Tagebuch

23. Februar 2022

Fern auf der Seiser-Alm ist heute Geburtstagsfeier angesagt, die Ziffern 3 und 4 des Geburtsjahres fallen auf wundersame Weise mit dem erreichten Alter zusammen. In Europa kehren wir alle zu gut bekannten Zuständen zurück: der Ost-West-Konflikt ist wieder da, was in Brüssel Tausende Top-Verdiener freuen wird, denn der staubige Inhalt der untersten Schubladen darf nach oben geholt werden. In den veralteten Bundesländern kommt ebenfalls Freude auf: die Hallstein-Doktrin lehrte dort alle, was es heißt, mit Rebellenrepubliken wie der DDR umzugehen, die heute Luhansk oder Donezk heißen. Jeder, der sie anerkennt oder Dinge tut, die nach Anerkennung riechen, muss mit Pressionen, Sanktionen und anderen -ionen zurechtkommen. Ich freue mich auf den steigenden Gaspreis, weil ich kein Gas benutze. Russisches Gas wird naht- und lückenlos durch Fracking- und Katar-Gas ersetzt, weshalb wir dorthin gern großzügig und vorsorglich sportliche Spiele vergeben.

22. Februar 2022

Wir frühstücken wieder zu Hause nach drei sehr netten Hotel-Frühstücken inklusive. An Obst sind wir auf die vorhandenen Bestände angewiesen, die erst mit dem Einkauf der Woche aufgeheitert werden, es ist aber mehr als genug da. An Marmelade sind wir auf unsere Eigenproduktionen angewiesen, die ohnehin unschlagbar sind. Draußen ist das Wetter, welches wir Ilmenau-Wetter nennen, also Scheißwetter. Ich lese nach drei Tagen Alfred Polgar und Günter Kunert wieder Georg Hensel, ich bereite meinen nächsten Beitrag zu Arthur Eloesser vor, der zu meinem jüngsten passen soll. Wir sehen „The Father“ von Florian Zeller und heulen vor uns hin, wie sich das angesichts dieses grandiosen Films gehört. Jetzt bekommen schon Menschen den Oscar, die jünger als die Kinder sind, die wir mehr oder minder erfolgreich aufzogen. Im Berliner Hotel sahen wir abends alle Filme, die wir zu Hause aufnahmen, weil wir dachten, wir würden sie nicht sehen können.

21. Februar 2022

Nachtrag: Wir müssen unser Zimmer erst um 12 Uhr räumen, was uns genug Luft für Abschiede verschafft. Wir können sogar noch meine leer getrunkenen Flaschen von Ambrosetti in den Pfand-Automaten stecken, ehe wir im U-Bahnhof Bismarckstraße verschwinden. Unser Zug wird in Berlin eingesetzt, kommt also nicht aus dem sturmgepeitschten Hamburg. Andere Züge nach Dresden beispielsweise kommen später, weil auf der Stecke Bäume auf die Gleise fielen, was in der mehrfach wiederholten Ankündigung auf Englisch sehr nett klingt, man kann es nach der dritten Wiederholung mitsprechen. Wir fahren auf die Sekunde pünktlich los, wir sind auf die Sekunde pünktlich in Erfurt und wir fahren von Erfurt mit einem regionalen Schnellzug nach Ilmenau, von dem wir gar nicht wussten, dass es ihn gibt. Er hält nur in Neudietendorf, Arnstadt, Arnstadt Süd und dann schon Pörlitzer Höhe. Nix mit Haarhausen oder Elgersburg, von Plaue gar nicht zu reden.

20. Februar 2022

Nachtrag: Die Rezeption unseres Hotels stellt wie jedes Hotel diverse Prospekte und Flyer zur Wahl und Mitnahme. Aus dem Päckchen, das wir mit ins Zimmer schleppen, wählen wir das „Berlin Story Museum im Bunker“, welches wir finden, wenn wir uns via Potsdamer Platz zum Anhalter Bahnhof begeben, von wo 112 Transporte nach Theresienstadt gingen mit jeweils maximal 100 Juden, manchmal weniger, nie aber mehr. Im Bunker sehen wir Bilder eines schrecklichen Pogroms in Lemberg, welches nach Bedarf auch Lwow, Lwiw oder wie auch immer genannt wird. Es waren ukrainische Nationalisten, die da wüteten. Vorher hatten sie die Nazis als Befreier begrüßt, dann halfen sie Juden vernichten. Mich graust, wenn wir heute blöde so tun, als wäre die Ukraine unser absolutes Lieblingsland, dem wir sogar Helme schicken wollen. Nichts für ungut. Auch Letten und Litauer halfen Juden vernichten. Fünfeinhalb Stunden sind wir im Bunker, anschließend fast platt.

