Tagebuch

25. März 2020

Paare, die gemeinsam einkaufen wollen, werden neuerdings gezwungen, zwei Wagen zu nehmen wegen des Abstand wahrenden Effekts. Wer also gegen Feierabend nur noch einmal rasch fünf Scheiben abgepacktes Brot holen will und einen Kohlrabi, der sollte das allein tun, zumal der Kohlrabi mit Karte bezahlt werden muss. Aus der Qualitätspresse erfahre ich, dass es Menschen gibt, die mit dem Wort Prepper bezeichnet werden, es gibt sogar eine Prepper-Szene, die sich in verschiedenen Internet-Foren darüber austauscht, wie man unauffällig Nudeln hamstert, ohne auch die Vollkornnudeln mitnehmen zu müssen. Der Prepper bereitet sich auf den Tag X vor, der sich unter den Bedingungen von Corona zum Halbjahr X ausweitet, weshalb er viel mehr Vorrat braucht, als wenn nur ein Atomkrieg ausbräche. Greta Thunberg hat vorsorglich melden lassen, sie könnte vom Virus befallen sein, brachte es damit aber nicht mehr auf eine Titelseite. Alldays Past Perfect.

24. März 2020

Am 24. März 1952 trug Martin Walser in sein Tagebuch ein: „Aufnahme: Die Dummen, Musik von Otto-Erich Schilling, Spielleitung hat Frau Schimmel.“ Es handelt sich um sein erstes eigenes Hörspiel, es war sein 25. Geburtstag. Mit Hörspielen verdiente man in den ersten Jahren nach dem Krieg mehr als mit Büchern. Heute ist sein 93. Geburtstag, Walser lebt nicht nur immer noch, er schreibt auch: Buch um Buch, Buch um Buch. Vor allem Kritikerinnen neigen dazu, ihn nur noch mild oder bissig zu belächeln. Fair ist das nicht, aber den Damen macht es Spaß. Die Zahl meiner Walser-Bücher bewegt sich langsam in Richtung 60, die über ihn eingerechnet. Was ich über sein „Heimatlos“ schrieb, was über „In Goethes Hand“, ist noch nachlesbar, 2013 und 2017, aber doch schon eine Weile her. Die DDR mochte ihn, als er sich in der Nähe der DKP bewegte, im Westen mochte man ihn erst wieder, als er diese Phase hinter sich hatte. Unzufrieden ist immer jemand.

23. März 2020

Dass ich in Detlef Ignasiaks „Das literarische Ilmenau“ fehle, ist blöd für mich, aber ich bin auch nicht von Schiller gefördert worden und keines meiner Gedichte ist je in den „Horen“ erschienen. Dass Sophie Mereau in Detlef Ignasiaks „Das literarische Jena“ fehlt, ist blöd für Detlef Ignasiak, denn Sophie zog nach der Heirat mit Karl Mereau 1794 nach Jena, hörte dort als einzige weibliche Hörerin Fichte und studierte auch Kant, wurde später noch Gattin von Clemens Brentano. Am kommenden Sonnabend hätten alle Mereau-Freunde in Jena die Eröffnung des Thüringer Mereau-Jahres erleben können, wenn, ja wenn nicht dieser seltsame Kleinbursche aus China unser Leben lahm legen würde. Angeblich, hörte ich heute aus dem Fake-News-Universum, werden derzeit mehr Bücher gekauft als vor dem Virus. Ob Sophie Mereau Nachfrage hat, weiß ich nicht, ist aber auch gar nicht schlimm, ihre beiden Romane gibt es auf CD-ROM (die man natürlich besitzen müsste).

22. März 2020

Gut, zu zweit dürfen wir noch raus, deshalb sind wir heute die größte Biege seit meinem Geburtstag gemeinsam gelaufen, knapp fünf Kilometer. Außer Menschen mit Hunden begegnete uns niemand. Am Abend erfahren wir aus dem stets wohl unterrichteten Netz und seinen Zulieferern, dass in Neustadt am Rennsteig die Bürgersteige eingerollt werden müssen. Mein Besuch beim Schlachtfest dort war vorläufig der letzte. Die Sommerspiele werden möglicherwiese in den Winter verlegt und es ist nicht sicher, ob die Weitspringer rechtzeitig auf Skifliegen umgeschult werden können. Im Netz kursieren mittlerweile die lustigsten Dinge. Das Gebührenfernsehen hat sich entschieden, statt Sondersendungen, die zur Hälfte aus dem bestehen, was eben in den Hauptnachrichten zu sehen war, die Hauptnachrichten einfach zu verlängern. Die Bilder von den Militärfahrzeugen auf dem Weg zum Krematorium in Bergamo kommen heute bereits den dritten Tag, das spart Drehzeiten.

