Tagebuch

14. Mai 2020

Nun wären wir heute von Korsika nach Sardinien weiter gereist, Sardinien-Bilder vor Augen, die wir in den vergangenen Jahren gezeigt bekamen. Nach Spanien kann man wieder, las ich heute, muss aber 14 Tage im Hotel oder in der Ferienwohnung in Quarantäne bleiben. Was machen die, die nur eine Woche nach Spanien wollen? Es dürfen also nur die rein, die drei Wochen kommen, weil: eine Woche Urlaub sollte schon auch dabei sein. In Bayern reiben sich derweil alle die Hände: die Deutschen kommen. In die Schweiz kommen die Deutschen auch ohne Corona nur noch zögernd, ihre Seilbahnen dürfen im Mai durchaus der Revision unterzogen werden, die Enttäuschten, die umkehren wie wir vor 20 Jahren, sind wenige. Statt aufwärts mit der Bahn schauten wir in eine Kirche, die mit Goldschrift an die Gefallenen der Schlacht bei Näfels erinnerte, die am 9. April 1388 geschlagen wurde. Damals schlugen sich noch Habsburger und Eidgenossen: Wahnsinn.

13. Mai 2020

„Nach 685 Kilometern effektiver Fahrstrecke haben wir unser Ferienhaus am Walensee gefunden und beginnen den fünften Schweiz-Urlaub.“ So steht es im Tagebuch vom 13. Mai 2000. Und am 14. Mai wird ergänzt: „Wir haben drei Schlafräume, ein Bad oben, eine Toilette unten, ein großes Wohnzimmer, eine Küche mit Sitzecke zum Essen.“ Zwanzig Jahre später, heute, wären wir normalerweise den dritten Tag auf Korsika, wir hätten die Felsenlandschaft Les Calanches gesehen, später auch die Spelunca Schlucht. Tatsächlich sind wir zu Fuß an zwei Autohäusern, einem Institut mit Namen Frauenhofer vorbeigelaufen, unser sonst stets an seinem Platz stehender Silberreiher hatte vermutlich Haushaltstag, wir sahen ihn nicht. Ich las ein verrücktes expressionistisches Stück in fünf Akten, in dem ein Ermordeter seinen Kopf in einem Sack mit sich führt und seinem Mörder vergibt. Die Post brachte mir einen Band Reich-Ranicki, der mir tatsächlich noch fehlte, von 2003.

12. Mai 2020

Freund Klimawandel setzt bei den Eisheiligen 2020 aus, die kommen pünktlich wie die Maurer und wie es ihnen zusteht: Mit Schnee und Kälte. Gestern ging es los, heute Morgen sah ich eine Null auf unserem digitalen Außenthermometer, aus der schon eine Eins geworden war, als ich vom Duschen wiederkehrte. Das junge Grün ringsum ließ die Ohren hängen. Unsere amerikanischen Freunde haben die 80.000er Corona-Totengrenze übersprungen, während an den Rändern von Impfgegner-Demonstrationen sich Rechte tummeln. Lustige junge Frauen halten eigens englisch geschriebene Papptafeln in Kameras, falls im Vereinigten Königreich oder bei Onkel Donald jemand unsere ganz und gar objektiven Nachrichten schauen sollte. Sie sind dagegen. Die Rechtsrandbeobachter sind dafür, also dafür, den rechten Rand allzeit fest im Auge zu behalten. Wegen der eingeschränkten Grundrechte demonstrieren auch Linke, als ob Grundlinke eingeschränkt wären. Verkehrte Welt.

11. Mai 2020

Schon fünf Tage nach der Bestellung ist der Wein aus Weißenkirchen da, der Postmann klingelt 7.55 Uhr, ohne zu sagen, dass es sich um Wein handelt. Beim nächsten Mal will er es besser machen. Sechs Sorten a vier Flaschen, sonst trinken wir sie von oben nach unten in der Burgstiege 71 in Achtelportionen, dieses Jahr nicht. Im Keller bekommt die Wand zur ehemaligen Stahltür, die es seit Fahrstuhl-Einbau nicht mehr gibt, Fliesen aufgeklebt, die Spuren der Fahrräder werden dann leichter zu beseitigen sein: Fliesen kann man abwischen, gelbe Wände wären ständig neu zu streichen. Besser wäre, wenn sich die Fahrradfahrer etwas mehr Mühe geben würden, aber das kann man wohl nicht von allen verlangen. Vor genau 100 Jahren starb ein Amerikaner, der 30 Jahre eine Hauptrolle in der dortigen Literatur spielte, etwa 100 Bücher hinterließ: William Dean Howells. Nach 1895 erschien die nächste deutsche Übersetzung erst 1958, und ausgerechnet in der DDR.

