Tagebuch

8. Oktober 2020

Louise Glück also. Als ich vom Kauf meiner Donnerstagszeitungen nach Hause kam und diesen Namen hörte, sagte ich spontan: Nie gehört. Ich dementiere meine Aussage insofern, als ich sage: vor vielen Jahren einmal unterschwellig wahrgenommen: mein Archiv enthält genau drei Stücke zu ihr. Dorothea von Törne begrüßte im November 2007 den ersten deutschsprachigen Gedichtband „Averno“, ein knappes Jahr später wurde „Wilde Iris“ in der Rubrik „Taschenbücher der Woche“ der „Literarischen Welt“ knapp besprochen, seither herrscht editorische Funkstille. Ein halbes Jahr ließ damals noch die „Neue Zürcher Zeitung“ verstreichen, ehe sie im Februar 2009 „Wilde Iris“ anzeigte, Autor Jürgen Brôcan, in dessen Anthologie „Sehen heißt ändern“ 2006 die nunmehr sicher sehr glückliche Louise erstmals in deutscher Sprache erschien. Vielleicht hat Luchterhand München noch ein paar alte Exemplare auf Lager. Dazu Trauer: Ruth Klüger und Günther de Bruyn sind tot.

7. Oktober 2020

Für den heutigen „Tag der Republik“ seligen Andenkens habe ich eine Flasche „Gemischter Satz“ der Weingärtnerei Aichinger kalt gestellt. „Gemischter Satz“ war seit unserem Urlaub in Baden bei Wien ein Gegenstand gesteigerter Neugier. Inzwischen tranken wir diese und jene Flasche davon. Wenn Wiener sich in der Wachau ansiedeln oder, was häufiger vorkommt, in der Wachau Urlaub machen, fragen sie bisweilen die Winzer, warum sie keinen „Gemischten Satz“ im Angebot haben und schon bewegt sich der Markt ein wenig. Ilse Aichinger, die 95 Jahre alt wurde, war vermutlich mit der Weingärtnerei weder verschwistert noch verschwägert. Weil aber ihr 100. Geburtstag im kommenden Jahr elf Tage vor ihrem fünften Todestag in Erinnerung zu holen sein wird, will ich heute schon mal wenigstens ihren Namen aufrufen. Hanns Cibulka ließ einst sein Alter Ego Andreas Flemming mit seiner Liv in Swantow Gumpoldskirchner trinken, weit weg von Gumpoldskirchen.

6. Oktober 2020

Früher wäre das ein Vorabend gewesen, heute ist es der Tag, da unser Mülltonnenstandplatz endlich verschließbar wurde. Man muss nun immer mit seinem Hausschlüssel hinab gehen und die sehr spannende Frage lautet: wie lange hält die technische Mechanik? In unserem kleinen Gästezimmer hängt nun über der Tür ebenfalls endlich jenes kleine Eckregal, das ich mir eigentlich zu meinem 65. Geburtstag schenken wollte. Erst Corona räumte das Großauftragsbuch des Tischlers meiner Wahl so weit leer, dass er auch mal wieder einen kleineren Auftrag erledigen konnte. Optimistisch, was alles hineinpasst, war ich bis knapp vor Beginn des Einräumens, dann machte sich Theodor Fontane dort derart breit, dass mit Mühe und Not noch Gottfried Keller zu verstauen war, später holte ich mir beim Bücken nach einem vom Tisch gefallenen Lineal einen postklassischen Hexen-Schuss, was mir altem Atheisten den Gesang der Engel auf überraschende Weise sehr nahe brachte.

5. Oktober 2020

Das Transferfenster schließt heute um 18 Uhr und dann ist erst einmal Ruhe im fußballerischen Menschenhandel. Immer mehr Clubs werden zu Leihhäusern, die Internationalität der Teams wird immer größer, man denkt gerührt an Zeiten, da bei Energie Cottbus kein einziger Bürger spielte, den man nach heutigen Sprachregelungen nicht mehr näher benennen darf, ohne seltsame Wörter zu benutzen wie Bio-Deutscher, als gäbe es die in der Grünen Ecke der Menschen-Discounter. Na gut. Die Bürger, die in Berlin sämtliche Regeln verletzen, die man verletzen kann, sehen, soweit man die Bilder in den Nachrichten sieht, auch so aus, das man sich nicht traut zu sagen, wie sie aussehen, weil in Berlin inzwischen selbst das Wort Migrationshintergrund in den Sprachuntergrund migrieren musste. Immerhin könnte es passieren, dass man in Charlottenburg nicht mehr über die Straße darf, wenn man in Kreuzberg schaute, wie lang die Nächte dort sind. Wegen erstellter Bewegungsprofile.

