Tagebuch

6. März 2019

Dies ist der 90. Geburtstag von Günter Kunert, den ich vor allem damit zubrachte, über Günter Kunert zu schreiben. Mein Arbeitszimmer ist zwischendurch fast unwegsam geworden, ich habe Trittbänkchen aufgestellt, Ordner aus dem Regal gezogen, Dateien geöffnet und Schreibmaschinen-Typoskripte gesichtet. Kleinkarierte Blätter aus DDR-Schreibblöcken, auf die ich einst Gedichte abschrieb, jedes Blatt ein Gedicht, Platz für spätere Interpretationen und Bemerkungen, ganze Bände, die sich nicht in meinem Besitz fanden, sind so in meiner Handschrift für spätere Reißwölfe überliefert. Ich schnitt aus, was ich in heutigen Zeitungen fand, es war verblüffend viel, ich druckte aus, was meine e-paper-Zugänge hergaben, es war verblüffend viel. Blätter mit Bezahlschranken boykottiere ich, www.eckhard-ullrich.de hat auch keine Bezahlschranke. Günter Kunert ist knapp vier Monate jünger als meine Mutter. Wie man 90 ist, weiß ich also ziemlich genau, Glückwunsch!

5. März 2019

Wie auch immer: heute jährt sich der Tag der späten Uraufführung der im Jahr 1929 zu Papier gebrachten Posse „Rund um den Kongress“ von Ödön von Horvath. Die einschlägige Literatur hat zwei Jahre im Angebot: 1959 und 1969. Für beide Jahre wird als Haus der Uraufführung das Theater am Belvedere in Wien genannt, es handelt sich dabei um ein Theater, das der Google-Suche tapfer widersteht. Regisseur der Uraufführung war Irimbert Ganser, den ich um seinen Vornamen nicht beneide, auch er widersteht der Google-Suche außerordentlich tapfer. Mit etwas Mühe findet man noch die Namen der für Bühne und Kostüme Verantwortlichen und dann ist schon Feierabend. Immerhin hat der ewige Horvath-Experte Traugott Krischke, den ich um seinen kompletten Namen nicht beneide, eine Uraufführungskritik als Zeitungsausriss in seinem klassischen Dokumentenband veröffentlicht. Zu Rewe und zurück sind es 1200 Schritte, ganz unabhängig von Regen und Sturm.

4. März 2019

Es muss draußen nur regnen und stürmen und schon leidet die Gesundheit. Meine heutigen 3397 Schritte übertreffen die Zahl der Wörter, die ich Gabriele Tergit an ihrem 125. Geburtstag widmete, nur unwesentlich. Der Briefkasten blieb leer, mein Anruf bei einem Weinhändler wegen zweier spanischer Rotweinpakete mit insgesamt vier guten Gläsern als Zugabe brauchte eine gewisse Zeit, ehe ich statt der Dame aus der Warteschleife einen leibhaftigen Menschen am anderen Ende hatte, der zu allem mich auch noch in seinem Computer gespeichert fand, obwohl ich schon sehr, sehr lange bei ihm nichts mehr bestellte. Über Tergit las ich, dass sie für 500 Mark monatlich neun Gerichtsberichte zu liefern hatte, alles darüber hinaus wurde extra bezahlt. Klar, warum die Zeitungen heute ihre Geschäftsstellen schließen und ihre Sekretärinnen entlassen: um den gut bezahlten Qualitätsjournalismus zu retten. Wie war das gleich mit dem Essen und dem Kotzen? 

3. März 2019

Der Kaieteur-Wasserfall im Regenwald von Guayana ist der schönste Katarakt der Welt. Trotzdem hat er nur wenig Besuch. So steht es heute im Reiseteil der Sonntagszeitung. Ich kommentiere: Gut so. Wenn wir mit unserem Geld nicht wohin wissenden Menschen auch noch die letzten stillen Winkel der Erde, so schön sie auch sein mögen, fluten, wenn wir in immer größeren Schiffen, in immer dichter fliegenden Fernfliegern den Rest der Welt auch noch kaputt machen und das nie mit dem ganzen Geschwafel um Klimawandel aus Menschenhand in Verbindung bringen, dann ist uns wirklich nicht mehr zu helfen. In Venedig erwehren sie sich nun endlich des Tagestouristen-Wahns, die wirklichen Venedig-Freunde müssen es leider mit ausbaden. In Florenz sahen wir, wie Kollaps aussieht, wenn die Kreuzfahrer anlegen ohne Zeit für die Uffizien, aber mit einem sensationellen Verdrängungseffekt: man kommt nicht einmal in die Nähe. Meine Coburg-Kritik steht im Netz.

