Shakespeare: König Lear; Südthür. Staatstheater Meiningen

Hellseher musste man nicht sein, um die Frage zu beantworten, wer in Meiningen wohl in Frage käme, den Lear zu spielen, als der Spielplan 2013/2014 bekannt wurde. Hans-Joachim Rodewald lag gewissermaßen auf der Hand und nun, wo die Premiere durch ist, bin ich überzeugt, auch eine andere Wahl wäre auf keinen Fall eine bessere Wahl geworden. In Wien spielt Brandauer, las man, als Lear den Brandauer. Ob Rodewald den Rodewald spielt, vermag ich nicht abzuschätzen, den Lear aber macht er gut. Er macht ihn innerhalb einer Inszenierung gut, die etwas vollkommen Verblüffendes versucht: den Text zu spielen, diesen unendlich reichen Text, der selbst in Strichfassung nicht versagt, wobei ich dem Programm keinen Hinweis entnehme, welche deutsche Fassung denn da nun rein oder bearbeitet gesprochen wird. Der Text liefert in dieser Erprobung den in jeder Hinsicht überzeugenden Beweis, dass er keinerlei Modernisierung, keinerlei Aktualisierung bedarf, denn er erzählt eine pralle Geschichte, an der kein Staub haften bleibt und das geht nur, wie Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier kürzlich sagte, als wäre es eine Plattitüde sondergleichen, wenn man aller Dekonstruktion Valet sagt. Und weil Moritz Rinke, ebenfalls unlängst, das Lob des Provinztheaters sang wegen des dort offenbar größeren Zutrauens zu überliefertem Text, sei Meiningen mit dieser Inszenierung ausdrücklich beispielhaft genannt.

Das immer wieder einmal frisch aus der Tiefkühltruhe geholte Diktum, „König Lear“ sei eigentlich unaufführbar, wird ohnehin in schönster Regelmäßigkeit landauf, landab ad absurdum geführt, denn selbst eine schlechte Einstudierung beweist das ja keineswegs. Hier aber handelt es sich um eine gute Einstudierung, man kann sie sogar Schulen empfehlen, was eben kein Makel ist. Das seltsame Phänomen, dass Irrwitz und Blindheit am Anfang der Tragödie größer sind als am Ende, obwohl  am Ende der König offenbar wahnsinnig und der Gloster unübersehbar geblendet und blind ist, könnte notfalls in einer zusätzlichen Unterrichtseinheit erläutert werden. Hinzunehmen ist, denn das ist Shakespeares Exposition, dass dieser britische König Lear aus sagenhafter Vorzeit die mehr als seltsame Idee hat, seinen drei Töchtern ein verbales Liebesbekenntnis abzuverlangen, ehe er seine Macht abgibt und sein Erbe verteilt. Zwei, Goneril und Regan, sind zweifellos durch eine Rhetorikschule gegangen, die dritte, Cordelia, ist ehrlich, weil sie in unfassbarer Naivität auf die Überzeugungskraft ihren Tuns und Wesens setzt. Auch ist sie darüber hinaus der keineswegs unklugen Meinung, Argumente könnten Rhetorik der Hohlheit überführen.

Lear aber, der alte König, zieht in dieser Situation aus Gründen, die in ihm verborgen liegen, die wohlklingende Phrase trotz offenbarer Widersprüchlichkeit der schüchtern-vertrauenden Selbstungewissheit nicht nur einfach vor, er ist darüber hinaus sofort bereit, seine eigentliche Lieblingstochter, die den größten Teil des Reiches erben sollte, und der er sogar noch baut, was man eine goldene Brücke nennt, indem er ihr einen zweiten Versuch zubilligt, ihn mit Worten zu umschmeicheln, unwiderruflich zu verstoßen und zu enterben. Cordelia weiß nicht, wie ihr geschieht und erlebt anschließend, wie einer der Bewerber um ihre Hand sich mangels ihn erwartender Mitgift auf dem Absatz umdreht, während der König von Frankreich als zweiter sie dennoch mit sich nimmt. Dass Lear hier politisch unklug handelt, ja politisch blind in kaum fassbarer Weise, sehen viele Interpreten seit langem als ausgemacht, das Geliebtwerdenwollen gilt nicht erst seit vorgestern an ihm als Anzeichen eines diktatorischen Charakters. Lear verkennt in beängstigender Weise seine Lage bis fast zum Ende der Tragödie.

Murat Yeginer lässt sein Spiel in Meiningen gleich zur Sache kommen nach einem hübschen Vorspiel mit dem Narren und Cordelia (Renatus Scheibe und Alexandra Riemann), die miteinander singen. Die Kostüme (Beate Zoff) setzen ihre Akzente kräftig mit Hang zu farbiger Märchensymbolik, die beiden bösen Schwestern Goneril (Nicole Lohfink) und Regan (Evelyn Fuchs) sind rothaarig mit Kunstfrisuren, die gute Cordelia ist blond in Unschuldsweiß, der finstere Haushofmeister Oswald (Reinhard Bock) kommt in Schwarz mit Lederriemen. Das bedient uralte Muster und wirkt doch nicht klischeehaft, seltsamerweise. Es gibt Statisterie mit echten Rüstungsteilen, die blechern klappern, die Reminiszenz an den Theaterherzog und seine Meiningerei ist im Jubiläumsjahr nicht nur legitim, sondern wohltuend. Damit es nicht zu bunt getrieben wird, ersetzt die Inszenierung die verlangten Hieb- und Stichwaffen der Handlungszeit teilweise durch knallende Pistolen und verzichtet auf Theaterblut, von dem sich in der Requisite sicher das eine oder andere Fläschlein gefunden hätte.                  www.das-meininger-theater.de

Die vollständige Kritik ist seit 15. März 2018 nur noch in Buchform zu lesen: Eckhard Ullrich: Wie es mir gefällt. 33 Shakespeare-Kritiken
dictum verlag Ilmenau, ISBN 978-3-95618-138-2, Preis 19,50 Euro.


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