Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick; Bühnen der Stadt Gera

Nimmt man, in aller gebotenen Vorsicht, einen von Null deutlich verschiedenen Teil des Premieren-Beifalls als solidarisches Bekenntnis, bleibt dennoch ein großer, ein starker, vor allem aber ein berechtigter Applaus für eine starke Leistung. Bernhard Stengele hat einen Zuckmayer auf die Bühne gestellt, der zeigt, wie lebendig das „deutsche Märchen“ 86 Jahre nach der Uraufführung unter Heinz Hilpert im Deutschen Theater Berlin am 5. März 1931 immer noch ist, wie lebendig auch angesichts der öffentlichen Beerdigung des Stücks und seines Autors anlässlich einer Berliner Neu-Inszenierung unter Boleslav Barlog 1964 am Schiller-Theater. Vor mir saß ein älteres Paar, von dem er bei jedem zweiten Satz auf der Bühne nickte, als gelte es die Richtigkeit jeder Aussage ausdrücklich und sichtbar zu bestätigen, von dem sie hingerissen die Berliner Gassenhauer mitsang, als wäre Operetten-Abend. Es gab Szenenapplaus, es gab, wenn auch leicht verschämt, zum Ende die Standing Ovation, die auf der roten Liste der bedrohten Arten steht. Dass das vor allem dem Hauptdarsteller Ouelgo Téné galt, darf vermutet werden, er war zweifelsfrei ein großer Wilhelm Voigt. Und er war es mitten unter elf weiteren Mimen in insgesamt 28 verschiedenen Rollen.

Joachim Kaiser, der Groß-Kritiker, der am Tag vor dieser Premiere im Alter von 88 Jahren starb, stellte 1964 eine Betrachtung zum „Hauptmann von Köpenick“ unter die Überschrift „Wer denkt ans Publikum?“ Er reagierte schon auf die schlechte Presse der Berliner Barlog-Inszenierung, die er selbst nicht kannte und fragte: „Beruht die kleine Unsterblichkeit von Zuckmayers „Preußischem Märchen“ wirklich auf einem Irrtum, den die verrinnende Zeit korrigiert?“ Er antwortete: „Gewiss: Je tiefer die Köpenickiade in den Brunnen der Vergangenheit sinkt, desto deutlicher wird, wie verwandt das Hauptmanns-Drama mit Hauptmanns Dramen ist.“ Kaiser nahm das „Märchen“ unter die Lupe: „Solange die Weltgeschichte dem preußischen Militarismus noch nicht in die Parade gefahren war, lag es nahe, diesen Untertitel für nichts als blanke Ironie zu nehmen.“ Nahm es als Ausweis vorgeführter Abläufe: „Solche Sorgen und Ungerechtigkeiten nähmen die verängstigten Opfer des Atomzeitalters nur zu gern in Kauf. Und die öffentliche Ordnung, an die „man“ glaubte, war verbindlich wie nur irgendeine ehrwürdige Hierarchie. Zuckmayers Märchenspiegel reflektiert alles das unkritisch. Aus Missständen werden Pointen oder relativ harmlose Schwächen.“

Gerade die Geschichte des Hauptmanns von Schlettow, bei dem der lange Weg der Uniform aus den Händen des Schneiders Wormser seinen Anfang nimmt, war für Joachim Kaiser Indikator der tieferen Beweggründe des Dramatikers: „Erwägt man weiterhin, dass Zuckmayer hier versuchte, den Menschen hinter der Materie zurücktreten zu lassen, nicht die Seelen in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die Geschichte einer Uniform, dann spürt man, dass es Zuckmayer darauf ankam, potentielle Abgründe und haarsträubende Gegebenheiten herzlich zu glätten. Dieses Märchen hat mit kulturkritischer Aktivität weniger zu tun, als in seinen Bestandteilen und Tendenzen angelegt scheint. Es verklärt.“ Nicht, weil Kaiser nicht mehr widersprechen kann, behaupte ich, dass ihm bei diesem Urteil, das eher ein Fehlurteil ist, ziemlich sicher zu stark „Des Teufels General“ durch den Kopf ging. Man muss den Text nur aufmerksam lesen, die 21 auf drei Akte verteilten Szenen nur in ihren Details wahrnehmen, um zu sehen, dass Verklärung oder gar Verharmlosung das Geschehen kaum charakterisieren. Zuckmayer ist freilich einer, der seine Figuren liebt. Ihm das anzukreiden, ist kein guter Ansatz. Und Bernhard Stengele hat in Altenburg und Gera dem Text vertraut.