19. Februar 2022

Nachtrag: Während wir des Anlasses frönen, der uns nach Berlin gebracht hat, fallen andernorts die Festbankette aus, die wegen des 275. Geburtstages von Heinrich Leopold Wagner geplant waren. Sie finden nicht statt, wäre ehrlicher formuliert, weil sie niemand geplant hat. Seit Goethe seinen alten Sturm-und-Drang-Kumpel beschuldigte, mit seinem Trauerspiel „Die Kindermörderin“ ein Plagiat an der eigenen Gretchen-Tragödie begangen zu haben, hat Wagner es literaturgeschichtlich verschissen, wie man das in gewöhnlich schlecht erzogenen Kreisen nennt. Sturm und Drang, nun gut, man kann ihn nicht ganz verschweigen, aber man kann zur Tagesordnung übergehen, muss dazu nicht einmal einen Geschäftsordnungsantrag stellen. Elise Dosenheimer, die wirklich so hieß, schrieb: „Stoff, Milieu und Gehalt in diesem Drama sind so ziemlich die gleichen, wie bei Lenz.“ Was auch wieder nur Insidern weiterhilft. Im Kant-Kino „In 80 Tagen um die Welt“, sehr herrlich.

18. Februar 2022

Nachtrag: First we take Manhattan, then we take Berlin. Sang einst Leonhard Cohen, der Kanadier, der uns eine Weile auf Kassette (was war das denn?) im Auto begleitete, später auf CD, später auf USB-Stick. Jetzt fahren wir nur selten noch mit dem Auto nach Berlin, Manhattan hat uns noch nie wirklich interessiert, aber unsere Bahncard 25 ruft wie die Brote in „Frau Holle“: Hol uns endlich raus. Dank Corona fast ungenutzt. Und jetzt: Das Pünktlichkeitsfest von der Pörlitzer Höhe bis Berlin Hauptbahnhof. Zwei alte Viererkarten finden sich im Portemonnaie und dann das fast noch größere Wunder: Das Hotel lässt uns mehr als drei Stunden vor der eigentlichen Eincheck-Zeit in unser Zimmer 438. Wir kennen den Innenhof schon, in den wir blicken, wir sehen die Fenster, aus denen wir von der anderen Seite in diesen Innenhof geblickt haben. Berlin besteht aus Hotels mit und ohne Frühstück, es gibt sogar noch Pensionen, die gemeinsame Bäder im Angebot haben.

17. Februar 2022

Sage mir, wer dich feiert und ich sage dir, wer du bist? Heute ist der 200. Geburtstag von Georg Weerth, den einst Friedrich Engels so hoch lobte, dass sogar Franz Mehring kurz zuckte, ehe er abschrieb, was Engels vorschrieb, die Quelle nicht verschweigend, aber wörtliche Zitate auch nicht kennzeichnend. Kein Mensch weit und breit denkt heute an Weerth, medial gesehen, außer: die Junge Welt. Und unser frischer alter Bundespräsident. Zwei komplette Seiten füllt sie. Als ich diese  meinem Archiv zuführe, finde ich: eine knappe halbe Seite Junge Welt von 2006. Damals aus der „Feder“ von Arnold Schölzel, dem vor allem das Lob der DDR am Herzen lag und die Kritik am faulenden, aber dennoch einfach nicht sterben wollenden Kapitalismus. Systemfrage als Pulver zum Aufbrühen, Brühe ohne Ei. Ich habe mir zuletzt Weerths „Streiflichter aus Old England“ aus dem Regal ins Arbeitszimmer geholt. In bester Leseabsicht. Mal schauen, ob das auch wirklich klappt.

16. Februar 2022

Seine Goethe-Biographie war eine der ersten, die ich komplett zu Ende las. Mein Exemplar gehört zur 4. Auflage von 1977, am 20. August 2008 trug ich sie in mein Lese-Register ein. Zu seinem 60. Geburtstag brachte der Leipziger Reclam-Verlag das Buch „Zu Goethe und anderen“ heraus, die anderen waren Wickram, Klinger, Forster, Hölderlin, Thomas Mann und Johannes R. Becher. Der Greifenverlag Rudolstadt nahm 1961 sein Buch „Literatur unserer Zeit“ als Band 8 in seine Reihe „Wir diskutieren“ auf, womit meine Bestände erschöpft sind. Im Archiv finde ich eine Rezension der „Wochenpost“ zur Neuauflage seines Büchner-Romans „Hoffnung hinterm Horizont“ und einen Nachruf aus „Neues Deutschland“ von 13. Juni 1989. Hans Jürgen Geerdts, der heute hundert Jahre alt wäre, ist in Danzig geboren. Dass er 1940 NSDAP-Mitglied wurde, verhinderte nicht, dass er vier Jahre später wegen Wehrkraftzersetzung vor ein Militärgericht kam. Was er aber überlebte.

