Tagebuch

22. Mai 2020

Nach 32.000 Schritten an drei Tagen heute ein ruhiger Freitag. Das Smartphone, in seiner immer unergründlichen Fähigkeit zu überraschen, erinnert am Frühstückstisch ungefragt daran, dass wir am 22. Mai 2017 in Maastricht waren und es zeigt auch gleich noch ein paar Fotos von damals. Mir fällt, natürlich, bin ich versucht zu sagen, das sensationelle Eis von dort ein, für das wir Schlange zu stehen hatten. Ein Freitag mit Hermlin und Reich-Ranicki, mit Iwan Bunin und Hilde Spiel. Am Abend bei ARTE ein Film mit dem Titel „Freistatt“. Die alte Bundesrepublik als KZ für „schwer erziehbare Jugendliche“, die Dachorganisation hieß Diakonie. Das eigentlich Erschreckende ist aber: was man sah, geschah zwischen 1968 und 1970. Am 22. Mai 1980 schrieb ich in meinem Tagebuch von Aktionskunst im Westfernsehen (ttt = Titel Thesen Temperamente): „Gestern wurde einer gezeigt, der auf dem Markusplatz in Venedig 350.000 zerknüllte Zeitungen placiert hatte“.

21. Mai 2020

Gut, dass Christus ein Mann war, sonst wäre aus Christi Himmelfahrt nie ein Männertag zu machen gewesen. Früher, als die Türken vor Wien standen, fuhr ich, damit meine männlichen und sonstigen Kollegen in Ruhe mit ihren Familien feiern konnten, mit meinem Fotografen, der im kommenden Jahr auch schon 50 Jahre alt wird, in der Gegend herum, um Material für die Zeitung zu finden: Feld-Gottesdienste bei Neustadt und was da so anfiel. Deshalb auch war ich ein schlechter Chef, weil ich die Scheiß-Dienste des Jahres: Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten, Weihnachten immer selbst machte, damit sich alle anderen ihre mehr oder minder vorhandenen Eier schaukeln konnten. Ich wollte nur Silvester. Heute, fern von Wien und Moskau, erpirschen wir weitere bisher unbekannte Regionen des Ilmenauer Rundwanderweges, wir sehen erstmals im Leben zwei Dittmarsteiche, ebenfalls erstmals im Leben die Blankenburger Teiche, wo es ein sensationelles Froschkonzert gibt.

20. Mai 2020

Heute ist der 99. Geburtstag von Wolfgang Borchert. Wir könnten mal eben rasch das Wolfgang-Borchert-Jahr ausrufen, den schwierigen Pilgerpfad zu seinem Grab in Hamburg beschreiben, den ich beging mit verzögertem Erfolg, vielleicht ist ja auch längst alles besser findbar. Aber es machen immer die einen alles etwas besser als die anderen und bisweilen sind deshalb die einen den anderen ein wenig voraus. Ich zum Beispiel vergaß gestern, den 90. Geburtstag von Lorraine Hansberry zu erwähnen, obwohl ich doch tapfer an meinem zweiten Text zu ihr bastele. Aber das Bild eines im Stehen kauenden Klippschliefers, ich gebe es zu, hat bisweilen die Macht, sich vor die Literatur in meinem Kopf zu drängen, auch die Zunge jener etwas kleineren, weil fünf Jahre jüngeren Giraffe, die die Stäbe ihres hohen Zaunes mit Ausdauer beschleckte, wirkt in solche Richtung. Sollte ich nach meiner Wiedergeburt den Tierbeobachtern zugeordnet werden, lege ich keinen Protest ein.

19. Mai 2020

Was tut man, wenn von 8 bis etwa 16 Uhr nicht nur kein warmes, sondern gar kein Wasser aus den Leitungen kommen soll? Man bevorratet sich ein wenig für fällige Spülungen nach fälligen Vorgängen, man stellt Schüsseln auf, in denen man sich die Hände waschen kann und dann setzt man sich in das seit Wochen nur in Kürzesteinsätzen aktive Eigenfahrzeug, in dem man keine Maske tragen muss, gibt in das noch beinahe jungfräuliche neue Navigationsgerät den Zoopark Erfurt ein und fährt dorthin. Man steht dort ein wenig in einer disziplinierten Schlange, erwirbt für 30 Euro zwei Karten, es ist inzwischen 10.23 Uhr geworden und dann schreitet man den Rundweg ab mit den entsprechenden Halts unterwegs bei den entsprechenden Tieren. Angeblich sind die Tiere froh, wieder Menschen besichtigen zu können, was ich nachempfinden kann. Unterwegs erfahre ich, dass Bienen keinen Flieder mögen und frage mich, warum ich das nicht schon früher erfuhr.

