Tagebuch
14. Juni 2019
Marek Hlasko ist uralten Deutschen vielleicht deshalb ein Begriff, weil er ein paar Jahre mit Sonja Ziemann verheiratet war, der Film-Entdeckung Arthur Brauners, der es doch nicht geschafft hat, 200 Jahre alt zu werden. Marek Hlasko jedenfalls machte vor, was Peter Handke nachmachte: sich einen Filmstar angeln, in diesem Falle dann Jeanne Moreau. Lustige Holzhacker-Buben haben Hlasko den James Dean der polnischen Nachkriegsliteratur genannt. Immer noch besser als: den Juri Gagarin der Tiefseetaucherei. Sonja Ziemann lebt sogar noch, wenn meine unzuverlässigen Informationen stimmen, sie ist im Februar 93 Jahre alt geworden. Hlasko dagegen ist heute genau seit 50 Jahren tot, weil er eine Überdosis Schlaftabletten nahm. Der SPIEGEL zitierte am 29. Mai 1963 Verleger Witsch: „Der ist in zehn Jahren einer der größten Autoren Europas oder tot.“ Zwei Kritiken von Marcel Reich-Ranicki zu Hlasko stehen in dessen Buch „Erst leben, dann spielen“.
13. Juni 2019
Mein Tagebuch 2009 nennt den 13. Juni ein privathistorisches Datum: zum 163. und letzten Mal erschien meine Internet-Kolumne „Ullrichs Ecke“, sechs Jahre später ist ein 310 Seiten starkes Buch daraus geworden, bei mir immer noch erwerblich zu kaufen. Es ging, die Kommunalwahl war eben vorbei, um dies: „Hauptsache Bockwurst“. Zehn Jahre später haben wir in Ilmenau einen Bockwurst-Oberbürgermeister. „Neues Deutschland“ füllt heute eine ganze Seite mit Theodor Fontane, Hans-Dieter Schütt stellt die Frage, ob wir Fontanes Theaterkritiken noch lesen würden, wenn sie nicht von Fontane wären. Wir lesen auch Theaterkritiken von Otto Brahm oder Alfred Polgar nur, weil sie von Otto Brahm oder Alfred Polgar sind und selbst bei Schütt kann es passieren, dass wir ihn lesen, weil er Schütt ist. Einmal im Jahr treffe ich einen alten FDJler, der sehr, sehr schlecht auf Schütt zu sprechen ist und ich rede dann immer von Schütts 89er Dankesbrief an mich.
12. Juni 2019
Ich baue meine „Minna von Barnhelm“-Datei um und gewinne eine neue Fontane-Idee. Ich lese Hans Bender und rufe im Weinhaus in Essen an, es braucht weißen Nachschub. Der Katalog von Frölich & Kaufmann verlockt mit einigen Angeboten. Vor zehn Jahren bestellte ich die Zeitung endgültig ab, für die ich an die fünfzehn Jahre gearbeitet hatte. Vor zwanzig Jahren sortierte ich die Brüssel-Fotos ins Album und klebte die neuen Bier-Etiketten auf, damals der Stand 2710 Sorten, neu hinzugekommen 20 belgische und 3 deutsche Sorten. Stiller Wunsch, bis zum 50. Geburtstag auf vielleicht 4000 Sorten zu kommen. Heute bin ich nicht in der Lage, eine Zahl zu nennen, auf Nachfrage rede ich von 7000 Sorten, es können auch schon mehr sein. Für morgigen Donnerstag lege ich mir mein Buch „Samstag oben links“ bereit, damit ich ein Finale nicht vergesse, das auch schon wieder zehn Jahre alt ist. Ohne mein altes Tagebuch hätte ich ganz sicher nicht daran gedacht.
11. Juni 2019
Die Geschenke liegen auf unserem Tisch, das große zum Geburtstag, das kleinere für den kleinen Bruder. Vor der Abreise alles Übliche: jetzt passt alles in den Kofferraum. Die Rückfahrt wie die Herfahrt auf dem Beifahrersitz, keine Probleme bis zur A 38, wo eine einspurige Strecke zum Einfädeln in eine endlose Lkw-Kolonne zwingt, später wieder alles frei. Später Fotos vom weiteren Lauf des siebenten Geburtstages, Lob für meine kleine bunte Karte. Nein, kein Wort dazu. Morgens sogar ein Uroma-Anruf. In der Post die Einladung zur Vertreterversammlung der Genossenschaft, ich muss absagen, werde in Italien sein. Auf dem Anrufbeantworter eine Erinnerung an unser Klassentreffen im August, ich gab meine Zusage bereits, auch die, die Rede zu halten. 60 Jahre Schuleinführung, ich muss nach alten Fotos mit Zahnlücke suchen, das Halstuch gab es erst später. Am Abend acht deutsche Tore gegen Estland. Trump fiel immer noch keinem Attentat zum Opfer.