2. März 2019

Es ist entschieden besser, einen Großvater gehabt zu haben, der Reichsjugendführer und Gauleiter in Wien war als etwa einen popligen Drechsler, der als Sozialdemokrat seine Dorf-Musik aufgab, um 1933 nicht in die SA übernommen zu werden und nach dem Krieg in seinem Kaff die KPD neu gründete, mit dem alten Mist gar nicht erst wieder anzufangen. Ariane von Schirach hat es nach kühnen Anfängen im SPIEGEL nicht ganz so in alle Power-Marketing-Schübe geschafft wie der Ferdinand. Der Ferdinand aber, der füllt, kaum hat er ein neues Buch geschrieben, halbe ZEIT-Magazine, ganze WELT-Seiten und fast ganze in der BERLINER ZEITUNG, um nur zu nennen, was mir eben auf den Weg hüpft. Ich weiß am dritten Schrittzähler-Tag den Weg zu den Mülltonnen zu schätzen, den zur Tankstelle sowieso und noch der Weg zum Briefkasten trägt bei zum Wissen, wieder zu wenig gelaufen zu sein. Nach Coburg zu fahren ins Theater, ist auch kein Lauftraining.

1. März 2019

Heute wird Roger Daltrey 75 Jahre alt. Ohne das gestrige ehemalige Zentralorgan ND wäre mir das glatt durch die Maschen gerutscht, zumal ich seit einer Nachtwache wegen Komplett-Ausstrahlung der zweiten WHO-Rock-Oper „Quadrophenia“ ziemlich heftige Interessenverluste bezüglich der Band rückblickend nicht leugnen kann. Selbst als 2001 nur 2001 war und noch nicht Frölich & Kaufmann, erwarb ich von WHO keine nennenswerte Zahl von Scheiben. Immerhin stehen, selten gehört, neben „Quadrophenia“ noch „Odds & Sods“, „Live at Leeds“, „Who’s next“, „The Who sell out“ und „Who are you“ in meinem CD-Regal. Weil das Doppelalbum „Quadrophenia“ zuerst am 19. Oktober 1973 herauskam, muss meine Radionacht irgendwann in den Wochen danach gewesen sein. Den Film von 1979 habe ich, soweit ich mich erinnere, nie gesehen, anders als „Tommy“. Was waren das für Zeiten, als die Mehrzahl aller Titel noch weniger als drei Minuten lang daher kam!

28. Februar 2019

Hotels gratulierten mir zum Geburtstag, Reisebüros und Weinhändler, ein Bundestagsabgeordneter, ein Landtagsabgeordneter, Telefonanbieter boten einen Thermobecher als Geschenk plus Zubehör, ein Buchhändler 15 Prozent Rabatt auf die nächste Bestellung. Freundliche Menschen diverser  Verwandtschafts- und Bekanntschaftsgrade meldeten sich bei mir mit den besten Wünschen, die sie zur Verfügung hatten. Unter meinen Geschenken ein Schrittzähler mit vielen Funktionen, damit ich mittels Bewegungskontrolle jene 79 Kilogramm Lebendgewicht von gestern auch morgen noch halten kann. Nicht weniger als 10.000 Schritte pro Tag sind empfohlen, was eine Menge Holz ist. Immerhin hüpft heute bereits meine fünfte fette Rente aufs Girokonto. Sämtliche Rechnungen sind bezahlt, der Weg in den März soll ein reiner sein. Und der erste Schrittzählertest ergibt exakt 3529 Schritte von der Keplerstraße über Bäcker, Zeitungskiosk und Busbahnhof, die Busfahrt zählt nicht.

27. Februar 2019

Natürlich ist es kompletter Unfug: mit 66 Jahren fängt das Leben an. Nein, es pfeift, sehr günstig gezählt, auf dem vorletzten Loch. Es stimmt auch nicht, dass das Interesse an Gedichten wächst, 99 von 100 Dichtern müssen ihre Bände bei Verlagen selbst bezahlen, der bescheidene Rest tingelt von geförderter Lesung zu geförderter Lesung, um das Absatzmanko zu kompensieren, in der lyrischen Parallelwelt. Meine erste Geburtstagskarte kam gestern, was heute kommt, werde ich sehen. Den Band mit 66 Gedichten habe ich mir verkniffen, den ich heute in den Händen halten wollte. Wenn ich früher an meinem Geburtstag an andere dachte, die diesen 27. Februar mit mir teilen, gab es in schöner Folgerichtigkeit humoristische Mahnungen, wen ich vergaß. Heute nenne ich nur einen neben mir: Karl Scheffler, der 1910 „Berlin – ein Stadtschicksal“ veröffentlichte und sonst etliche andere Bücher. Seiner ist heute der 150. Geburtstag. Meinen 65. 2018 feierte ich noch mit Frank.

