Tagebuch

13. November 2019

Um 12.12 Uhr verließen wir letztmalig die nunmehr leere Wohnung meiner Mutter, ich hängte die drei Schlüsselpaare an den Türdrücker der Vermieterin, riet später zum Verkleben des Briefkastens, um unnütze Entsorgungen zu vermeiden. Vom Sperrmüll, der gestern abgeholt werden sollte, ist nur ein Teil verladen worden, der Rest stapelt sich noch immer auf dem Bürgersteig. Genau 47 Tage hat es gedauert bis heute, unser Auto hat als Nachlasstransporter sechs Wochen hart zu tragen gehabt. Zu Hause dann ein seltsames Gefühl: Nie mehr nach Gehren. Nur noch zum Friedhof gelegentlich. Oder wenn ein Klassentreffen ansteht. Zu Hause Fotoalben durchblättert. Meine Mutter hat meine dringliche Bitte, alles zu beschriften, akribisch befolgt, ich besitze nun einen Schatz an Bildern aus der Familiengeschichte bis Anfang des vorigen Jahrhunderts zurück. Nur nebenbei Gedanken an Werner Weber, dessen 100. Geburtstag heute ein lange und doch vergebens geplanter Termin war.

12. November 2019

Meine Mutter hat, wie es Mütter eben so tun, meine Artikel gesammelt und in flachen Schachteln verstaut. So sehe ich beim Sortieren vor der vorletzten Ausfahrt nach Gehren, morgen geben wir die Schlüssel endgültig ab, in geballter Ladung auch all die Sachen, auf denen ich selbst zu sehen bin, denn in der ersten Arnstädter Zeit hatten meine Suhler Bosse wenig Lust, in der neuen Dependance zu repräsentieren: ich übergab die wohltätigen Schecks, ich schaute in die Kamera oder auch nicht. Die Lust nahm später weiter ab. Auch meine Kolumnen finde ich alle und weil nun eben wieder die so genannte fünfte Jahreszeit begonnen hat, stelle ich eine olle Kamelle von 2000 in meiner Rubrik ALTE SACHEN neu ins Netz. Ich denke, ich war wohl einer der wenigen Journalisten im Lokalen, vielleicht der einzige gar, der so lange so regelmäßig eine Kolumne bediente. Das müsste nun nur noch jemandem auffallen, das meiste liest sich, sage ich in aller bescheidenen Eitelkeit, recht gut.

11. November 2019

Hans Magnus Enzensberger, der das Lausbübische im Gesicht auch noch an seinem heutigen 90. Geburtstag nicht verloren hat, gehört zu den Opfern meines nun in der siebenten und finalen Woche sich befindenden Haushaltsauflösungs-Marathons. Ich hätte gern über ihn geschrieben, zumal er für diverse Themen immer gute Vorlagen liefert. So aber: der letzte und brachialste Angriff auf den Nachlass meiner Mutter: mit kräftigen jungen Männern gelangt alles, was niemand will und verwerten kann, auf einen Sperrmüllberg. Das große Bücherregal wird demontiert und bei einem meiner ältesten Schulfreunde neu aufgestellt. Alles, was Holz ist, landet zerlegt und zerschlagen auf einem Haufen, der Brennholz werden möchte. Auslegware wird gerollt, Teppiche ebenso, die ersten Hintergründler umschleichen den Haufen an der Straße schon, ehe wir ihn zu Ende gestapelt haben. Eine alte Stehleiter und ein uralter Riesenkoffer mit Gardinen drin geraten direkt in farbige Hände.

10. November 2019

Fünfzehn Jahre nach dem Tod meines Vaters finde ich in einer Mappe mit sämtlichen Urkunden und Auszeichnungen, neben einer Schachtel mit den zugehörigen Medaillen und Orden, darunter rein gar nichts von Bedeutung oder gar „Höhe“, er blieb ewig Oberlehrer, während junge Spunde längst zum Studienrat befördert wurden, vier runde bunte Scheiben, Durchmesser zehn Zentimeter. Es sind Zielscheiben, auf die mein Vater am 28. September und am 10. November 1943 als Unteroffizier schoss. Er war im Gegensatz zu mir ein guter Schütze. Und ich finde eine vorgedruckte Karte der SED-Kreisleitung Ilmenau mit einem „Glückwunsch zum neuen Jahr“, auf deren Vorderseite der sowjetische Außenminister Molotow zitiert wird anlässlich des fünften Jahrestages der DDR 1954: „Deutschland wird wiedervereinigt werden“. Da hatte er ausnahmsweise einmal Recht, nur kam er eben 35 Jahre zu früh. Das Leben bestrafte ihn trotzdem, es denkt bei Molotow nur an Cocktails.