10. Juni 2019
Unsere ebenerdige Wohnung an der Seepromenade hat Blick auf die Türme der Klosterkirche, in die wir schon am Freitag einen Blick warfen, als eben Orgelmusik geboten wurde. Eine junge Frau aus Südkorea spielte gerade, als wir uns kurz setzten. Für Menschen von sieben und vier Jahren ist solche Musik noch nichts. Wir besuchten den Tierpark Kunsterspring, erlebten die Fütterung eines Wolfsrudels, zweier Luchse, zweier Wildkatzen, zweier Fischotter. Bei den Wölfen hätte ich lange stehen können. Alles ganz nahe, Rangordnung, Unterwerfung, Kontaktpflege, der Rudelführer wartet etwas abseits, bis das Fleisch kommt, 800 Gramm am Tag, mehr nicht. Abends in der Karl-Marx-Straße nach Melone mit spanischem Schinken eine wunderbare Bouillabaisse. Auf dem Heimweg das Surren am Arm, das die 10.000 Schritte-Marke anzeigt. „Unterm Birnbaum“ in kleinen Portionen, ich las es zuerst 1971 im Oktober, es passt hinreichend gut zur Fontanestadt.
9. Juni 2019
Manchmal scheint es besser, von Dingen zu schweigen, die niederzuschreiben wären. Von unseren bisher 43 Hochzeitstagen waren 42 angenehmer als der heutige. Der Bedarf nach Wiederholung ist gleich Null. Natürlich haben wir in Dresden angerufen, zeitig genug noch. Wir sahen uns Neuruppin an, Stadt mit riesigen Plätzen und breiten Straßen. Standen am Denkmal für Friedrich Wilhelm II., sahen die Ludwigskaserne, die in Wohnungen umgewandelt wurde, lasen von der „Märkischen Zeitung“, die am 23. März 1878 erstmals erschien, von Gustav Kühn, dessen Name mir bereits geläufig war. Die Fontane-Ausstellung im Museum eine Überraschung, Wortstatistik führt zu Ergebnissen, die anders kaum zu gewinnen wären. Die vielen kleinen Notizbücher. Das von 1873 über Thüringen, das von 1874 über Italien, die Skizzen auf etlichen Seiten: Gedächtnisstützen und mehr. In einer Schublade zum Aufziehen Verweise auf Georg Heym, der hier am Gymnasium war.
8. Juni 2019
Noch ein Rückblick: am 8. Juni 1999 sah ich nicht nur das gigantische Armeemuseum in Brüssel, ich bestieg über die Arkaden eigentlich gar nicht zugängliche obere Räume und schließlich sogar den Triumphbogen. Niemand hinderte mich, wenn man mich auch verwundert beäugte. Erstmals fuhr ich später im Atomium nach oben, es entstanden etliche sonst nie möglich gewesene Fotos. Und endlich fand ich auch den Weg zum weiblichen Pendant des Manneken Pis, zu Jeanneke Pis, die allerdings Schutz hinter einem Gitter genoss. Das damals wegen Verseuchung mit Asbest verhüllte Palais Berlaymont sieht man längst wieder in altem Glanz, wann immer aus Brüssel berichtet wird im Fernsehen. Nur der „Palast der Republik“ in Berlin wurde abgerissen mit dem passgerechten Argument. Heute geht es über Pfingsten in nördliche Fontane-Regionen, ich las mich schon warm im 1. Band der „Wanderungen in der Mark Brandenburg“ und in „Meine Kindheit“.
7. Juni 2019
Die Chinesen feiern heute ein Drachenboot-Fest, weil sich 278 vor unserer Zeitrechnung (v.u.Z) ein Dichter mit Namen Qu Yuan im Miluo-Fluss ertränkte aus Kummer über den Verfall des Reiches. In England springt man aus solchen Gründen nicht in die Themse, sondern tritt als Tory-Vorsitzende zurück, denn man ist keine Dichterin. Unsere Dichter lieben verfallende Reiche und wenn sie schon nicht richtig verfallen wollen, dann malen sie sich aus, wie es aussehen würde, wenn sie verfielen. Heraus kommt, was im Feuilleton Dystopie genannt wird, damit es keiner versteht und immer erst bei Google nachgeschlagen werden muss, was Google immer erfolgreicher macht. Am 7. Juni 1999 konnten wir aus Sicherheitsgründen nicht zur NATO, weshalb die NATO zu uns ins Hotel kam in Form eines Mannes, der einst in Bad Salzungen ein Panzerbataillon kommandiert hatte. Ich rang mich zur Erkenntnis durch, dass wir schon bessere und hochrangigere Referenten hatten in Brüssel.