10. Mai 2020

Heute wären wir, insofern ist dies eine Verlustanzeige, zum zweiten Urlaub des Jahres gestartet. Erstes Ziel der Tour nach Korsika und Sardinien, wo wir noch nie waren, und Elba, wo wir schon waren, wäre eine Zwischenübernachtung im Raum Verona gewesen. Verona kennen wir gut. So aber, sagen wir es situativ treffend, glotzen wir in den Mond und warten auf die Eisheiligen. Wir sondieren bereits Ersatztermine für 2021, die Familienfeier, die ohne uns stattgefunden hätte am nächsten Wochenende, findet nun mit uns nicht statt. Und 2021, man glaubt es nicht, ist schon extrem viel ausgebucht, wir brauchen ja eine ziemliche Menge von Zimmern. So müssen wir wohl auch zügig unseren Venedig-Trip festmachen, nachdem wir eben von Zeiten lasen, da sich die männliche Bevölkerung der Lagunenstadt in die Kanäle hechtete, um zu schwimmen und zu toben, nur die Damen ließen sich zum Lido bringen oder nutzten die Badehäuser nahe des Dogenpalastes.

9. Mai 2020

Dieweil heute Schillers 200. Todestag 15 Jahre her ist, gedenke ich meiner ersten Schiller-Rede, die beinahe sogar gedruckt worden wäre und sogar im Westen, also in den veralteten Bundesländern. Ich hielt sie zunächst in der Volkshochschule Ilmenau, der Eintritt kostete 2 Euro und auf dem Plakat war mein Name richtig gedruckt, was die Volkshochschule nicht immer schaffte. Mein Vortrag hieß „Schiller als Klettergerüst. Respektarme Anmerkungen zu einem wehrlosen Klassiker“ und hatte vier Anstriche: „der einfache Schiller, der gefährliche Schiller, Schiller als Ehrenmitglied des ZK, Schiller als Marketing-Hit“. Ich wiederholte den Vortrag in der Ilmenauer Festhalle im Programm des 26. Großen Goetheschülertreffens Anfang Juni 2005 sogar in einer ausgearbeiteten Fassung, ausgewiesen als Festvortrag. Heute neige ich zur Auffassung, dass nennenswerte Literatur-Geschichte als Abfolge von Klettergerüsten gedeutet werden kann. Interpreten-Turngeräte in Reihe.

8. Mai 2020

75 mal 105 Millimeter misst das kleine braune Büchlein mit der Jahreszahl 1945 vorn drauf, der Rücken unten will sich lösen. Ich habe große Mühe, es überhaupt in die Hand zu nehmen. Meine Mutter hat es nie gesehen, ich weiß nicht einmal mehr genau, mit welchen Worten mein Vater es mir übergab, als ich ihn zum Arzt in der Ilmenauer Herderstraße fuhr, das letzte oder vorletzte Mal vor seinem Tod. Für den 7. Mai 1945 steht dort: „Mutti Langer Geburtstag“ und unter Geburtstag das Zeichen - " - , das den eigenen Geburtstag meint, es ist der 24. meines Vaters. Am 8. Mai steht: „Ab Forst nachmittag“, dann „Übernachtung“ und etwas, das ich nicht entziffern kann, dann etwas größer „Waffenstillstand“, darunter „letzter Tag in Freiheit“ und in Klammern: „Waffenabgabe“. Ich kann nicht mehr nachfragen, die erste Station war Nymburk, dann Arbeit auf dem Gut eines tschechischen Offiziers, mein Vater schrieb falsch „Nienburg“, einen Tag später dann „Niemburk“.

7. Mai 2020

99 Jahre alt wäre heute mein Vater, wenn er es bis hier geschafft hätte, was ihm aber nicht vergönnt war. 90 Jahre alt wäre heute Horst Bienek, der jedoch fast auf den Tag 14 Jahre vor meinem Vater starb: am 7. Dezember 1990. Damals war Bienek mir kaum mehr als ein Name, das hat sich seither geändert. Am 7. Mai 1975 starb in Ascona Julius Hay, den die ganz junge DDR heftig mochte, bis sie ihn ebenso heftig nicht mehr mochte. Immerhin: Zwei Bände mit Bühnenwerken von ihm sind in den 50er Jahren erschienen, nicht wenige Theaterkritiken zu ihm finden sich in meinem Bestand. Vor 20 Jahren war der 7. Mai ein Sonntag, ich hatte Wochenenddienst, konnte aber halbwegs zeitig die Redaktion räumen und meiner Kollegin Kerstin die Restarbeiten überlassen. Mein Vater verriet mir, dass er nur schwer noch die Konzentration aufbringe, wie früher zu lesen. Das Register, was alles er las, ist in meine Nachlass-Besitztümer übergegangen, mein Register war ihm Vorbild.

