Tagebuch

22. Februar 2020

Wie eigentlich immer, wenn wir mit dem ICE nach Berlin fahren, ist dieser pünktlich auf dem Hauptbahnhof. So auch gestern. Wie eigentlich immer, wenn wir in Berlin ankommen, fahren wir bis Savignyplatz und laufen durch den S-Bahn-Spielplatz. So auch gestern. Ich werde namentlich begrüßt an der Rezeption, ich zahle die Rechnung im Voraus mit der kapitalistischen Kreditkarte, mit deren Abschaffung die Linken hoffentlich noch warten, denn ich will nicht mehr erleben, wie linke Demokratie ohne Kapitalismus funktioniert. Ich hatte es 37 Jahre: man faltete einen Zettel und warf ihn in eine Kiste, wobei 98,7 Prozent Ja-Stimmen herauskamen. Der spätkapitalistische Schrittzähler beendete heute seinen Dienst bei 16.443 Schritten, sie führten unter anderem zum Mahnmal für die Sinti-und-Roma-Opfer der Zeit 1933 bis 1945. Man mag diese Zeit nicht mehr gern Faschismus nennen, weil jeder Idiot heute, was ihm nicht passt, blindlings Faschismus nennt.

21. Februar 2020

Nun geistert eine so genannte Hufeisen-Theorie durch die Medien. Man bekommt auf der Georg-Restle-Rampe sogar ein Modell zu sehen und dann folgen akademische Erklärungen, warum Modell und Theorie in die gegenwärtige Irre führen. Die Linken, heißt es klärend, wollen nur den Kapitalismus abschaffen, was bekanntlich vollkommen in Ordnung ist und seit 1917 mehrfach erfolgreich praktiziert wurde. Dagegen wollen die Rechten alles abschaffen, also sogar das frische Markenrecht an „Friday for Future“. Bye, bye, Hufeisentheorie, twittert Frau Kipping, die in ihrer Grundschule vermutlich nicht Hannah Arendt hörte, die das Hufeisen noch Totalitarismus nannte. Und das war an die 70 Jahre Staatsdoktrin aller Parteien in Deutschland. Man achte im Fernsehen auf die Formulierung: Dieses Land. Einige sagen immer: Dieses Land. Andere sagen: Unser Land. Nun könnten ein paar arbeitslose Alt-Akademiker einmal erforschen, wer dies und wer das sagt.

20. Februar 2020

Wann geht man schon am Vormittag ins Theater? 11-Uhr-Vorstellungen, die ausverkauft sind, aber trotzdem besucht werden dürfen, weil einige immer nicht kommen, sind für Schüler gedacht. Wenn es halt keine anderen passenden Termine gibt, dann hin: Seit 2009 war das meine zehnte „Kabale und Liebe“ im Parkett, hinzu kommen zwei Verfilmungen, eine Inszenierung auf DVD, sechs meiner Kritiken stehen im Netz, die neue von heute auch schon, weil sie sonst liegen geblieben wäre. Zum Aufwärmen las ich am Morgen zwei der zwanzig Kabale-Kritiken, die Theodor Fontane hinterlassen hat. Wie fast immer, seit ich diese Seite seines Werkes zu meiner ständigen Lektüre gemacht habe: Begeisterung. Was war das für ein Kritiker, Ausrufezeichen. Da sollte der eine oder andere Schauspieldirektor mal einen kleinen Lektüre-Kurs wagen: diese Kritiken leben noch immer, obwohl alle Beteiligten auf der Bühne längst vergessen sind. Und viele der Stücke natürlich auch.

19. Februar 2020

Fünfjährige Menschen verhalten sich am Telefon, gratuliert man ihnen zu ihrem Geburtstag, nicht wie Kanzlerkandidaten, die nach ihrem Programm gefragt werden, das sie nie haben. Fünfjährige schweigen am Telefon und blasen dabei Luft durch die Nase. Die Gratulanten sehen etwas später diejenigen Geschenke, die schon vor Ort gestapelt sind und haben versprochen, in Bälde weitere auf diesen Haufen zu tun. Soweit das wirkliche Leben. Ansonsten muss ich einfach eingestehen, dass ich gestern natürlich auch ein Wort über Gustav von Wangenheim im Tagebuch hätte verlieren können und nicht nur in meinem etwas längeren Beitrag zur Lage der Wangenheim-Nation. Ich bin aber kein Tagebuch-Trump, mein Motto heißt nicht: Tagebuch first. Ansonsten ruft Maischberger heute auf, mit ihr am 11. März in Erfurt zu diskutieren. Ich würde gerne mit Sandra Maischberger diskutieren, aber vielleicht brächte ich kein Wort raus, weil ich sie anstarren würde, ich Fanblock.

