Tagebuch

9. Februar 2019

Dieser Tage sah ich zu späterer Stunde ein Porträt von Claudia Michelsen, die zur überschaubar kleinen Zahl meiner Lieblingsschauspielerinnen gehört. Ich sah sie vor Dresdner Kulissen mit Christine Hoppe, der Tochter Rolf Hoppes, mit der sie seit ihrem zwölften Lebensjahr befreundet ist. Ich sah sie ins Staatsschauspiel gehen, nicht in dem Gedränge natürlich, das ich stets erlebe, wenn ich das Haus gegenüber dem Zwinger betrete, sondern leer für die Fernsehkamera. Wenn ich heute nach Dresden fahre, den zweiten Schiller des Jahres zu sehen, führe ich einen Artikel mit mir, den ich der Titelseite des Jakob-Augstein-Blattes „derfreitag“ entnahm. Dort meuchelt ein Kritiker mit großer Heftigkeit und meinen Argumenten die jüngste Dresdner Theater-Untat Volker Löschs, was mich zu der irritierenden Vermutung führt, man könne Mist auch dann charakterisieren, wenn man gar nicht selbst an ihm gerochen hat. Ich sehe „Kabale und Liebe“, unbelehrbar wie ich bin.

8. Februar 2019

Elf Treffer findet meine private Suchmaske auf www.eckhard-ullrich.de bei Eingabe des Namens Ludwig Marcuse, der jüngste stammt von vorgestern hier aus dem Tagebuch, die beiden ältesten sind vom Februar 2012. Marcuse begleitet mich eben. Heute zu seinem 125. Geburtstag wähle ich wegen der Nähe zur einstigen Hochschule für Elektrotechnik auf dem Ehrenberg, jetzt Technische Universität Ilmenau, diese hübsche Passage aus dem Buch „Denken mit Ludwig Marcus“: „Hält einer einen Vortrag über Elektrizität und erwähnt dich nicht, obwohl du Straßenbahnschaffner bist: greife ihn an! Er leugnet durch sein Verschweigen deine Existenz.“ Die Schaffnerfeindlichkeit war, dürfen wir sagen, wahrscheinlich eine Art getarnter Frauenfeindlichkeit. Ein Nachschlag: „Besser sich allein langweilen als in Gesellschaft. Man kann ungenierter gähnen.“ Zweiter Nachschlag: „Jede Zeit überschätzt ihre lauten Ketzer.“ Marcuse starb am 2. August 1971. Als leiser Ketzer?

7. Februar 2019

Wenn es dafür ein Bezahlmodell gäbe: WIKIPEDIA findet in 0,55 Sekunden 411 Millionen Treffer bei Aufruf des Namens Howard Fast. Auf Platz 7 von diesen vielen Millionen stehe ich mit dem Beitrag, den ich zum 100. Geburtstag 2014 schrieb. Ich hätte den Suchbegriff gar nicht eingegeben, wenn mir nicht das leicht zerflederte Heft in die Hände gefallen wäre mit dem Titel „Das Massaker von Chicago“, geschützt in einer Klarsichtfolie gemeinsam mit dem etwas besser erhaltenen Heft „Amerikanische Intellektuelle im Kampf um den Frieden“. Darin wiederum liegt, absichtlich oder unabsichtlich vergessen, eine textile Serviette mit dem Datum 25. Oktober 1974, Ort das Hotel „Stadt Berlin“. Das IML (Institut für Marxismus-Leninismus bei ZK der SED) feierte dort und damals sein Silber-Jubiläum (1949 gegründet) mit Sprüchen wie „Wer keine Pause macht, kann nicht gearbeitet haben!“ oder „Unser Standpunkt ist kein Stehpunkt!“ Die Endstation: Antiquariat!

6. Februar 2019

Geschichten, in denen einer mit 67 stirbt, gehen mir näher als Geschichten von Hundertjährigen, die aus dem Kellerfenster steigen und ihren Hut dabei verlieren. Ich lese die seltsame Erzählung „Von der Kunst“, mit der August Strindberg seinen Zyklus „Abschied von Illusionen“ eröffnete, eine Notiz mit hartem Bleistift zeigt mir, dass ich das vor mehr als 20 Jahren schon einmal tat, weitere Spuren müsste ich im alten Tagebuch suchen, wozu mir aber die Neugier fehlt. Im Mai 2007 sah ich in den Meininger Kammerspielen „Fräulein Julie“ und es dauerte danach fünf Jahre, bis ich mir den „Totentanz“ vornahm, eine Enttäuschung, gemessen am Ruhm des Werkes. Und alles nur, weil ich gestern zu später Stunde, nach dem Elfmeterschießen, Ludwig Marcuses „Strindberg“ durchblätterte mit Blick auf Marcuses 125. Geburtstag übermorgen. In „Mein zwanzigstes Jahrhundert“ las ich mich fest, Kapitel 2, Abschnitt 2: „Weimar, zweiter Teil: 1919ff“. Schreiben werde ich aber nichts.