21. März 2020

Vom Sterben lesen ist keine schöne Morgenlektüre. Man muss nicht 67 sein, das zu empfinden. Von Marlen Haushofers Sterben zu lesen, war kaum vermeidbar, heute ist ihr fünfzigster Todestag. Für sie verstieß ich sogar gegen mein eigenes Bestell-Moratorium, wollte ihre beiden Kinderbücher „Brav sein ist schwer“ und „Schlimm sein ist auch kein Vergnügen“ unbedingt besitzen. Es ist wie früher, als man Bücher nach Bildern durchblätterte und enttäuscht war, wenn es keine gab. Einer meiner Notizzettel aus diesen Tagen enthält einen ungenutzten Anfang: „Manchmal ist das frühere Früher viel schöner als das spätere Früher, das man noch selbst erlebt hat.“ Heute wäre in Dresden die „Macbeth“-Premiere, Regie Christian Friedel, den ich mag wie kaum einen, seit ich ihn, auch in Dresden, im „Käthchen von Heilbronn“ sah. Das war 2010, als ich noch keine THEATERGÄNGE bedienen konnte, weshalb dort viel Schiller, viel Kleist einfach fehlt. Mit Corona kein Shakespeare.

20. März 2020

Heute ist natürlich der 250. Geburtstag von Hölderlin, der mir noch etwas fremder ist als Haiku-Dichtung aus dem fernen Osten in Originalsprache ohne Untertitel. Tut mir leid, mich auf diese Weise als Drops outen zu müssen, ich bin an den dicken Hölderlin-Büchern von Pierre Bertaux und Wolfgang Heise gescheitert wie an den Langzeilern des Meisters selbst, den unsere Helden an den Fronten angeblich in ihren Tornistern trugen. Also die Helden unserer Vorväter, will ich gemeint haben. Nun hat auch Rüdiger Safranski ein dickes Buch über Hölderlin geschrieben. Es wäre besser gewesen, er hätte es über Arthur Eloesser getan, der heute nur seinen 150. Geburtstag hat, aber noch kein einziges dickes Buch über sich. Aber mit alten jüdischen Theaterkritikern ist das so eine Sache: manche mögen sie, manche nicht. Ich mag sie. Wobei Eloesser auch gut 1200 Seiten zur deutschen Literaturgeschichte hinterlassen hat: bis Goethe und nach Goethe. Unser Goethe als Wasserscheide.

19. März 2020

Nein, Deutschland ist keinesfalls das Land der Dichter und Denker. Deutschland ist das Land der nichtdenkenden Vollidioten, die Corona-Parties feiern und das Land der Hamsterkäufer. Ich bin normalerweise an Donnerstagen nach dem Gang zum Bäcker (der wegen Mangels an Klopapier und Haferflocken-Sortimenten Normalbetrieb fahren kann) fast allein auf dem Parkdeck des Ilmenauer „Kauflands“. Vorige Woche stand erstmals ein blauer Kleinwagen auf meinem „Stammplatz“, den ich nur höchsten fünf Minuten brauche für meine Zeitungen. Heute wieder der kleine Blaue, aber das halbe Parkdeck voll und das 7.15 Uhr. Die Rolltreppe nach unten: normalerweise eile ich langen Schrittes auf ihr hinab: heute stehe ich hinter drei Wagenschiebern und während ich noch abwärts schleiche, rollen erste Wagen bepackt wie für eine sechsmonatige Nordpolexpedition aus dem Markt. Der Mann vor mir roch, als wäre ihm sein Duschgel kurz vor den Herbstferien ausgegangen.

18. März 2020

Als Erich Fromm am 18. März 1980 in Muralto in der Schweiz starb, ahnte ich nicht, dass einer meiner Mitstudenten, der sich in seiner Diplomarbeit mit Fromm beschäftigte, gleichzeitig ein sehr emsiger Zuträger für die grauen Kampfgenossen in der Berliner Normannenstraße war. Mich hatte es zwar immer gewundert, dass IM „Fischer“, wie er auf eigenen Wunsch geführt wurde, sich ausgerechnet mit diesem Mann beschäftigte, der der offiziellen Lehre nach untaugliche Versuche unternahm, Marxismus und Psychoanalyse zu vereinen, aber weitere Überlegungen stellte ich zum Sachverhalt nicht an. Als die DDR dann hinschied, kaufte ich mir als erstes Fromm-Buch „Die Kunst des Liebens“, in der verdienstvollen Gustav Kiepenheuer Bücherei als Band 96 erschienen. Später wuchs mein Erich-Fromm-Bestand auf solide 12 Bände an. „Trotz unserer tiefen Sehnsucht nach Liebe halten wir doch fast alles andere für wichtiger als diese“, schrieb er wohl mit Recht.