6. Juni 2019
1999 war der 6. Juni ein Sonntag, Anreisetag zu meiner siebenten Brüsselreise seit 1994. Erstmals übernahm ich die Rolle eines zweibeinigen Busleitsystems, ich lotste den Busfahrer, der sonst als Schulbusfahrer tätig war, souverän und kenntnisreich durch Brüssel bis vor unsere Hoteltür in der Chaussee de Mons. Zur Belohnung musste ich fürs Einzelzimmer erstmals nachzahlen, das sonst immer so für mich reserviert war. Ich schaute aus der 311 in den Innenhof, hatte dafür aber mehr Komfort als zuletzt. Ein gefräßiges Telefon schlang mir 20 Franc aus der Hand, ohne seines Amtes zu walten und ohne die Münze wieder herauszurücken. Ich war bereit, die deutsch-belgische Freundschaft zu kündigen. Zumal mein Lieblingsbierladen nicht nur geschlossen hatte, er hatte auch nicht den geringsten Hinweis am Schaufenster, wann er denn wieder offen sei. Ich verließ die Busladung an der Galerie St. Hubert, ich sah genug staunende Münder auf dem Gran Place bisher.
5. Juni 2019
Die Briten begannen heute schon mit den D-Day-Feiern. Vor 44 Jahren nutzten sie den Tag, um mit 67,2 Prozent für den Verbleib in der EU zu stimmen. Vor 75 Jahren fuhren sie dann los in Richtung Normandie. Fünf Jahre später wurde Ken Follett geboren, dessen Bücher im Regal der Rentnerin an meiner Seite stehen, weil ich nicht zu den ganz großen Ken-Follett-Fans gehöre. Gestern gehörte ich zu den beiden Fans auf unserem Balkon, die mit einem leichten Etschtaler Edelvernatsch die Balkon-Saison eröffneten. Es gibt tatsächlich noch trockene Rotweine, die nicht mit Alkohohlgehalt ab 14 Prozent aufwarten. Der Klimawandel, sagen wir mal, ist verantwortlich, dass wir nicht mehr einfach Rotwein trinken können, weil wir viel früher besoffen wären. Wir müssten warten, bis die ersten norwegischen oder grönländischen Rotweine auf den Markt kommen, wenn aber nun Greta aus Schweden den Klimawandel bremst auf seiner Zielkurve, hilft nur noch Nordhang-Weißwein.
4. Juni 2019
Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Wann aber lobt man den Abend? Am Tag danach. Für den dicken Günter Strack war der 4. Juni sein Geburtstag, 90 Jahre alt wäre er heute geworden, wenn er nicht, wie meine Ärztin sagen würde, so fürchterlich übergewichtig gewesen wäre. Wenn viele von seinem Umfang Cäsar umgeben hätten, der angeblich von Dicken umgeben sein wollte, wäre es nicht zu jenem Messer-Einsatz gekommen, der Cäsar den Tod und Brutus den Ruf des Tyrannen-Mörders eingebracht. Denn niemand hat einen so langen Arm, auch mit Messer in Stichnähe eines Kaisers zu kommen, wenn der von Stracks umgeben ist. Am 4. Juni 1919 stimmte der Senat in den USA dem 19. Zusatzartikel zur Verfassung zu, was zur Einführung des Wahlrechts für Frauen führte. Vielleicht sollte man zwischenzeitlich das Männer-Wahlrecht abschaffen, damit dieser orangene Mann nicht erneut gewählt wird, der mit sehr heißen Tipps nach England kommt.
3. Juni 2019
Fürchterliches droht: Greta Thunberg, heilige Johanna des Kinderkreuzzugs gegen Klimawandel, will ein ganzes Jahr lang nicht mehr in die Schule gehen, weil sie nur noch kämpfen mag. Als die Parteisekretärin der Sektion Journalistik in Leipzig 1973 mich trösten wollte, nachdem mir ihr Laden meinen Studienplatz eben weggenommen hatte, wegen ideologischer Rückentwicklung, wie es hieß, hieb sie mir auf die Schulter und sagte: „Werden Sie ein Kämpfer!“ Schade, dass es damals noch keinen Klimawandel gab, nur der Wald starb im Westen, aber der verbarg sich hinter einer Mauer. Wir sollten Greta dankbar sein, denn wenn sie auch natürlich nichts gegen den Klimawandel bewirkt, hat sie doch den Parteien geholfen, eine sehr preiswerte Erklärung für ihr mieses Ergebnis bei den jüngsten Wahlen zu benennen. Verfehlte Klima-Politik, herrlich. Ansonsten ist heute der 175. Geburtstag von Detlev von Liliencron, dem das Klima auch schon hübsch zu schaffen machte.