18. Mai 2020

Auf Sardinien, höre ich heute in den öffentlich-rechtlichen Medien, gab es keinen einzigen Corona-Fall, weswegen man dort eigentlich hätte hinfahren können, wenn man hätte hinfahren können. Man hätte aber an einigen Corona-Fällen vorbeifahren müssen, was im Spaßfaktor gegen Null tendiert. Immerhin sind wir heute bis zur Besichtigung von Sparpreisen der Bahn von Ilmenau/Pörlitzer Höhe bis  nach Venedig vorgedrungen. Es ist, wenn man die Tankfüllungen und die Parkgebühren addiert, selbst in der weniger günstigen Variante günstiger als man denken würde, wenn man denken würde. Nebenbei, weil ich nicht immer nur amerikanische Protestdramen lesen kann, die in der uralten Bundesrepublik boykottiert wurden, weil sie entweder künstlerisch nicht wertvoll oder  dramaturgisch nicht innovativ waren, schlimmsten Falles beides zugleich, während die DDR es liebte, Amerika von Amerikanern bloßgestellt zu sehen, nebenbei nehme ich Proben von Hermlin.

17. Mai 2020

Am 17. Mai  2000 fuhren wir auf den Flumser Berg, schauten zu den Churfirsten gegenüber, auf den Walensee tief unten: „Es war spürbar kühler oben trotz Sonne und wir sahen ein Tier, das nach menschlichem Ermessen eine Gemse gewesen sein muss. Es beobachtete uns eine Weile, ehe es sich im Wald verdrückte.“ Damit wäre die Aussage umschifft, wo wir heute wären, wenn wir wären, wir sind aber nicht. Stattdessen haben wir eine größere Runde von uns aus am Tierheim vorbei, am Schlachthof vorbei, über die Mandela-Brücke bis zum Schützenhaus, dann zum Großen Teich, wo das Leben wieder aussieht wie Leben, fernöstliche Bürger ein wenig grillten, gedreht, was in die Nähe der 10.000 Schritte bringt, wenn man schon seine Zeitung an der Tankstelle geholt hat. Das Summen des Schrittzählers ereilte mich, nun ja, in sitzender Stellung in den von mir aus gesehen hinteren Regionen der Wohnung. Auch der Kölner Tatort bedient meine private Schauspielertheorie.

16. Mai 2020

Gerhart Hauptmanns „Die Ratten“ hätte ich heute auf keinen Fall in Hof gesehen, säße ich doch auf der Nachtfähre von Sardinien zum italienischen Festland, nachdem ich heute noch die Costa Smeralda und die Insel La Maddalena gesehen hätte. So aber sah ich die Sky-Konferenz-Schalte der ersten Geisterspiel-Liga mit einem netten Sieg der Dortmunder gegen die Schalker. Noch vor den Abpfiffen brachen wir zu unserer Runde durchs Gewerbegebiet auf, da begegnet einem samstags allenfalls mal ein einsamer Jogger, man kann in Ruhe die Verhaltensregeln beim Friseur-Besuch studieren und sich später von einem gut ausgeschilderten frei laufenden Hund hinter einem Zaun erschrecken lassen, der bellt, als hätte er die Größe eines afrikanischen Elefanten. Noch aus sicherer Distanz sieht er furchterregend aus. Mein nagelneuer hellblauer Mundschutz lässt die Brille nicht so rasch beschlagen wie mein alter schwarzer Bankräuber-Mundschutz, das ist meine feine Lockerung.

15. Mai 2020

Ein gelernter Autoschlosser namens Hasso Mager, der Volksrichter wurde, später Staatsanwalt und 1955 freischaffender Schriftsteller, hätte heute seinen 100. Geburtstag. Im „Lexikon der deutschen Krimi-Autoren“ wird er mit seiner Aussage von 1969 zitiert, dass infolge Mangels an Kriminalität der Krimi im real existierenden Sozialismus verschwinden werde. Die revidierte Neuauflage des Buches „Krimi und crimen“, in dem das 1969 stand, spricht von einer leidenschaftlichen Debatte und heftig bewegten Gemütern. In der Tat wurden in DDR-Krimis Verbrechen nicht selten von Menschen verübt, die westliche Werte vertraten, also, was man in der DDR so unter westlichen Werten verstand. Vor allem nicht von Arbeitern und schon gar nicht von Lehrern, das hatte Margot Honecker verboten. In den Kammerspielen des deutschsprachigen Theaters Prag gab es am 15. Mai 1920 eine Uraufführung. Das fünfaktige Spiel hieß „Die Menschen“, Autor war Walter Hasenclever.