5. Februar 2019

Kein Blödsinn ist groß genug, dass er nicht noch übertroffen werden könnte. Eine Dame von der Universität Bochum äußerte anlässlich der Auszeichnung eines österreichischen Schlagermannes mit dem Karl-Valentin-Orden einer Münchener Karnevals-Gesellschaft, Karl Valentin sei „so viel differenzierter und so viel klüger“ gewesen als der Unwürdige jetzt. Nach dieser Logik dürfte es in Deutschland weder einen Goethe-, noch einen Schiller-Preis geben, keinen Kleist-Preis, keinen Georg-Büchner-Preis. Nicht einmal der Hans-Huckebein-Preis wäre sicher vor Tilgung, man muss sich nur vergegenwärtigen, dass er den Namen eines Raben trägt, der sich besoffen versehentlich selbst erhängte. Wen macht solch Preis ernstlich stolz? Meine „Tell“-Kritik habe ich erst heute ins Netz gestellt. Als künftiger Förderpreisträger der Gesellschaft zur Verhütung von Kritikermorden müsste ich von Schreibhemmung fabulieren oder dem Gedichtband, den ich erdichte, es wäre Lüge.

4. Februar 2019

Die Nachricht, die man erwartet, wird dadurch, dass man sie erwarten musste, nicht leichter oder gar besser erträglich. Mein ältester Schulfreund Frank, der seinen 66. Geburtstag nicht mehr bei Bewusstsein erlebt hat, ist erlöst. Anders lässt es sich kaum sagen. Unser beider 65. Geburtstage haben wir noch gefeiert, zu seinem sah alles vermeintlich sehr gut aus, zu meinem reichlich zwei Monate später schon nicht mehr. Man sah ihm an: es ging ihm nicht gut. Es war viel schlimmer, als wir ahnten, wissen wir seit Dezember. Schreiben wollte ich eigentlich von einem ersten Geburtstag vor zehn Jahren, von Jahren, die wegrauschen, unser Geburtstagsgruß zum 11. ist per WhatsApp zum Ziel gekommen. Nun sind da andere Bilder: Silvesterfeiern im „Goldenen Hirsch“, Forellen aus der Wohlrose, die Riesenfeier auf dem Langen Berg, Schulstunden bei Erwin Tesch, Fahrten der Goetheschulklasse nach Freyburg, nach Wittenberg, die ersten Wochen nach der Armeezeit 1973.

3. Februar 2019

Noch immer geistert Claas Relotius durch den gehobenen Blätterwald, man prüft allerorten, wie sehr die jeweiligen Beiträge gefälscht waren, die man dem renommierten jungen Mann auf sehr guten Glauben hin abnahm in den zurückliegenden Jahren. Die Anwälte (Plural) antworten statt seiner, wenn er denn doch einmal selbst gefragt werden müsste. Als es vor Jahren einmal den Fernsehfälscher Michael Born gab, landete der sogar im Gefängnis und als er wieder draußen war, gab er medienkritische Interviews. Es sind also noch nette Entwicklungen zu erwarten. Würde es üblich, alle Fakten auch in den Beiträgen freier Mitarbeiter von Lokalzeitungen zu überprüfen, würden die ihr Erscheinen rasch einstellen müssen, denn der eine freie Mitarbeiter, der immer alle Wochenendtermine im Tiefflug absolviert, damit der Lokalchef Zeit hat, E-Mails zu lesen, falls er da ist, liefert so viel Material, die komplette Gehaltsempfängerschaft in den Burnout zu treiben.

2. Februar 2019

Johann Christoph Gottsched, dessen 319. Geburtstag heute sicher niemand feiert, hätte sich vom nächstliegenden Felsen in eines der Leipziger Meere gestürzt, könnte man vermuten, wenn er diesen „Wilhelm Tell“ in Weimar gesehen hätte, während des Fluges schreiend. Friedrich Schiller wäre womöglich an seine Schublade gegangen, an den fauligen Äpfeln ein wenig zu schnuppern und dann an Goethe zu schreiben: Ich hätte nie gedacht, was man aus diesem Prachtstück so alles machen kann. Und Goethe, in aller Stille, kein Wort davon zu Schiller, nur zu sich selbst: das mit der Parricida-Szene – Hut ab, Ziege. Mir geht naturgemäß immer die Rolle der Gertrud nahe, aus Gründen, die dem Datenschutz unterworfen bleiben. Nahe geht mir auch das anstehende Schicksal grün-roter Frauen, die nach der neuen Politquote ihre wohldotierten Stühle räumen müssen für bis dato unbekannte rot-grüne Männer aus den vierten bis neunten Reihen ihrer Avantgarde-Parteien.