18. Februar 2020

Die mediale Sinkflug-CDU Thüringen mag die Spielchen nicht, die diejenigen ihr antragen, die vorher von Spielchen der CDU redeten. Sie favorisiert weiterhin eine Expertenregierung. Man könnte sich zum Beispiel einen erfahrenen alten Chorleiter im Kulturressort, einen Busfahrer als Verkehrsminister, einen Professor, der beide Doktorarbeiten selbst und selbständig geschrieben hat, im Wissenschaftsministerium vorstellen. Lenins berühmte Köchin erhielte vielleicht eine zweite Chance, sie könnte die Staatskanzlei leiten. Wenn das nicht klappt, müssen wir weiter warten, bis neue Amateure in ihre Büros einziehen und jeden Expertenrat verschmähen. Ich als Experte wäre vermutlich ein ziemlich guter Staatssekretär für Theaterkritik, ich würde das Pressekartenverbot für Menschen, die gar nicht als Kritiker tätig sind oder nur zweimal im Jahr, nicht an die Spitze meiner Agenda setzen. Ich würde sie ruhig ihre Privilegien genießen lassen, Privilegien sind feine Sachen.

17. Februar 2020

Vor vielen, vielen Jahren war ich journalistischer Zeuge, wie der SPD-Pfarrer Andreas Enkelmann die CDU-Pastorin Christine Lieberknecht nach allen Regeln der Kunst und sichtbar genießerisch vorführte. Schauplatz, wenn ich mich nicht sehr täusche, war die Mensa III der TU Ilmenau auf dem Ehrenberg. Lieberknecht wurde später Ministerpräsidentin, Enkelmann wurde später nichts, was er selbst sicher anders sieht. Jetzt soll Lieberknecht wieder Ministerpräsidentin werden, wenn es nach dem gescheiterten Ministerpräsidenten Bodo Ramelow geht, sie darf dann auch drei oder vier Minister ernennen, heißt es in den Abendnachrichten. Die und alle anderen Nachrichten tun, was Politik laut Journalismus nicht tun soll, Personaldebatten am Kochen halten. Es ist eine helle Freude, wer vor die Kameras gezerrt wird, um dieser oder jener journalistischen Wahrheit Drive zu verleihen. Auch wenn es nur scheint, als wäre Friedrich Merz kein Freund der guten alten Medien.

16. Februar 2020

Zurück aus Hof. Wo ich seit einer meiner Bierreisen vor mehr als zwanzig Jahren nicht mehr war. Zurück von einem „Othello“, dessen demonstrative Modernität mir nicht die Plomben aus den Zähnen trieb. Im Gegenteil: ich bin fest entschlossen, nicht zum letzten Mal das dortige Theater von innen gesehen zu haben. Vielleicht noch in dieser Spielzeit, es ist eine Sache der Terminplanung. Die Suche nach einer gastronomischen Einrichtung, in der man vor 17 Uhr etwas essen kann, was man mit fränkischer Küche verbindet, blieb erfolglos, wir landeten bei „Nordsee“, wo wir in Berlin immer landen in den Arkaden, wenn uns gar nichts mehr einfällt. Gutes Frühstück im Hotel heute, inklusive, das gibt es nur noch selten. Der Schrittzähler hielt bei 16.076, das ist Platz 6 seit vorigem Februar. Im Briefkasten das Protokoll des V. Deutschen Schriftstellerkongresses von 1961 kurz vor dem Mauerbau, lange hatte ich suchen müssen nach einem guten Einzelexemplar, jetzt habe ich es.

15. Februar 2020

Mit einem nagelneuen Navigationsgerät treten wir heute eine Kurzreise in weitgehend unbekanntes Territorium an, wir haben ein paar Kilometer der heutigen Strecke schon gestern probeweise unter die Räder genommen, man muss die Stimme kennenlernen, die etwas sagt, sehen, welche Signale akustischer Art man ausschalten muss, um nicht genervt zu werden, wenn man an einem Ortsschild bei 52 kmh abbremst und nicht schon bei 50 kmh ist. Wir erleben ein Theater, in dem wir noch nie waren und sehen ein Stück, dass wir schon öfter sahen. So ist das im Leben. Wegen Klimawandels oder warum auch immer sehen sich heute insgesamt vier Elstern bemüht, den Rohbau eines Nestes aus dem Vorjahr mit vereinten Schnäbeln eventuell in den Status der Bewohnbarkeit zu versetzen. Im Vorjahr war eine neidische Krähe der Grund zum schwarzweißen Rückzug. Die Krähe wollte das Nest gar nicht, es gefiel ihr aber, die Sangesbrüder mit Langschwanz einfach nur zu vertreiben.