14. Mai 2020

Nun wären wir heute von Korsika nach Sardinien weiter gereist, Sardinien-Bilder vor Augen, die wir in den vergangenen Jahren gezeigt bekamen. Nach Spanien kann man wieder, las ich heute, muss aber 14 Tage im Hotel oder in der Ferienwohnung in Quarantäne bleiben. Was machen die, die nur eine Woche nach Spanien wollen? Es dürfen also nur die rein, die drei Wochen kommen, weil: eine Woche Urlaub sollte schon auch dabei sein. In Bayern reiben sich derweil alle die Hände: die Deutschen kommen. In die Schweiz kommen die Deutschen auch ohne Corona nur noch zögernd, ihre Seilbahnen dürfen im Mai durchaus der Revision unterzogen werden, die Enttäuschten, die umkehren wie wir vor 20 Jahren, sind wenige. Statt aufwärts mit der Bahn schauten wir in eine Kirche, die mit Goldschrift an die Gefallenen der Schlacht bei Näfels erinnerte, die am 9. April 1388 geschlagen wurde. Damals schlugen sich noch Habsburger und Eidgenossen: Wahnsinn.

13. Mai 2020

„Nach 685 Kilometern effektiver Fahrstrecke haben wir unser Ferienhaus am Walensee gefunden und beginnen den fünften Schweiz-Urlaub.“ So steht es im Tagebuch vom 13. Mai 2000. Und am 14. Mai wird ergänzt: „Wir haben drei Schlafräume, ein Bad oben, eine Toilette unten, ein großes Wohnzimmer, eine Küche mit Sitzecke zum Essen.“ Zwanzig Jahre später, heute, wären wir normalerweise den dritten Tag auf Korsika, wir hätten die Felsenlandschaft Les Calanches gesehen, später auch die Spelunca Schlucht. Tatsächlich sind wir zu Fuß an zwei Autohäusern, einem Institut mit Namen Frauenhofer vorbeigelaufen, unser sonst stets an seinem Platz stehender Silberreiher hatte vermutlich Haushaltstag, wir sahen ihn nicht. Ich las ein verrücktes expressionistisches Stück in fünf Akten, in dem ein Ermordeter seinen Kopf in einem Sack mit sich führt und seinem Mörder vergibt. Die Post brachte mir einen Band Reich-Ranicki, der mir tatsächlich noch fehlte, von 2003.

12. Mai 2020

Freund Klimawandel setzt bei den Eisheiligen 2020 aus, die kommen pünktlich wie die Maurer und wie es ihnen zusteht: Mit Schnee und Kälte. Gestern ging es los, heute Morgen sah ich eine Null auf unserem digitalen Außenthermometer, aus der schon eine Eins geworden war, als ich vom Duschen wiederkehrte. Das junge Grün ringsum ließ die Ohren hängen. Unsere amerikanischen Freunde haben die 80.000er Corona-Totengrenze übersprungen, während an den Rändern von Impfgegner-Demonstrationen sich Rechte tummeln. Lustige junge Frauen halten eigens englisch geschriebene Papptafeln in Kameras, falls im Vereinigten Königreich oder bei Onkel Donald jemand unsere ganz und gar objektiven Nachrichten schauen sollte. Sie sind dagegen. Die Rechtsrandbeobachter sind dafür, also dafür, den rechten Rand allzeit fest im Auge zu behalten. Wegen der eingeschränkten Grundrechte demonstrieren auch Linke, als ob Grundlinke eingeschränkt wären. Verkehrte Welt.

11. Mai 2020

Schon fünf Tage nach der Bestellung ist der Wein aus Weißenkirchen da, der Postmann klingelt 7.55 Uhr, ohne zu sagen, dass es sich um Wein handelt. Beim nächsten Mal will er es besser machen. Sechs Sorten a vier Flaschen, sonst trinken wir sie von oben nach unten in der Burgstiege 71 in Achtelportionen, dieses Jahr nicht. Im Keller bekommt die Wand zur ehemaligen Stahltür, die es seit Fahrstuhl-Einbau nicht mehr gibt, Fliesen aufgeklebt, die Spuren der Fahrräder werden dann leichter zu beseitigen sein: Fliesen kann man abwischen, gelbe Wände wären ständig neu zu streichen. Besser wäre, wenn sich die Fahrradfahrer etwas mehr Mühe geben würden, aber das kann man wohl nicht von allen verlangen. Vor genau 100 Jahren starb ein Amerikaner, der 30 Jahre eine Hauptrolle in der dortigen Literatur spielte, etwa 100 Bücher hinterließ: William Dean Howells. Nach 1895 erschien die nächste deutsche Übersetzung erst 1958, und ausgerechnet in der DDR.


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