Tagebuch

28. November 2020

Da ist nun der 200. Geburtstag von Friedrich Engels. Ich müsste nachsehen, wann es anfing mit den Artikeln über ihn. Mich überrascht es nicht, wenn ich lese, dass er von Militär was verstand, sogar von Literatur. Ich habe ganze Schriften von ihm gelesen, nicht nur anderthalb handverlesene Altersbriefe. Jetzt entdeckte jemand eine Literaturkritik zu Annette von Droste-Hülshoff, Autor Friedrich Engels. Er konnte verständlich schreiben, ohne zu verwässern. Moderner ist bis heute: unverständlich schreiben, damit niemand merkt: der Kaiser hat ja gar nichts an. Früher hieß es: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt (mit ö bei Marx) aber drauf an, sie zu verändern. Heute wird nicht mal mehr verschieden interpretiert, es werden nur neue Worte auf alte Tatbestände geklebt. Neue Wörter sind alles, was gewollt wird, manchmal reichen sogar schon Sternchen mitten in alten Wörtern. Man dreht sich um in den Gräbern von Engels und Co.

27. November 2020

Lang ist es her, dass ich in einem Antiquariat der Hauptstadt der DDR ein schmales Buch aus dem Verlag Kurt Wolff München erwarb, acht Mark hatte ich zu zahlen, der Durchschlag des mit der Hand geschriebenen Kassenbelegs deutet auf das Jahr 1976. Mehr als vierzig Jahre also stand „Ein Geschlecht“ von Fritz von Unruh in meinem Deutschland-Regal zwischen Ludwig Sternaux und Berthold Viertel. Und heute nun langte ich hin: Vor dem Frühstück begann ich, nach dem Frühstück beendete ich die 68 Druckseiten und im Verlauf dieses Freitags las ich dazu noch zeitgenössische Kritiken: von Conrad Schmidt, dem Bruder von Käthe Kollwitz, von Julius Hart und von Fritz Engel, von Bernhard Diebold und Emil Faktor. Wer Theaterkritiken liest, die hundert Jahre alt sind, also eigentlich niemand, der kennt diese Namen. Nebenher habe ich Franz Hessel in Arbeit und die frühen Feuilletons von Arthur Eloesser. Ehe das in Protzerei ausartet, höre ich auf. Und schreibe.

26. November 2020

Unter den Bürgern, die dieser Tage 80 oder gar 90 Jahre alt wurden, sind verdienstvolle alte Genossen wie Siegfried Lorenz, der mal im Politbüro saß, und Erich Postler, der in Gera einst den Herbert Ziegenhahn ablöste. Eine Gratuliergemeinschaft alter Kämpfer und Kämpferinnen hat sich zusammengetan, um den Jubilaren, die nun schon so lange die Segnungen des Klassenfeindes über sich ergehen lassen müssen, alles Gute zu wünschen. Die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer liegt im faulenden und sterbenden Kapitalismus deutlich höher als bei vorübergehenden Siegern der Geschichte. Die uralten Genossen müssen ihre dienstbaren Geister nicht mehr in den Delikatladen schicken, ein paar Büchsen Mandarinen zu kaufen für einen Fruchtboden oder eine kleine gefüllte Lende. Dafür gibt es jetzt kostenlos Ausbeutung, so schlecht ist das nicht, man beutet auch selbst ein wenig aus: die Rentenkasse kann sich nicht wehren, sie erhöht sogar ohne Parteitag.

25. November 2020

Der Nachteil eines Wohnorts hinter den Bergen mit sieben oder auch weniger Zwergen: man kennt Verschwörungstheorien nur aus dem Fernsehen oder aus den überregionalen Blättern, die man hie und da liest. Heute aber meine Premiere: im Warteraum des Zahnarztes darf nur eine Person sitzen, maskiert, alle anderen warten auf dem Flur, maskiert. Ich also raus, weil drin bereits eine maskierte Persönlichkeit sitzt, ich setze mich der nächsten draußen gegenüber auf den Stuhl. Und es geht los: „Ich verstehe das gar nicht mit diesen Zahlen, im Sommer war doch schon alles weg. Die fahren jetzt die Wirtschaft runter und drucken Geld. Nächstes Jahr gibt es die D-Mark wieder oder gar kein Geld mehr. Das ist doch so, oder?“ Ich will eigentlich nur die kleine Zahnreinigung, die die Kasse bezahlt und bekomme kostenlos dazu des Volkes Stimme. Es war eine weibliche Stimme mild fortgeschrittenen Alters, sie wartete schon seit fast einer Stunde. Ich war deutlich schneller drin.