1. Februar 2019

Ob ich mir den Briefwechsel von Eva und Erwin Strittmatter gönne, ist keine wirkliche Frage, der gestrige 25. Todestag und die mit ihm verbundene Zeitungsschau führten mir vor, was sich alles auskramen lässt, wenn nur ein Anlass ruft. Im letzten Tagebucheintrag Strittmatters fünf Tage vor seinem Tod heißt es: „Wenn die Atemnot nicht aufhört, möchte ich lieber ganz aufhören.“ Und im nächsten Satz: „Die wunderbare Eva telefoniert umher.“ Sohn Erwin Berner, der den Namen seines Vaters ablegte und sich für sein Buch „Erinnerungen an Schulzenhof“ manche verbale Ohrfeige einhandelte, ist jetzt Mitherausgeber der Briefe und liest auch öffentlich daraus. Mich zieht es nach einem theaterfreien Januar heute nach Weimar, wo man „Wilhelm Tell“ wagt. Die Erinnerung an den Meininger „Tell“ von 2009 ziehe ich aus meiner damals unveröffentlichten Kritik. Meine Notizen zum Märki-„Tell“ auf der Rütli-Wiese mit Thomas Thieme geben leider fast nichts her.

31. Januar 2019

Hätte ich als älteres Kind einen Schulstreik begonnen, um die Welt zu retten, auf Freitag hätte ich ihn keinesfalls gelegt. Ich hatte an Dienstagen die Doppelstunde Sport und anschließend Russisch. Außerdem macht Streik an Freitagen wenig Sinn, wenn man am Sonnabend wieder zur Schule muss, Heute, da Samstage schulfrei sind, spricht viel für Klassenkämpfe am Freitag. Ansonsten bin ich 2018 wieder nicht unter den 500 wichtigsten Intellektuellen gelandet, die der CICERO seit einigen Jahren kürt. Der Trend des Jahres lautet: mehr Denker waren wichtig, weniger Dichter. Die Messlatte heißt Printmedien, da falle ich raus. Nicht einmal FREIES WORT zitiert mich, was schon die Höchststrafe wäre. Vor 100 Jahren, am 31. Januar 1919, starb ein Mann namens Paul Lindau, den Schelme gelegentlich einen Literaturpapst seiner Zeit nannten. Dabei war er zeitweise sogar Chef des Meininger Hoftheaters, von Herzog Georg höchstderoselbst 1895 an die Werra berufen.

30. Januar 2019

Auf dem Dach ihres Studios haben die Beatles heute vor 50 Jahren ihr letztes Konzert gegeben, der Verkehr in London soll rasch zusammengebrochen sein. Das waren noch Zeiten. Jetzt droht nicht der Verkehr in London, sondern der mit London zusammenzubrechen. Es hängt am Backstop. Um den verständlich zu machen, greift das Mittagsmagazin von ARD und ZDF in die Geschichte zurück: Im zwölften Jahrhundert, heißt es zu einer mittelalterlichen Zeichnung unbestimmten Datums, schickten die Engländer protestantische Truppen nach Irland. Das war eine Leistung. 300 Jahre, bevor es überhaupt Protestanten in der Welt gab, schickten die Engländer schon welche nach Irland. Wie machten sie das? Eine unabhängige Historiker-Kommission unter Leitung von Claas Relotius wird den Präzedenzfall untersuchen. Magnus Gottfried Lichtwer, bitte nachschlagen, hat heute seinen 300. Geburtstag. Titel seines Reclam-Buchs „Blinder Eifer schadet nur!“. Wohl wahr!

29. Januar 2019

Als ich gestern, einer leichten Regung schlechten Gewissens folgend, mein Archiv zu Hans von Oettingen befragen wollte, stieß ich auf eine blanke Leerstelle: nichts, kein Blatt, kein Ausdruck, kein Ausschnitt aus einer alten Zeitung. Von der langen Werkliste, die ich bei WIKIPEDIA fand, las ich in meinen jungen Jahren nicht weniger als 19 Titel. Dass er als DDR-Agent gegen Schweizer ausgetauscht wurde 1966, war mir unbekannt. Sein Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin, den ich immer wieder einmal besuche, fiel mir nie auf, obwohl er seit 1983 dort liegt. Dass außer mir noch jemand an ihn dachte anlässlich seines 100. Geburtstages, will ich zu seinen Gunsten gern annehmen. Heute könnte man mit Oettingen-Lesefrüchten beliebte Feuilleton-Rubriken befüllen: was viele gern lesen, aber sich nie trauen würden, zuzugeben. Es war im guten alten Sinne spannend, was er schrieb, wie ideologisch es gefärbt war, habe ich glatt vergessen.


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