verlaub, Scheiße. „Ich find dich Scheiße!“ sangen treffend Tic Tac Toe.

4. Dezember 2020

Der FREITAG kommt, als der Freitag schon wieder langsam geht, das liegt einfach nur an der Post. Die erfreut mich dafür mit einem Katalog aus Finsterbergen voller schöner Reisen im Jahr 2021. Einige dieser Reisen kollidieren mit Terminen, die sich nicht schieben lassen: wir haben tatsächlich zwei beim Augenarzt bekommen, für den 19. Mai 2021. Wenn wir auf einem Klappstuhl vor der Terminvergabe gewartet hätten, wären wir vielleicht sogar eher auf der Liste, aber man soll nicht unzufrieden sein. Früher gab es in Ilmenau einen einzigen Augenarzt und der konnte stundenlang fragen: „So besser oder so besser?“ Für mich als junge männliche Brillen-Schlange waren das bleibende Erlebnisse in den frühen sechziger Jahren, als der Klassenkampf noch nicht entschieden war und der weltweite Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus noch in vollem Gange. In damaliges Aluminium-Geld verrechnet, kostet meine heutige Brille ein glattes DDR-Jahresgehalt.

3. Dezember 2020

Mein FREITAG kommt normalerweise schon am Donnerstag, heute fehlt er im Briefkasten, was mich auf morgen hoffen lässt. Aus unserem Bruderland verlautet, dass Donald T. eine 46 Minuten lange Botschaft in die Welt gesendet habe, wonach er die Wahl nicht verloren habe. Inzwischen nehmen ihn seine eigenen Satrapen und Herolde nicht mehr ernst. Während einige Medien die Frage erörtern, ob man mit 78 noch Präsident sein kann. Man kann mit 94 noch Königin sein, wo liegt das Problem, wenn man gute Leute hat, die die Arbeit machen? Donald T. hat das Problem gegenläufig gelöst wie nur irgendein äquatorialer Klein-Diktator. Da kommt am Ende raus, was so rauskommt. Am Abend sehen wir wieder einmal einen Görlitz-Krimi und merken, dass wir die eine oder andere Ecke nun identifizieren können. Der Brunetti-Effekt in einem frühen Stadium. Am Morgen trug ich die „Geschichte des deutschen Theaters“ in mein Register ein: Friedrich Michael.

2. Dezember 2020

Ich arbeite mich durch ein dickes Buch mit 160 Texten, das dermaßen von Druck-, Lese- und Schreibfehlern wimmelt, dass ich fast Schnappatmung bekomme. Als ich einst Kunerts „Gast aus England“ las, dachte ich, mehr Fehler in einem Buch gingen gar nicht. Als hätte ich nie das so wunderbare Lied aus der Sesamstraße vernommen: „Es ist egal, wie weit du springst, es springt immer noch einer weiter als du“. Ja, es gibt Verlage, die schaffen es, Hunderte von Fehlern in ein einziges Buch zu schieben, haarsträubende Fehler, gegen die das Trennprogramm der TAZ Anfang der neunziger Jahre geradezu ein perfektes Rechtschreibprogramm war. Mein privater Gedenk-Kalender meldet mir heute den 130. Geburtstag von Hans Janowitz, der am ehesten noch als Mitautor des Drehbuches von „Das Kabinett des Dr. Caligari“ bekannt ist. Bei mir steht er im Ordner der Prager Deutschen mit einer kleinen Geschichte, „Das zierliche Mädchen“ betitelt.

1. Dezember 2020

Es lagen sogar ein paar Krümel jener weißen wässrigen Substanz in gefrorener Form, die man früher zu Bällen formte, aus denen man dreikuglige Männer baute mit Möhrennase und Eierkohlen-Augen. Wer aber weiß heute noch, was Eierkohlen waren, wo die meisten denken, Strom komme aus der Steckdose, weshalb man keine Kraftwerke mehr brauche. Gut, also keine Nostalgie, es liegt wohl nur daran, dass ich eben in Franz Hessels nostalgischen Erinnerungen schmökere, wenn ich ein kleines Zwischenstück brauche. In den Haupt- und Spätnachrichten sieht man derzeit so viele Einstiche, die so genannten System-Medien, ha!, bereiten uns optisch auf die Massenimpfung vor. Im fernen Sachsen explodieren die Zahlen einer Infektion mit einer nicht existierenden Krankheit, an der derzeit so viele Menschen sterben, wie nie zuvor. Auch das war früher besser, als man noch nicht mit Aluminiumhut auf dem Hohlkopf herumkrakeelte, das waren noch ordentliche Diktaturen.