17. März 2020

Kinder, die man sonst selten bis nie sieht, allenfalls hört, bewegen sich jetzt auf der Straße. Mehr Roller und kleine Fahrräder auf einmal waren nie. Mehr Kreidemalerei auf Bürgersteig und Parkflächen nie und das alles schon am ersten Tag geschlossener Schulen und Kindergärten. Wer täglich ins Fitness-Studio ging, ist angeschissen, wer nach dreißig Jahren Witze über Dosenravioli endlich einmal kosten will: Fehlanzeige. Selbst in seriösen Nachrichtenredaktionen ist das Wissen entglitten, was der Unterschied zwischen einem linearen und einem exponentiellen Wachstum ist. Auf alle Fälle sind tausend neue Fälle pro Tag kein exponentielles Wachstum, was das Wachstum freilich nicht netter macht. Endlich wird auch das 50 Prozent teurere und gleichzeitig wenigere Sonnenblumenöl in der Glasflasche verkauft: das Öl in Plastik ist längst weg, die passierten Tomaten auch. Denn alle wollen mit ihren vielen Nudeln nun auch Nudelgerichte basteln, herrlich.

16. März 2020

Zum Glück wischt sich niemand mit frischen Eiern den verschissenen Hintern ab, weshalb es mir ohne Probleme gelang, aus dem kleinen Kühlschrank zwei Zehnerpackungen frischer Landeier zu entnehmen, nachdem ich sechs Euro in die Kasse des Vertrauens geworfen hatte. Dergleichen ist zu unserer Gewohnheit geworden, seit wir der Fußpflege frönen, die wir vorerst noch nicht unter die zu vermeidenden Sozialkontakte rechnen. Andernorts werden fast zeitgleich mit den Schulen und den Kindergärten die Spielplätze geschlossen, was in Märkten mit Spielzeug, mit dem Kinder über längere Zeiten zu fesseln sind, weihnachtsähnliche Umsätze hervorzaubert. Ist ein Massensterben richtig groß, gehen die größten Bestatter an die Börse. Der Postmann beglückte mich mit einem dicken Buch voll Schauspiele von Heinrich Mann, der alten Kantorowicz-Ausgabe zugehörend, die wegen ideologischen Abgangs des Herausgebers keinem Finale zugeführt wurde: sehr gut erhalten.

15. März 2020

Heute hätte ich über den „Hamlet“ aus Rudolstadt geschrieben, denn gestern wäre ich dort gewesen in der Hoffnung, nicht noch ein Desaster wie einst mit dem dortigen „Othello“ erleben zu müssen. So aber üben wir Meidbewegungen, keine sozialen Kontakte mehr, asoziale haben wir ohnehin nicht, unsere Nudeln reichen ohne Hamstern, unser Klopapier reicht auch, wir würden gern unseren Kindern und Enkeln in Berlin welches senden per Post, glauben aber verschwörungstheoretisch geschult, dass die Sendung unterwegs verloren gehen könnte, vielleicht erst auf der Durchreise durch Brandenburg, von wo wir heute Fotos erhielten von leeren Klopapierregalen. Da fügt es sich, dass vor 50 Jahren der armenische Franzose Arthur Adamov mit Hilfe etlicher Schlaftabletten sich das Leben nahm, die feindselige westdeutsche Öffentlichkeit hatte sich längst verabschiedet von ihm. Alles nur, weil Adamov Brecht für sich entdeckt hatte und dann auch noch Sean O’Casey.

14. März 2020

Was gibt es am Wochenende in Corona-Deutschland zu essen? Vermutlich Klopapier-Nudel-Auflauf, so jedenfalls wirken Supermarktregale. Formeln aus dem Klassenkampf-Alltag, wie „Wehret den Anfängen!“ gewinnen völlig neue Aspekte: „Wehret den Anfängen, bevor sie angefangen haben!“ Für Lehrer und Erzieher in glücklichen Bundesländern gibt es bezahlten Zusatzurlaub, für Eltern, die ihre Sprösslinge in Kindergärten und Schulen ablieferten, um dann in Ruhe das Vormittagsprogramm des Privatfernsehens genießen zu können, brechen schlechte Zeiten an: die Schreihälse sind zu Hause und das womöglich wochenlang. Und Oma darf nicht helfen kommen, denn Oma ist Risikogruppe Nummer 1, Opa noch schlimmer, der ist eigentlich schon so gut wie tot, wenn er aus dem Haus geht, um seinen getrennten Müll in die getrennten Tonnen zu werfen. Lesen hilft. Nur nicht die falsche Zeitung, die 40 Jahre Hass auf Deutschland feiert: Slime.


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