14. Februar 2020

Es gibt Theaterkritiker, die schreiben, als wären sie angestellte Haushymniker und müssten ihren Vertrag durch Lobesorgien vorzeitig selbst verlängern. Selbst unmittelbar mit ihrem Lieblingsautor befreundete Rezensenten bemängeln der Form halber bisweilen das eine oder andere fehlende Semikolon in den ansonsten wunderbaren Satzkaskaden des jeweiligen Wortschwallmeisters. Nur damit niemand denkt, den muss er/sie ja loben, weil sie und so weiter. Aber wenn selbst mächtige Präsidenten, die von früh bis spät vollkommenen Mumpitz, Blödsinn und Vergleichbares von sich geben, sich selbst ungestraft für die Größten seit der Einführung des Wegezolls für Wegelagerer halten dürfen, warum sollte hinter den Bergen, bei den sechs bis dreizehn Zwergen, ein Virtuose der Pressekarten-Abarbeitung sich selbst kritisch sehen sollen? Dass dauerhaftes Lob verheerende Folgen haben kann, hat die Geschichte oft genug gezeigt: verlorene Bodenhaftung ist Mindeststrafe.

13. Februar 2020

Alfred Kosing lebt. Der vermutlich älteste noch röhrende Philosophie-Hirsch der DDR, geboren am 15. Dezember 1928, also zwei Monate jünger als meine Mutter, die nicht mehr lebt, lebt nicht nur noch, sondern schreibt auch immer noch Bücher. Und zwar dicke. Das ehemalige Zentralorgan der Partei, deren Mitglied er 1946 wurde, belobigt heute fünfspaltig einen 687 Seiten starken Wälzer mit dem Titel „Haben Nation und Nationalstaat eine Zukunft? Ein Beitrag zur Erneuerung der marxistischen Nationstheorie“. Sein Buch „Nation in Geschichte und Gegenwart“ war nicht halb so dick und erschien 1976. Als Student der Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin hatte ich mich hinein zu vertiefen. Und fand kaum wieder heraus. Im einschlägigen Seminar präsentierte man uns eine Entwicklungsreihe, die bei Gens und Stamm begann, über die Völkerschaft zur Nation führte und dann kam: Das Sowjetvolk (das nach Gorbatschow wieder zu Stämmen zurück mutierte).

12. Februar 2020

Manchmal muss ich zu Nebenwirkungen keinen Apotheker befragen. Meine Lachmuskeln werden automatisch trainiert, wenn ich Kevin Kühnert im Fernsehen über Führungsstärke der CDU reden höre. Man ist da Experte in der SPD. Man sieht dem neuen Spitzen-Duo die Stärke geradezu an. Rudolf Scharping gewinnt nachträglich fast das Image eines Springinsfeld mit Sprühenergie. Die Nebenwirkung Herbert Nachbars, dessen ich heute gedenke, weil es sonst vermutlich niemand tut: ich habe sein Märchenbuch „Die Meisterjungfer“ zur Hand genommen, norwegische Märchen, in denen es zugeht wie in anderen Märchen auch, die dummen dritten Brüder kriegen die Prinzessin und das halbe Königreich. Der Witz dabei, die dummen dritten Brüder sind gar nicht dumm. In der wirklichen Welt werden mittlerweise die dümmsten Brüder Präsident oder Brexit-Anführer, was leider weltwirtschafts- und weltfriedensgefährend ist. Auch ohne halbe Königreiche im Verteiler.

11. Februar 2020

In Marburg ist er geboren: am 11. Februar 1900. Und in Heidelberg ist er gestorben: 13. März 2002. Das besagt: er hat seinen 102. Geburtstag noch erlebt. Heidelberg und Marburg sind Namen von Orten, die dem Diplom-Philosophen in mir natürlich vertraut sind, sein Name kam später zu mir: Hans-Georg Gadamer. Ohne den Stuttgarter Reclam-Verlag mit seinen kanariengelben Bändchen wäre er kaum präsent in meiner Bibliothek. So aber steht er da mit „Die Aktualität des Schönen“, „Der Anfang der Philosophie“, „Der Anfang des Wissens“ und „Wege zu Plato“, daneben, leuchtend rot „Einführung zu Gadamer“ von Jean Grondin. Eines Nachts sah ich Gadamer in einem Fernseh-Interview, da war er 99 oder gar schon 100 und er sprach, als trüge er Gedrucktes vor. Dergleichen bewegt mich mehr als vieles. Wenig bewegt mich, was gestern die Nachricht des Tages spielen musste: Kramp-Karrenbauer schmeißt hin. Hoffentlich folgt keine Schlaftabletten-Doppelspitze.


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