30. November 2020

Heute endet jener Monat, dessen Kalenderblatt uns 30 Tage lang den guten alten „Glasmacher“ zeigte, von morgen an schauen wir auf den Markt mit Rathaus und etwas Amtshaus. Die Rente ist auf dem Konto, Nachbarn erleiden leichte Schlaganfälle, von morgens bis mittags bohrt jemand in den oberen Regionen. Ich schlage mich mit Fragen herum wie: wer hat wann welche Loyalitäts-Erklärung abgegeben 1933, wer landete trotzdem auf dem Scheiterhaufen mit seinen Büchern, wer wurde gar nicht verbrannt, obwohl das überall behauptet wird. War es einst eine Schande, nicht verbrannt worden zu sein wie es später eine Schande wurde, nicht bespitzelt worden zu sein, keine Akte zu haben? Ich lese eine Grass-Rede, in der er die Westlinken beschuldigt, sich hinter Mao und Che Guevara versteckt zu haben, statt sich für den demokratischen Sozialismus der CSSR stark zu machen: „Sie wissen überhaupt nichts, aber sie wissen alles besser“, sagte laut Grass ein Tscheche.

29. November 2020

Wenn der Ahnungslose sich selbst besondere Pfiffigkeit bescheinigen möchte, sollte man vorsichtig sein: ich also habe selbst und ohne Hilfe aus einem erneuten Streik meines Outlook-Programmes gefunden. Dabei habe ich von den Ratschlägen, die ich im weiten Netz fand, fast nichts verstanden, hie und da trieb wohl ein Stichwort vorbei, das ich zwar schon einmal gehört hatte, ohne jedoch zu wissen, was es bedeutet. Eines hieß Add-in. Ein solches hat offenbar behindert, dass ich meine Mails lesen und auch löschen konnte. Das erfuhr ich aber erst viel später, als mir die Zauberkiste verriet, welches Add-in es war, natürlich eines, das ich nie bewusst installiert hatte. Kurzer Rede langer Sinn: die Freude über das erneute Funktionieren von Postausgang, Posteingang, gesendeten Objekten begeisterte mich derart, dass ich reihenweise Mails in Speicher-Ordner als Nur-Text umsiedelte und so Platz schuf. Was mich aber von allen anderen Arbeiten abhielt bis zum Tatort.

28. November 2020

Da ist nun der 200. Geburtstag von Friedrich Engels. Ich müsste nachsehen, wann es anfing mit den Artikeln über ihn. Mich überrascht es nicht, wenn ich lese, dass er von Militär was verstand, sogar von Literatur. Ich habe ganze Schriften von ihm gelesen, nicht nur anderthalb handverlesene Altersbriefe. Jetzt entdeckte jemand eine Literaturkritik zu Annette von Droste-Hülshoff, Autor Friedrich Engels. Er konnte verständlich schreiben, ohne zu verwässern. Moderner ist bis heute: unverständlich schreiben, damit niemand merkt: der Kaiser hat ja gar nichts an. Früher hieß es: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt (mit ö bei Marx) aber drauf an, sie zu verändern. Heute wird nicht mal mehr verschieden interpretiert, es werden nur neue Worte auf alte Tatbestände geklebt. Neue Wörter sind alles, was gewollt wird, manchmal reichen sogar schon Sternchen mitten in alten Wörtern. Man dreht sich um in den Gräbern von Engels und Co.

27. November 2020

Lang ist es her, dass ich in einem Antiquariat der Hauptstadt der DDR ein schmales Buch aus dem Verlag Kurt Wolff München erwarb, acht Mark hatte ich zu zahlen, der Durchschlag des mit der Hand geschriebenen Kassenbelegs deutet auf das Jahr 1976. Mehr als vierzig Jahre also stand „Ein Geschlecht“ von Fritz von Unruh in meinem Deutschland-Regal zwischen Ludwig Sternaux und Berthold Viertel. Und heute nun langte ich hin: Vor dem Frühstück begann ich, nach dem Frühstück beendete ich die 68 Druckseiten und im Verlauf dieses Freitags las ich dazu noch zeitgenössische Kritiken: von Conrad Schmidt, dem Bruder von Käthe Kollwitz, von Julius Hart und von Fritz Engel, von Bernhard Diebold und Emil Faktor. Wer Theaterkritiken liest, die hundert Jahre alt sind, also eigentlich niemand, der kennt diese Namen. Nebenher habe ich Franz Hessel in Arbeit und die frühen Feuilletons von Arthur Eloesser. Ehe das in Protzerei ausartet, höre ich auf. Und schreibe.


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