26. Februar 2019

Zwei Todestage lasse ich heute aus nahe liegenden Gründen links liegen, wobei ich mich schon frage, wieso diese Dinge immer links liegen müssen, nie rechts. Es starb vor 60 Jahren Raymond Chandler, es starb vor 50 Jahren Karl Jaspers. Von dem einen las ich alles, was ich kriegen konnte, in meiner ersten Assistenten-Zeit an der TH Ilmenau, vom anderen kaufte ich alles, was ich kriegen konnte, als die Broschuren der Serie Piper über KNV in der Hochschul-Buchhandlung Weimarer Straße zu erwerben waren. Sie füllen heute noch eine halbe Regalreihe von „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ bis „Psychologie der Weltanschauungen“, von „Die Schuldfrage“ bis „Freiheit und Wiedervereinigung“. KNV hat Insolvenz angemeldet, die Hochschul-Buchhandlung ist in eine Wohnung verwandelt. Ich sehe auf MDR Bilder der Hausdurchsuchung im Ilmenauer Busbetrieb IOV, danach sehe ich Annerose Kirchner mit ihrem neuen Gedichtbuch. Salute, Annerose, auf Dich!

25. Februar 2019

„Ein Wochenendspiel. Volksstück in sechs Bildern“ ist die Frühform von „Italienische Nacht“, es wäre reizvoll, Änderungen zu analysieren. Einstweilen ringe ich mit meinem Urteil über Thomas Ostermeiers Horvath-Spielart. Mein erster Versuch, mein Handy aus Dampfmaschinen-Zeiten  aufzuladen, endet mit einer Nachricht, dies sei misslungen, ich möge mich mit dem Anbieter in Verbindung setzen. Der Anbieter ist nach irrwitzig kurzer Zeit tatsächlich am Apparat, wie man früher sagte. Es funktioniert, wie ein zweiter Versuch zeigt. Zu meiner nicht geringen Überraschung war sogar noch ein Guthaben von 7,52 Euro vorhanden, nur habe ich eben zu lange nicht telefoniert mit dem Gerät, weshalb ich stillgelegt wurde. Die zweite Hürde, die mir „Nur Notrufe“ erlaubt, überwinde ich mit Hilfe der früheren Besitzerin. Nun bin ich wieder in der Lage, Zwischenfälle, die mich betreffen und an der pünktlichen Heimkehr hindern, zu Hause zu melden, falls ich überlebte.

24. Februar 2019

Wie gehabt: 10.30 Uhr ab Berlin Hauptbahnhof, auf die Minute pünktlich 13.38 Uhr an in Ilmenau, Technologieterminal. Nach „Italienische Nacht“ gleich zum Quartier, Abschied in der Goethestraße hatten wir schon gestern. Zwei Becher Obst, wie gehabt, drei Zeitungen für unterwegs, darunter den sonntäglichen TAGESSPIEGEL, der just dem neuen Quartier rund um die Mercedes Benz Arena eine ganze Seite widmet. Eine ganze Seite bekommt auch James Baldwin, nicht sehr viel weniger Marion Brasch mit ihrem neuen Buch in alter Wohngegend. Es erscheint an meinem Geburtstag, an dem ich schon nicht mehr an Marion Brasch denken werde. Barbara Vinken durfte in der WELT eine ganze Seite über Karl Lagerfeld füllen, der keinen Stress kannte, nur Strass. Die Berliner Kleingruppenkarte für 19.90 Euro wandert in meine Lesezeichen-Sammlung, die sechs neuen Biersorten von Ambrosetti in die Etiketten-Sammlung. Abends Gelber Muskateller aus Langenlois.

23. Februar 2019

Eine Pilgerstätte war Alt-Stralau früher nicht, auch wenn dort ein gewisser Karl Marx anno 1837 eine Weile gewohnt hat, wie ich einem Schild in der Nähe zweier Denkmäler entnehme. Das waren die guten alten Zeiten mit Doktor-Club und Fern-Dissertation des Jung-Akademikers, der, wenn ich nachrechne, da wirklich maßlos jung war. Ein wenig erinnert der Ufergang der Halbinsel jenem in Venedig in Richtung Giardini und weiter, den man auch sehr gut bewandern kann, wenn keine Biennale stattfindet. Hier in Alt-Stralau ist jetzt Wohnen angesagt, auf dem Friedhof mit der kleinen Dorfkirche liegen die Herren Manfred Bofinger und Fred Rodrian erfreulichen Andenkens. Auf der Warschauer Brücke genießen wir eine der offenbar typischen Berliner Bau-Schildbürgerstreiche, wir müssen in Griffweite von Peter Pane einmal über Rom und New York diverse Treppen hinunter und hinauf, weil der Brückenzugang nicht benutzt werden darf. Nur 25 Minuten bis zur Schaubühne.


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