Natürlich muss man bei 73 angebotenen Rollen kräftig den Rotstift ansetzen, will man nicht die Möglichkeiten des Hauses und des Ensembles ignorieren. 28 Rollen sind immer noch mehr als heutiges Theaterpublikum in der Regel erlebt, es erlebt hier auch Kostüme und Bühnenbild (Hilke Förster), es erlebt Musik, die Stimmung ins Parkett bringt und zu spielerischen Kabinett-Stückchen der Beteiligten auf der Bühne animiert, dass es eine pure Freude ist. Nicht nur, weil ich sie eben erst begeistert in „Endstation Sehnsucht“ sah, nenne ich Anne Diemer zuerst, sie ist eine umwerfende Frau Obermüller und sie ist eine umwerfende Auguste Wormser, Tochter des Uniformschneiders und Bruder des Willy Wormser (Yasin Baig), ebenfalls ein Nebenrollen-Glänzer dieses Abends. Trotz kräftigster Striche am Text (runde 150 Druckseiten in meiner Ausgabe des S. Fischer Verlags) werden keinerlei Phantomschmerzen erzeugt. Man könnte sich natürlich diese oder jene Episode, die Zuckmayer einst brauchte für sein auf Panorama angelegtes Märchen, als kaum weniger ergiebig vorstellen, die Striche jedoch treffen die Kernsubstanz nicht, wohl aber zum Beispiel die sehr zahlreichen Variationen des Themas Uniform, das mehr als nur ein Leitmotiv darstellt.

Ludwig Marcuse behauptete einst im FRANKFURTER GENERAL-ANZEIGER: „Der Hauptmann von Köpenick inszeniert sich von selber.“ Was kaum so gemeint sein konnte, dass ein Regisseur eingespart werden kann. Freilich muss der sich nicht Gedanken darüber machen, wie man „kalten Rauch“ auf die Bühne bringt, den Zuckmayer fordert, oder wie man den Schneider Wormser anders als seinen Sohn Willy auf einer Bühne mit „nur geringen jüdischen Rassemerkmalen“ ausstattet. Bernhard Stengele, der zum Ende der Spielzeit das Theater Gera/Altenburg verlässt, hat seinem Kleiderhändler Krakauer (Manuel Struffolino, der außerdem noch die Rollen Jellinek, Inspektor und Polizist zu geben hatte) nicht nur ordentliche Schläfenlocken erlaubt, er darf auch sprechen, wie das Berliner Jiddisch wohl ungefähr klang in der Grenadierstraße. Überhaupt: die Dialekte, mit denen Zuckmayer seit seinem rheinhessischen „Fröhlichen Weinberg“ immer wieder erfolgreich arbeitete, bereiteten in Gera unerwartet wenig Schwierigkeiten. Struffolino bot am Ende sogar fast täuschend das Goebbels-Idiom und fundierte so wunderbar den überraschenden Hitler-Gruß in der Schluss-Szenerie, als Wilhelm Voigt sich selbst im Spiegel betrachtet und unmöglich findet.

Den künftigen Schauspieldirektor Manuel Kressin sieht man ebenfalls in diesem „Hauptmann von Köpenick“, er ist zunächst der Oberwachtmeister in der Amtsstube, der dem Schuster Voigt zeigt, wie der wilhelminisch-deutsche Amtsschimmel wiehert, später ist er just jener Bürgermeister von Köpenick, Obermüller, den der Schuster verhaftet und unter seine Befehlsgewalt zwingt, weil er eben nur ein Leutnant der Reserve, der Voigt aber ein Hauptmann in grauem Mantel ist. Ich sah Kressin zuerst als Luigi in Dario Fos „Bezahlt wird nicht“, zuletzt als Arzt in „Endstation Sehnsucht“, dazwischen in weiteren vier Inszenierungen, man muss sicher keine Sorgen haben vor den kommenden Spielzeiten. Auch Katerina Papandreou kann sich über Rollenmangel in Gera und Altenburg kaum beklagen, bei Zuckmayer ist sie die Plörösenmieze mit leicht versteiftem Bein und das kranke Mädchen, dem Wilhelm Voigt (eine der eindrücklichsten Szenen der Inszenierung, die sich natürlich nicht von allein machte) aus den „Bremer Stadtmusikanten“ vorträgt, eher es stirbt. Es gab zu Zeiten Kritiker, die diese Episode kitschig fanden. Ich neige dazu, diesen Kritikern hilfloses Erschrecken vor eigenen Emotionen vorzuwerfen. Das tendiert straff ins Infantile.

Bernhard Diebold, der auch die Uraufführung 1931 in Berlin sah, schrieb in der FRANKFURTER ZEITUNG: „Aber die Spieler von ganz Deutschland dürfen dem Zuckmayer auf den Knien danken für ein dauerhaftes Repertoire-Stück – mit dreiundsiebzig Rollen.“ Dank im Stehen reicht auch, will ich meinen, Dank aber auf alle Fälle, denn Komödien höheren Ranges durchwimmeln eben leider nicht die deutschsprachige Theaterliteratur und wer weiß, wie es liefe, würde heute der Mode folgend nicht das „Märchen“ von Zuckmayer auf Bühnen gebracht, sondern der Roman von Wilhelm Schäfer über diesen Wilhelm Voigt, der 1930 zuerst als Fortsetzungsroman gedruckt wurde. Monty Jacobs fragte 1931: „Warum schlagen diese Szenen ein?“ Und antwortete sich selbst: „Weil Zuckmayer nicht, mit rot angelaufenem Kopf, Schlagworte ins Parkett zetert.“ Jawohl, Monty Jacobs, dem ist bis heute kaum etwas hinzuzufügen. Dagegen ist ein Vorwurf wie der von Herbert Ihering unpassend: „Er lenkt nicht den Geist des Zuschauers dahin, von wo aus er betrachten soll. So kann der eine den Militärschwank, der andere eine leichte soziale Anklage, der dritte die Satire sehen.“ Wo aber wäre das Problem? Der Nickmann vor mir nickte, die Frau des Nickmanns sang.