9. November 2019

Natürlich weiß ich, wo ich war, als Schabowski und so weiter: vor dem Fernseher. Der lokale Rasiersender MDR Jump sendet heute den Sound der Wende, überall plärrt einem das Wort Freiheit entgehen, Marius Müller-Westernhagen verhöhnt mit seiner Edel-Phrase „Freiheit ist das einzige, was zählt“ schätzungsweise zwei Drittel der Menschheit, die auf Freiheit scheißen würden, wenn sie stattdessen etwas zu essen, sauberes Wasser oder auch nur eine benutzbare Toilette hätten und nicht ins Maisfeld kacken müssten, um dort dann von notgeilen Hindu-Männern vergewaltigt zu werden. Wir haben nicht von hiesigen Hartz-IV-Menschen geredet, die mit ihrer fetten Knete die tolle Reisefreiheit oder die tollen SUV-Sonderangebote sämtlicher Autofirmen nicht nutzen können, weil die fette Leberwurst auf dem überlagerten Toast aus der Tafel Kreativität bremst in Haupt und Gliedern. Ich kann Mauerfallbilder von der bunten Seite der Mauer her einfach nicht mehr sehen.

8. November 2019

Nichts von Beruhigung, nach dem Ende des exzessiven Kaufrausches ging es weiter mit dem ganz alltäglichen Kaufrausch. Summiere ich, was an einzelne Versandhäuser (alle natürlich im Westen) gezahlt wurde seitens meiner Eltern, später nur noch seitens meiner Mutter, dann ahne ich, was man mit all dem Geld hätte Schönes und Gutes anfangen können, vor allem die beiden selbst natürlich. Es lohnt die Überlegung, ob dies ein Generationsverhalten war: Not durch extreme Überfülle zu kompensieren. Ich weiß von einer Frau, die Berge von Fleisch in ihren Gefriertruhen bewahrt für fiktive, von ihr vermutlich gar nicht wirklich befürchtete Notzeiten. Abends die zweite katholische Weinverkostung, ein Tropfen besser als der andere. Die erste Hälfte „Das Magazin“ liegt nunmehr in meinem Keller, wo vorher die alten SPIEGEL lagerten, die nun dem Altpapier anheimgefallen sind. Morgen verschwinden in Gehren Schrank, kleines Sofa und Sessel aus dem kleinen Zimmer.

7. November 2019

Ich schreddere Rentenbescheide und gewinne den Eindruck, dass die Deutsche Rentenversicherung wesentlichen Anteil an der Abholzung der Wälder und somit am Klimawandel haben muss. Denn Jahr für Jahr versenden sie pfundweise Papier an Millionen Rentner mit Bescheiden, geänderten Bescheiden, Neuberechnungen, Nachzahlungen, Begründungen der nicht sofortigen Auszahlung von Nachzahlungen, Dokumentation der Zinsen, die aufliefen. Man bekam bei der DRV Zinsen, die heute jedes Sparerherz nahe an die Hyperventilation bringen würden. Anfang 2005 gab es allein 1200 Euro an Zinsen für eine Nachzahlung an meinen Ende 2004 verstorbenen Vater. Immer noch und immer wieder Überraschungen im Nachlass: Totenschein für meine Schwester, Freigabe zur Bestattung ab 20. November 1950, Versandhausrechnungen aus den Jahren eines fast exzessiven Kaufrausches 1991 bis 1993, danach Beruhigung, Ärger über manches Blendwerk der Kataloge.

6. November 2019

200 Kilometer sind es bis zum Buchdorf Mühlbeck. Wir luden am Morgen alle 44 Kisten auf den Transporter, via A 71 und A 38 waren wir gegen 12 Uhr vor Ort. Der Bürgermeister hatte eigens einen zusätzlichen Raum zur Verfügung gestellt für unseren Bücherberg. Angenehmes Gespräch mit der Chefin des Hauses Dorfplatz 15, wir sahen Büchermengen, die sortiert sind, die sortiert werden müssen, leere Bananenkisten für alle Fälle. Heimzu die falsche Richtung auf der A 38, also Umweg. Kaum Zeit, an den 6. November 1994 zu denken, meine allererste Reise nach Brüssel mit der Europäischen Akademie Arnstadt und dem Collegium Jenense, Beginn einer langen, durchaus freundschaftlich zu nennenden Beziehung zu Professor Timmermann, der mich auch später sehr regelmäßig zu seinen Reisen einlud. Am 6. November erstmals im Leben in Aachen. Im Hotel „Gerfaut“ wohnte ich nur dieses eine Mal, Zimmer 304, später war es immer das Hotel „Van Belle“.