6. Mai 2020

Wenn ihr nicht zum Wein kommen könnt, kommt der Wein eben zu euch. So steht es auf der Website eines aus werbetechnischen Gründen hier nicht näher zu bezeichnenden Weingutes in der Wachau, das wir in den zurückliegenden sieben Jahren vielfach aufsuchten, wenn wir am Ort in unserer Ferienwohnung hausten. Jetzt sind die 2019er Weine alle schon in der Flasche, weshalb ich eine Bestellung hinaus sandte. Wir trinken dann halt hier aus unseren Hausgläsern, nicht die sonst üblichen Achtel und leider ohne die stets netten Gespräche mit dem Seniorchef, der auch ein Mann des Theaters ist. Im nächsten Jahr werden wir wieder da sein und eigens vorher den Heurigen-Kalender studieren, um den richtigen Termin zu erwischen. Meine beiden Zahnarzttermine morgen und übermorgen sind abgesagt, die Technik ist noch nicht fertig, ich verlängere die Weichnahrungs-Woche eben ein bisschen. Vor 30 Jahren starb Irmtraud Morgner, die DDR lebte noch etwas weiter.

5. Mai 2020

Mein schlechtes altes „Autorenlexikon deutschsprachiger Literatur des 20. Jahrhunderts“ verbindet den Selbstmörder Paul Celan mit dem Todesdatum 5. Mai 1970, womit er den Geburtstag von Karl Marx blockieren würde. Die große Internet-Enzyklopädie WIKIPEDIA verlagert den Tod auf den 20. April, was den Geburtstag eines gewissen Führers beeinträchtigen würde, schreibt vorsichtig „vermutlich“ dazu, denn mit dem Datieren von Wasserleichen ist es so eine Sache. Da machen die Dichter keine Ausnahme von den Nicht-Dichtern, die als Unbekannte in der Seine schwimmen. Für mich war Celan zeitlebens der Mann mit Verführerblick, der eher aussah wie ein großer Aufreißer, nicht wie ein Todesfugen-Mann. Aber seit wann müssen Leute aussehen, wie sie sind? Selbst von Mördern wissen wir, dass sie ihre Nachbarinnen stets freundlich grüßten, selten bis nie ihre Katzen vergifteten, ehe sie zum Amoklauf schritten. Im November gibt es noch einen sicheren Celan-Tag.

4. Mai 2020

Unter den Hermann Schreibers dieser Welt war einer des Jahrgangs 1929, der kürzlich starb und den man vom Fernsehen kannte, nämlich aus der NDR-Talkshow. Dann war einer des Jahrgangs 1920, der wäre just heute 100 Jahre alt geworden und nahe heran hat er es tatsächlich geschafft: er starb ausgerechnet an seinem 94. Geburtstag 2014. Im Bücherverzeichnis meiner Eltern findet sich dieser Österreicher zweifach: mit „Sturz in die Nacht“ und mit „Land  im Osten“, beide Bände wanderten in einer von 44 Bananenkisten nach Sachsen-Anhalt ins Bücherdorf. In meinen Beständen ist er mit einem einsamen Titel vertreten: „Das Schiff aus Stein. Venedig und die Venezianer“. Es liegt auf dem Stapel meiner Venedig-Bücher sehr weit oben, was bedeuten könnte, dass er bald an der Reihe ist, gelesen zu werden. Einstweilen halte ich mich noch an William Dean Howells, der kein DDR-Autor war, allem Anschein zum Trotz, sondern Amerikaner, den der Westen konsequent ignorierte.

3. Mai 2020

An niemanden denken, geht einigermaßen, an nichts denken geht nicht. Während ich des Weges gehe, 5200 Schritte am Stück unter langsam kräftiger werdender Maiensonne, denke ich den Satz: Dem Haar ist es egal, in welcher Suppe es gefunden wird. Sätze, die nach diesem einen Satz fallen könnten, gar müssten, fallen mir keine ein. Es ist ein Sonntag wie mancher, immerhin drei Kapitel über Venedig, eine Geschichte, die ich, wenn ich müsste, den schönsten Geschichten zuordnen würde, die in der DDR geschrieben wurden, ich muss aber nicht. Es gibt weiche Mahlzeiten für mich, nachdem auch das zweite Provisorium nicht halten wollte, was bis mindestens kommenden Donnerstag Geduld erfordert und auch dann werde ich nicht auf Nussknacker umschulen. Man kann wieder in den Ilmenauer Tierpark, nur muss man bis zum letzten Einlass da sein. Die kleine Ziege, die fürwitzig ein neues Brett erkundet und beinahe ausrutscht, sieht man von außen ohne Eintritt.


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