Gern zitiere ich noch einmal Monty Jacobs: „Denn gestern hat dieses Labsal von einem Dramatiker wieder einmal die Anspruchsvollen und die Anspruchslosen zugleich glücklich gemacht.“ Anstoß an solchen Bühnenfällen nehmen allenfalls und mit erstaunlicher Blindheit seit ewigen Zeiten die Anspruchsvollen, ihnen sind fast alle Möglichkeiten genommen, eigene Exklusivitäten zu genießen, wenn neben ihnen der vermeintliche Depp sich auf die Schenkel drischt, weil auf der Bühne gebrüllt wird: „Wer scheißt denn da so lange?“, eher der Hauptmann aus der Kabine kommt und die Hacken des Brüllers zusammenknallen. In Hollywood kennt man die Mischung, aus der entsteht, was heute Mega-Blockbuster genannt wird: Eben noch nässt man sich kreischend die Slipeinlage, im nächsten Moment reichen die Taschentücher kaum für die Tränenflut, die Rezeptur kannte lange vor Hollywood ein gewisser Shakespeare. Wem es also ums Große ging, ums Ganze nebenher noch gleich mit, der hatte doch die Debatte zwischen Wilhelm Voigt (Ouelgo Téné) und Schwager Hoprecht (Thorsten Dara, der auch noch ein Grenadier war), da waren Schlagworte, aber eben in der Manier, in der Zuckmayer sie nahm. Die nicht einmal kommunistische Lesarten ausschließt.

1947, als Ernst Legal im Deutschen Theater Wolfgang Langhoffs „Der Hauptmann von Köpenick“ inszenierte, brachte es Fritz Erpenbeck, der Brecht-Gegner, auf den kommunistischen Punkt: „Was zur Zeit seiner Entstehung von vielen irrtümlicherweise als gutmütig spottend, lustspielhaft oder gar possenhaft karikierend gewertet wurde, das erweist sich für jeden, an dem die Jahre des Hitlerismus nicht spurlos vorübergegangen sind, als bittere Satire, als unheimlich Prophetie.“ In einer Hinsicht wenigstens sollte man solche Sichten nicht unbesehen vom Tisch wischen: die dezidiert bürgerliche, 1931 schon die stramm konservative Kritik, waren nach Kräften bemüht, dem Zuckmayer-Märchen Überlebtheit zu attestieren, nach der Uraufführung besonders krass Paul Fechter, nach dem Krieg aber fast wuselig der große Friedrich Luft. Dass Erpenbeck wie Kollegen von der gleichen Fakultät eher dazu neigten und neigen, in Texte hinein-, statt aus Texten herauszulesen, weiß man inzwischen, es ist nicht einmal eine Frage der Parteizugehörigkeit. Es disqualifiziert sie jedoch nicht in der Theatersache, von der Erpenbeck natürlich viel verstand. Jede Aufführung, schrieb er, „fiele unbarmherzig auseinander, wenn nicht echter Ensemblegeist die Bühne beherrschte.“ Natürlich.

Länglicher Reden kürzerer Sinn: Alle, in Worten: alle an diesem Abend haben diesen Ensemblegeist gezeigt, also auch die noch nicht genannten Bruno Becke (Hauptmann von Schlettow und später Rittmeister von Schleinitz), Johannes Emmrich als Zuschneider Wabschke, Gefreiter und Erster Soldat, natürlich Ulrich Milde als Wormser und Kilian (wie dem die Freude, es einmal dem Bürgermeister zu zeigen, anzusehen war!), Joachim Zarculea (Knast-Kumpel Kalle und Pass-Kommissar) und in gleich vier Rollen Mechthild Scrobanita (Marie Hoprecht, Fanny, Wäscherin und Prostituierte). Für einen Platz in der ewigen Liste der Bühnenideen sicher nicht ausreichend, dennoch ein Anblick, den man so rasch nicht vergisst: wenn die Drehbühne rasch gedreht wurde und man Szenerien quasi im Schnelldurchlauf zu sehen bekam. An den Wänden Kaiser-Bilder, bei Zuckmayer wären auch einmal Bismarck und einmal Schopenhauer gefordert gewesen, wer aber erkennt die heute auf Anhieb? Also durchgehend Wilhelm, Namensvetter des Schusters, der nicht buchstabiert werden muss. Bliebe, irgendwann ist Schluss, der musikalische Leiter Olav Kröger, der auch selbst in die Tasten griff. Ich hätte stehend geklatscht, wäre ich ohne Block und Stift gewesen.
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