5. November 2019

Der Ladestein, der mir gestern vom Herzen fiel, als ich die Kartonberge sah, die für uns gesammelt worden waren, mündete heute in den allerersten entspannten Lesevormittag seit fünf Wochen. Den zweiten Band von Theodor Fontanes Darstellung „Der deutsche Krieg von 1866“ legte ich mir  gestern bereits auf den Arbeitsplatz, Lesezeichen auf Seite 115. Diese Kriegsdarstellung ist nicht im Ansatz mit sonstiger Prosa Fontanes zu vergleichen. Mein Interesse ist allein sachlicher Natur, nachdem ich vor Jahren die Düppeler Schanzen sah in Dänemark und später las, was Fontane dazu schrieb. In Gehren stapeln sich nun für morgen nicht weniger als 44 Bananenkartons voller Bücher, nach den Faustregeln der Kenner an die 1800 Bände. Im Testament meiner Eltern vom 27. Februar 1988 gilt den Büchern ein eigener Punkt, der glücklicherweise nur die Pflichten beider Parteien, nicht meine regelt. Bei den letzten drei Kartons hätte ich heulen müssen, habe aber nur Muskelkater.

4. November 2019

Nach dem Arbeitseinsatz an der Haushaltsauflösungsfront nach unserer Heimkehr heute erst der Text zum Horvath in den Kammerspielen. Ich graste ein wenig nach Regisseur Kruse, den vor Jahren der alte Augstein wegen seiner „Hamlet“-Inszenierung im SPIEGEL abwatschte und der danach 1994 ausgleichend porträtiert wurde. Seit 2002, wenn ich es richtig sah, schweigt sich das Hamburger Nachrichtenmagazin aus über den Hamburger Kruse. Unsere vorwöchige Bitte um Bananenkartons zum Büchertransport fand ein überwältigendes Echo, REWE überbot alles, was wir uns hoffend ausgemalt hatten. Ich freilich kombiniert mit dem Alptraum, dass wir die Ladung nicht sicher verstaut bekommen mangels Kartondeckeln und anhängender Stabilität auf der Ladefläche. Wir füllten und stapelten, das große Regal leerte sich rasant, Restarbeiten für morgen bleiben noch. Wir essen in Gehren und sind noch am Abend satt, als der ZDF-Dreiteiler zum DDR-Ende begann.

3. November 2019

Beinahe hätten wir uns nach dem Theater in einen Laden gesetzt, der 7,80 Euro für ein Glas Wein wollte. Wir flohen und landeten nach Fahrt mit der Kleingruppenkarte am Savigny-Platz, wo uns ein ganzer Liter für 23 Euro kredenzt und für den späten kleinen Hunger Pizzabrot gebacken wurde, das gar nicht auf der Speisekarte stand. Das ist die Art Gastronomie, die der Osten an sehr vielen Orten auch 30 Jahre nach dem und so weiter nicht erlernt hat. Heute schon wieder Heimreise, der ICE kommt pünktlich, handelt sich aber bis Wittenberg 10 Minuten Verspätung ein. In Erfurt sind wird dann schon wieder vorzeitig und haben zur Belohnung keine Einfahrt. Heute wäre Joachim Seyppel 100 Jahre alt, zu dem ich ohne Todesfall ganz sicher etwas geschrieben hätte, schon wegen der dissidentischen Artikelkopien meiner Studienzeit, die aus dem Westen in meinem Ostberlin landeten und noch heute verblassend mein Archiv zieren. Seyppel schrieb auch etwas zu Fontane.

2. November 2019

Natürlich kennen wir in Berlin viele Ecken nicht. Heute führt uns die Familien-Expedition ins Unbekannte nach Kreuzberg. Wir bestiegen selbigen, sahen im dortigen Victoria-Park oben „Das Nationaldenkmal“, von dem wir nie etwas gehört hatten, das Nationale gehört nicht zu den Berliner Lieblingsdingen. Der Wasserfall schon stillgelegt, der Blick auf die Großbeerenstraße lässt sich nicht stilllegen. Anders als Hamburg seinen Bismarck lässt Berlin immerhin sein 1813-Memorial nicht zuwachsen. Wir laufen die Bergmannstraße ab, sehen Nebenstraßen, die wie Kopien aus Karlsbad anmuten. Wir essen in „Rocco und seine Brüder“ überraschend gute Sachen und haben noch genug Zeit, um uns auf den abendlichen Theatergang einzustimmen nebst Vorbereitung. Ich freue mich auf mein erstes Mal „Glaube Liebe Hoffnung“, nach reichlich zwei Stunden ist alle Freude dahin, ich lernte eine Regie kennen, von der ich keine weiteren Proben zu erleben wünsche.


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