15. Februar 2022

Mag sein, dass die Werbung früher dem Leben hinterherhinkte, heute hinkt sie voraus. Ein Abend mit Fußball im Fernsehen lässt uns zum einen erkennen, dass die traditionellen Geschlechterrollen hier noch funktionieren: Tampons und Mascara kommen deutlich seltener vor als Rasierapparate und Elektroautos. Elektroautos haben Autos inzwischen vollkommen aus der Werbung verdrängt, völlig anders als im wirklichen Leben. Im wirklichen Leben kümmern sich Turban tragende Männer mit Bärten bis zum Brustbein vermutlich nie bis niemals um das Windeln ihrer Kleinstkinder, in der Werbung tun sie es und traumhübschen Babys, denen gönnt man natürlich unsere Pampers. Heute in einem Jahr wird Elke Heidenreich 80 Jahre alt, wozu ihr natürlich erst zu gratulieren ist, wenn es so weit ist. Bis dahin freuen wir uns, dass sie noch lebt und wissen nicht, was sie so treibt. Hoffentlich schreibt sie nicht Romane, sie könnte sich ja nicht selbst empfehlen in diesem oder jenem Format.

14. Februar 2022

Kaum zu glauben, wenn man es heute liest: das Privatfernsehen war an seinen Anfängen zu einem bestimmten Hochkulturanteil verpflichtet, damit Männer-Magazine und Lederhosen-Sex nicht die volle Dominanz behaupten konnten. Einer, der das Hochkultur-Alibi bereitwillig und ausdauernd lieferte, war Alexander Kluge, der heute 90 Jahre alt wird und den ich in diesen frühen Jahren, als die DDR ihren Bürgern das Graben von Kabelgräben für Antennenanlagen erlaubte, die dann die farbige neue Welt in die farblosen Wohnhäuser brachten, sehr gerne sah. Das heißt: man sah ihn nicht, man hörte ihn nur, wie er seinen Gästen die Antworten soufflierte, die sie geben sollten. Alles war schwer avantgardistisch, was man halt toll fand damals, auch ich. Sehe ich heute zufällig mal was dieser Art, schalte ich umgehend weg, wenn auch nicht ganz so schnell wie bei Anja Reschke. Das Format ist verschlissen. Kluge reicht mir nicht mehr, ich stehe auf Klüger, also Ruth Klüger.

13. Februar 2022

Nachdem ich gelesen habe, was Doris Dörrie so liest, immer parallel, wie sie verrät, was ich auch tue, merke ich, dass ich mich dann doch nicht dafür interessiere, was sie liest. Sie empfiehlt etwa Emmanuel Carrère, den sie einen richtig interessanten alten weißen Mann nennt, was man von einer alten weißen Frau natürlich erwarten darf. Wobei alte weiße Frauen des Jahrgangs 1955 natürlich gar keine alten weißen Frauen sind, sondern heiße Feger mit etwas mehr Hautelastizität in diesen oder jenen Regionen. Ich, der ich heute in 14 Tagen einen wenig runden Geburtstag feiere, bin überwiegend mit alten weißen Männern beschäftigt. Das liegt daran, dass die Vertreter der deutsch-jüdischen Literatur leider weder von den Rändern des Ngorongoro-Kraters noch aus den Tiefen der Anden-Täler stammen. Also weder der indigenen Bevölkerung noch Indi-Musikern zuzuordnen. Was mich wenig beunruhigt. Viele waren komischerweise Theaterkritiker und zwar sehr, sehr gute.

12. Februar 2022

Auch wenn ich gestern erstmals im nun schon gar nicht mehr so neuen Jahr im Theater war, die Prozedur wie gehabt: Impfnachweis, Maske während der gesamten Vorstellung, widme ich mich heute einem Kollegen, den ich, mit Verlaub, für einen der ganz Großen halte, der aber, wie so viele andere auch, zu den vollkommen Vergessenen gehört. Es ist Willi Handl, mit vollem Namen Siegmund Wilhelm Handl, am 12. Februar 1872 geboren, am 26. Mai 1920, nur 48 Jahre alt, gestorben. Er lieferte allein der „Schaubühne“ von Siegfried Jacobsohn 114 Beiträge, das gäbe ein solides Buch, und die „Neue Rundschau“ des S. Fischer Verlages profitierte von September 1907 bis zum November 1919 kräftig von ihm, das gäbe ein zweites solides Buch. Es ist Unfug zu sagen, Kritiken seien Verfallsware, die wirklich guten kann man immer auch dann lesen, wenn man weder das betroffene Stück sah, noch Autor und Darsteller kannte. Willi Handl also, ich lese ihn sehr gern.


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