4. Oktober 2020

Heute gibt es in Ansbach eine Führung auf den Spuren von Johann Peter Uz. Auch ich bin immer noch auf seinen Spuren, weil ich immer neue Sachen entdecke, die ich gern noch verarbeiten will. Mein Textverarbeitungssystem dreht mir mit dickster Hartnäckigkeit den Namen um und macht Zu daraus. Das hatte ich zuletzt bei einem juristischen Goethe-Enthusiasten namens Klien, der immer wieder zu Klein gewandelt wurde. Seit Freitag liegen nun sämtliche Bestände von und zu Theodor Fontane auf dem Fußboden, weil sie übermorgen einen neuen Stellplatz finden sollen. Ich war selbst erschrocken, wie viel sich da gesammelt hat und wie viel Überhang es noch aus dem Jahr des großen Jubiläums abzuarbeiten gäbe. Donald Trump geht es eigenen Auskünften nach so unfassbar gut, dass man glauben kann, Covid19 sei eine Art Badekur für orangefarbige Präsidenten. Von seiner Third Lady Melania hört man nichts, obwohl sie eine Frau ist und kein alter weißer Mann.

3. Oktober 2020

Dreißig Jahre ist es nun her und ich weiß noch ganz genau, wie mir mein Großvater Werthers Echte aus dem Goldpapier wickelte. Nein, das ist natürlich purer Blödsinn: ich stand mit sehr jungen Kollegen in Eisenach auf dem Markt, sehr junge Menschen spielten Autokorso und schwenkten Fahnen aus offenen Wagenfenstern und grölten herum. Die Einheit war nun da und endlich konnten unsere Sportler dem Westen Medaillen gewinnen. Der Westen entdeckte den Medaillenspiegel für sich, den er früher lächerlich gemacht hatte, weil er für ihn immer nur hintere Plätze dokumentierte, es sei, es ging um Nobel-Sportarten wie Tennis, Ski Alpin oder auf Pferden über Hindernisse und durch Sand zu reiten. Gern gestehe ich, dass ich eine Weile brauchte, ehe mein Interesse für den Sport wieder in die Nähe des Levels geriet, das es seit den Tagen der Friedensfahrt und Täve Schurs nebst Bernhard Eckstein gehabt hatte, Klaus Ampler nicht zu vergessen. Fußball als die Ausnahme.

2. Oktober 2020

Was für eine Nachricht: Donald Trump und seine First Lady, die ja gar nicht seine First Lady ist, sondern seine Third Lady, sind mit Covid19 infiziert. Im Weißen Haus gingen Infizierte um, und mit denen gab es Kontakt. Für solche Kontakte brauchte Bill Clinton noch Zigarren und eine Praktikantin, wobei er sich nicht infizierte, sondern keinen Sex hatte. Jetzt also scheint der Liebe Gott in seiner Gerechtigkeit einen wie auch immer gearteten Denkzettel an den Mann zu geben, der vorsorglich das Ergebnis einer Wahl anzweifelt, die es noch gar nicht gegeben hat. Ich befasse mich mit in Ansbach geborenen Dichtern, da waren auch noch ein von Cronegk, ein von Soden und ein von Platen, letzterer irgendwie mit einem gewissen Heine ins Gemenge geraten. Ansbach brachte auch einen Hermann Fegelein hervor, welche die Schwester von Eva Braun ehelichte und damit in ein angeheiratetes Verwandtschaftsverhältnis zu einem gewissen Mann aus Braunau am Inn geriet.

1. Oktober 2020

Das letzte Quartal des Jahres beginnt damit, dass die Augenärztin Urlaub hat, bei der man sich ab heute neue Termine für die Jahre 2034 und 2035 holen konnte. Das Leben ist so. Für mich der erste Tag seit ziemlich langem, dass ich im Ilmenauer Stadtarchiv saß, eine Akte aus dem Jahr 1902 in Augenschein nahm, ohne sehr viel davon lesen zu können, das meiste aber war ohnehin zu speziell für meine Zwecke. Ich weiß leider nicht, ob es zum Ausbildungsinhalt für Archivarinnen gehört, freundlich und entgegenkommend zu sein, in Ilmenau kenne ich es, hatte es auch in Bad Kissingen. Immerhin lieferte ich selbst einen kleinen Text für die Bestände, der in der Goethe-Passage bis dato völlig unbekannt war. Ein gewisser Johann Peter Uz hat übermorgen seinen 300. Geburtstag, was ihn in Konflikt mit den offiziellen Feierlichkeiten bringt, die Aufmerksamkeitsökonomie betreffend. In Ansbach immerhin wird man seiner jedenfalls gedenken und ich bin in aller Stille auch an Bord.