24. November 2020

Wenn ein italienisches Weinhaus (vermutlich) meine Kundendaten an ein italienisches Olivenöl-Haus weitergibt, dann macht mir das einen gewissen Sinn. Wer aber gibt meine Anschrift an die isländische Botschaft, die mich nun zu einem isländischen Literatur-Event einlädt, an dem ich zeitgemäß online teilnehmen kann? Ich gebe zu, dass ich den kompletten Bestand Laxness aus dem Bücherregal meiner Eltern als Erbe in meinen Bestand überführt habe, auch führe ich einen Archiv-Ordner Island, den sich die Insel allerdings mit Finnland teilen muss, während ich für Norwegen und Dänemark je zwei eigene Ordner besitze, für Schweden gar drei. Nun fühle ich mich also geehrt: irgendjemand hat mich wahrgenommen, mich wichtig gefunden (vermutlich), weil es ja weder um Wein noch um Öl geht und ich auch nichts kaufen soll. Fast nebenbei lese ich, dass der orangefarbige Golfspieler, der das Weiße Haus besetzt hält, der Machtübergabe zugestimmt hat.

23. November 2020

Der heutige 100. Geburtstag von Paul Celan hat allerorten bereits seine ganzseitigen gedruckten Schatten vorausgeworfen. Und ich kann immer noch kein schlechtes Gewissen entwickeln, dass mir dieser musterhafte Vorzeigedichter des alten Westens fremd geblieben ist. Wie hoch unter meinen Brüdern und Schwestern der Prozentsatz derer ist, die man nachts um 2.30 Uhr mit Finger in die Rippen wecken kann, um ihnen „Todesfuge“ ins Ohr zu brüllen und sie brüllen „Celan“ zurück, mag ich nicht abschätzen. Es könnte sein, dass es mit Celan so ist wie mit Tocotronic, der Diskurs-Band aller Edel-Feuilletons: kein Radio spielt sie, kein Fernsehen zeigt sie, keine Hitparade führt sie, aber ein kleiner feiner Kreis verdreht die Augen, wenn schon der Name fällt. Mich hat immer dieser Aufreißerblick gestört, den Celan auf dem am meisten gedruckten Foto zeigt, längst kenne ich das Original, aus dem das Porträt geschnitten wurde, der Schnitt ein Meister aus Deutschland.

22. November 2020

Totensonntag, bis heute, sagt das ungeschriebene Gesetz, muss man warten mit der Weihnachtsdeko auf Fensterbrettern und Kommoden, Terrassen und Schränken. Die Wahrscheinlichkeit, dass keine Familie Omas Mühen würdigt, ist in diesem Jahr besonders hoch. Sie muss vielleicht ausgleichend Pakete packen und darauf verzichten, auspackende Enkel zu filmen, die nie jene Geduld haben, mit der alles eingepackt wurde. Wir haben die frühe Dunkelheit zu einem netten größeren Spaziergang genutzt und siehe, die ungeschriebenen Gesetze sind nicht überall vertrautes Gut. Manche Häuser sind schon geschmückt, als stünden sie mitten auf einem Weihnachtsmarkt. Beim Aufräumen in meiner Zettelwirtschaft, stoße ich auf einen, der die ersten drei Septemberwochen über die täglichen Corona-Zahlen aus Österreich festhielt. Seit dem ersten September fast eine Verzehnfachung, bei den Toten eine Verdreifachung. Gut, dass wir wenigstens noch das Kamptal hatten eine Woche lang.

21. November 2020

Neun Jahre ist das große Kleist-Jubiläum nun schon wieder her, das auch mich zum Wannsee trieb. Damals wusste ich nicht, dass Arthur Eloesser die Gedenkrede hielt 1911, hundert Jahre früher also. Peter Goldammer hat es in seiner großen DDR-Dokumentation ignoriert: entweder nicht gewusst oder aber mutwillig verschwiegen. Der 21. November ist jedoch auch der Geburtstag von Franz Hessel, dessen „Ein Flaneur in Berlin“ ich vor fast genau fünf Jahren las. Jetzt habe ich mir „Ein Garten voll Weltgeschichte“ vorgenommen, „Rundfahrt Berlin“ heißt die erste Skizze, es ist eine mir sehr vertraute Strecke, die er fährt, nur gibt es die Mehrzahl der Straßen, wie er sie sah, nicht mehr: Bomben, Sprengungen, Neubauten. Hessel, 1880 geboren, denkt an seine Schulzeit und wie er am Bühneneingang des Schauspielhauses auf die Darstellerin der „Jungfrau von Orleans“ wartete. Man müsste bei Fontane nachschlagen, wer das war damals vor allen Schiller-Jubiläen.

20. November 2020

Lektüre-Protokoll: Gestern mit „Heinrich von Kleist“ von Arthur Eloesser zu Ende gekommen, seit 1905 nicht wieder gedruckt, in der Kleist-Forschung der jüngeren Jahre geradezu peinlich ignoriert, ausgerechnet ein alter Nazi ist der einzige, der Eloesser wenigstens im Literaturverzeichnis nennt. Heute Ruth Klügers „Von hoher und niedriger Literatur“ in einem Zug, es sind nicht sehr viele Seiten, die aber haben es durchaus in sich. Klüger war die zweite Autorin, die zur Bonner Poetik-Vorlesung eingeladen wurde und den zweiten Teil ihres Vortrages nannte sie: „Missbrauch der Erinnerung: KZ-Kitsch“. Hätte ein Nicht-Jude den Satz schreiben dürfen: „Der Holocaust eignet sich hervorragend für Kitsch und Pornografie.“? Diese kürzlich gestorbene alte Dame war nicht nur klug, sie war klüger: sie war Ruth Klüger. Ich bin froh, dass ich den Dokumentarfilm über sie nicht verpasste, der nach ihrem Tod im Fernsehen lief, natürlich spät. Nun weiß ich: sie liebte Krimis.

19. November 2020

Dies ist nun der 120. Geburtstag von Anna Seghers und Hans-Dieter Schütt hat im ND noch einmal voluminös zugeschlagen zu Monika Melcherts Buch. Gehörte die nicht einst zu seiner Redaktion, als er noch ein Chefredakteur war? In meinem Nachlass wird sich ein Brief von ihm an mich finden, in dem er sich bei mir bedankt. Bis in den SPIEGEL wird es der unsensationelle Fund dann nicht schaffen. Die Schande, zu DDR-Zeiten für DDR-Zeitungen geschrieben zu haben, ist ein sehr kleines Schändchen. Bei Schütt gab es für 45 Druckzeilen 90 Mark, das muss eine heutige Zeitung erst einmal nachmachen: 45 Druckzeilen gleich eine Monatsmiete. Ich würde, Höhepunkt meiner schändlichen Weltsichten, die damalige JUNGE WELT mit allen ihren schlimmen Macken immer der heutigen vorziehen, in der sich seltsame Linksradikale und ehemalige Stasi-Chargen verbreiten, selbst Wiglaf Droste las ich nie wieder, als er unter Schölzel und Co. aktiv vor sich hin dichtete.

18. November 2020

Das Internet führt mir heute vor Augen, wie abhängig man von bestimmten Servern ist. Urplötzlich erscheinen, wenn ich in meinen Administratorenbereich will, seltsame Dateien, die ich weder zu deuten noch zu beseitigen weiß. Das ist wie ein plötzlicher Lähmungsanfall. Zum Glück habe ich Hochkompetenz in der Familie, die ich immer nur zu Rate ziehe, wenn es gar nicht vermieden werden kann, ich halte einfach nicht gern jemanden von seiner eigentlichen Arbeit ab, schon gar nicht in Zeiten von kommandiertem Home-Office. Irgendwann ging alles wieder, ich stellte meine Anna Seghers nach abermaliger Durchsicht für morgen ins Netz. Am Abend ein Krimi aus DDR-Zeiten, Jahrgang 1978, mit Winfried Glatzeder als Ermittler und Horst Schulze als Rattenzüchter, der früher ein KZ-Arzt war. Ein erstaunlich guter Film. Ich sehe DDR-Innenräume aus dieser Zeit immer gern, kenne die Tapeten, das Honecker-Bild im Büro natürlich auch und die grauen Häuser.

17. November 2020

Das Internet führt mir vor Augen, welch grauenhaft schlechte Arbeitsbedingungen früher für Leute herrschten, die auf Bücher, auf Zeitschriftenartikel, auf Archive angewiesen waren: Ich schrieb mir seinerzeit ganze Artikel mit einer klapprigen Schreibmaschine ab, weil die Bibliothek in Berlin für solche Kopien nicht ausgestattet war. Es gab Kopierer, da durfte man jedoch nicht mehr als zwanzig Seiten auf einmal kopieren, Buchseiten wohlgemerkt. Jetzt bin ich sekundenschnell in Archiven, die bestimmte Dinge, die ich suche, digitalisiert anbieten mit und ohne Gebühren, es gibt preiswerte Jahreszugänge, es gibt Möglichkeiten, Jahresinhaltsverzeichnisse mit Volltext-Suchprogrammen zu durchforsten. Wo ich früher viele Stunden und Tage zum Blättern gebraucht hätte, staple ich heute nach kurzer Zeit Ausdrucke neben mich. Da fehlt am Abend nur noch die Nationalmannschaft. Die spielt aber schlechter als in schlechtesten Zeiten, 1931, höre ich, verloren wir zuletzt so. 1931?!


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