30. September 2020

Der 30. September 2000 war ein Sonnabend, da wir innerhalb von 21 Stunden 1680 Kilometer fuhren bis nach Calais und wieder zurück nach Ilmenau, davon 300 Kilometer die Frau an meiner Seite. Unser Plan, in Eupen zu nächtigen, schlug fehl, weil sich kein freies Doppelzimmer fand. Nie war ich kaputter und näher am Sekundenschlaf am Steuer. Als wir am Hoverport ankamen, legte eines der Hovercrafts gerade ab, das nächste fuhr verspätet, es gab Tränen natürlich auch. Calais sahen wir später noch viermal. Und überquerten den Kanal selbst samt Auto in beide Richtungen. Damals hatten wir noch Respekt vor der französischen Autobahn wegen der Maut, als wir sie dann doch befuhren, mussten wir gar nicht zahlen. Wir hätten uns also ein paar Kilometer ohne Navi durch Dünkirchen sparen können. Der Mantel der Geschichte streifte uns nicht, erst ein Jahr später, als wir in Dover in den Küstenfelsen die unterirdischen Kommando-Bunker sahen mit Kanalblick.

29. September 2020

Da müssen wir jetzt durch: ein Trommelfeuer Deutsche Einheit, produziert von sehr vielen, die nicht dabei waren mit einigen Zeugen, die dabei waren. Die Zeit, in der sich jede große Redaktion einen Vorzeige-Ossi ohne Migrationshintergrund hielt, möglichst aus einem Pastorenhaushalt, ist noch nicht vorbei, nur geht die Ossi-Kleinstgruppe jetzt massiv in Rente. Neu ist das Wort Respekt und pflichtgemäß freuen sich vor Kameras die Zeugen, dass es endlich Respekt gibt vor unseren so genannten Lebensleistungen. Ich gestehe, dass ich noch immer keinen Respekt vor meinen Brüdern und Schwestern dritten Grades habe, die mir Pakete im Wert von bis zu zwölf Westmark sandten und dafür 50 Mark beim Finanzamt absetzten in der Steuererklärung. Nie wäre ich im Leben auf die Idee gekommen, einem aus dem oberen Schwarzwald zu erklären, wie er vierzig Jahre lebte, ich war nie da bis heute, von dort aber kamen Bataillone, Regimenter, die wussten, wie ich gelebt habe.

28. September 2020

Es dauert, bis alles wieder in normalen Bahnen verläuft, die ersten Waschmaschinen gewaschen sind, die eingegangene Post gesichtet ist. Aus Wien keine Nachricht über meine fehlende Lieferung, dafür spät noch in einem Hamburger Antiquariat die beiden Bände, die ich dringend brauche. Ich komme tatsächlich mit dem Cibulka-Band „Tagebücher“ zu Ende, den ich einst kaufte, um nicht fünf einzelne Büchlein suchen zu müssen, von denen mir vier ohnehin noch fehlten. Der Markt ist weitgehend leergefegt, vor allem seine Lyrik-Bände kaum greifbar. Das verstehe, wer will. Ohne Urlaub, Cibulka, Eloesser hätte ich heute einen Text zu John Dos Passos ins Netz gestellt, weil ich den 50. Todestag als guten Anlass sah, über „Das Land des Fragebogens“ zu schreiben, seine „Reportagen aus dem besiegten Deutschland“ des Jahres 1945. So aber bin ich mit dem Gedanken befasst, warum Soldat Hanns Cibulka in Wolhynien einmarschierte und nicht in die Sowjetunion.

27. September 2020

Nachtrag: Dies ist nun schon der erste Todestag meiner Mutter. Sie hätte sich viele Sorgen gemacht um uns in diesen Corona-Zeiten. Wir schaffen es, schon 9.40 Uhr im Auto heimwärts zu sitzen, es gibt an der Grenze keinerlei Kontrollen, es entfallen alle Fragen, wo wir waren. Wir fahren durch bis Jura Ost, wo  auch diesmal wieder einige merkwürdige Gestalten zu sehen sind, die an ihren Fahrzeugen vorn und hinten unterschiedliche Kennzeichen haben, deren Frauen sehr bunte Röcke tragen und ruhelos mit zwei Kaffeebechern auf und ab pilgern, während die Männer unsichtbare Defekte besichtigen im Bereich der Stoßstange. Kurz nach 16 Uhr sind wir zu Hause, entladen alles, tragen alles in den Keller, was in den Keller gehört. Ich hole die Zeitungen von der Tankstelle, wo es wieder eine neue Angestellte gibt. Zwei unserer Orchideen sind den Urlaubstod gestorben, in beiden Fällen absehbar. Anders als vorigen Sonntag verschlafen wir den frischen Tatort heute nicht.


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