Tagebuch

8. August 2019

1999 der erste schwedische Sonntag, Erkundung der unmittelbaren Umgebung, ich fotografierte den Küchentisch, an dem wir frühstücken, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Doppelstockbett im Zimmer für die Kinder, die letztmals beide mit uns in den Urlaub reisten. Ich notierte: „Mein Tee schmeckt anders als in Norwegen sehr ordentlich.“ Was eine Frage des Wassers ist, natürlich. Das Bier im Supermarkt, das frei zugänglich ist, hat etwas mehr Alkohol als das vor vier Jahren in Simrishamn. Die Supermärkte hier sind auch am Sonntag offen, einer von 11 bis 17 Uhr, einer von 9 bis 20 Uhr. Bei uns würden Kirche, Gewerkschaften und Linke im Stechschritt nebeneinander kämpfen, um das auszuschließen. In Berlin bekämpfen die Roten Brigaden derzeit den so genannten „Späti“, damit dessen Umsätze alle konzerneigenen Tankstellen zufließen, die bekanntlich für Shell, Agip oder wen immer Not leiden und deshalb Bockwürste verkaufen müssen. Wir reisen heute schon wieder.

7. August 2019

Der letzte Satz im Tagebuch vom 7. August 1999 lautet: „Unser Anwesen liegt weitab von aller Zivilisation.“ Es war ein typisch rot-weißes Haus, für das in Deutschland keine Versicherung Schutz geboten hätte, es gab wohl einen Schlüssel der altertümlichsten Art, aber die Tür zum Haus hätte jeder ungelernte Einbrecher mit dem feuchten Daumennagel öffnen können. Die schwedische Provinz Blekinge nahm uns für eine Woche auf, ehe wir für zwei Wochen auf der Insel Gotland siedelten. Ich notierte mir Unterschiede zur 97er Anfahrt nach Kiel, in Rostock fanden wir den Hafen schneller, die Nachtfahrt überstand ich gut, nur eine knappe halbe Stunde nach 4 Uhr war anstrengend, die Überfahrt nach Trelleborg funktionierte problemlos, ans schwedische Tempolimit gewöhnte man sich. Unser Schiff hieß „Mecklenburg-Vorpommern“, unser Auto war ein Peugeot, unser Grundstück groß und mit einem extra Kaminhäuschen. Ringsum Wald mit Hasen und Rehen.

6. August 2019

Wiesengrund ist ein Name, bei dem ich zwanghaft an eine gastronomische Einrichtung denke, in der ich neuerdings relativ regelmäßig für sechs Euro so viel essen kann, wie ich will. So viel aber schaffe ich gar nicht mehr, nur Hin- und Rückweg zu Fuß sind gut für den Schrittzähler. Wenn ein lebender Theodor aber zusätzlich Wiesengrund heißt so wie ich Kurt nach meinem in russischer Gefangenschaft im Januar 1945 an Hunger und Auszehrung gestorbener Onkel, dann kann es nur der Adorno sein. Theodor W. Adorno, der heute vor 50 Jahren in der Schweiz starb, wo er Urlaub im feinen Zermatt machte, hat mich nie so bewegt, dass ich mich etwa für das Pseudonym Thea Dorn entschieden hätte, wie es Thea Dorn tat, die eigentlich Christiane Scherer heißt. Man kann Thea Dorn mögen, wie ich es herzlich tue, ohne gleich Adorno mitzumögen. Immerhin bin ich zu der Ansicht gelangt, dass der Top-Scorer der Frankfurter Schule hyperklug über Fernsehen schrieb.

5. August 2019

Wenn ich Klempner wäre, würde ich mich vermutlich eher über undichte Abflussrohre aufregen als über fleckige Blattpfirsiche in einem Dorfladen. Als Journalist aber rege ich mich auf, wenn mir meine ehemalige Heimatzeitung auf einer Seite, die sie dreist Feuilleton nennt, mitteilt, es gebe eine nicht nur neue, sondern gar erstmalige Adele-Schopenhauer-Ausstellung in Weimar, aber weder den Ort der Ausstellung noch die Öffnungszeiten nennt. Früher faselte man wenigstens noch von den Service-Pflichten eines Lokalblattes, heute denkt offenbar niemand mehr an so etwas, weil das Hirn längst gen Rückenmark gerutscht ist auf den Desk-Stühlen. Der letzte Leser wird das Blatt nur noch nehmen, um es gefaltet unter einen wackeligen Tisch zu schieben. Ansonsten heute Vollprogramm: eine mir sehr nahe stehende Dame kurz vor ihrem 91. Geburtstag hört erstmals ihr Parkett knarzen. Nicht, dass es früher nicht knarzte: sie hörte es nur nicht. Jetzt aber testet sie ihr erstes Hörgerät.

4. August 2019

Dortmund hat tatsächlich den ersten Titel der noch gar nicht begonnenen Saison gewonnen. Jena holt sich die vierte Niederlage in Folge, ob die Mannschaft oder der Trainer rausgeworfen wird, ist offen. Wir leben aus den Tiefkühlfächern, es reicht für alle drei Mahlzeiten des Sonntags. Alle Balkonpflanzen haben überlebt, die Orchideen im Arbeitszimmer sind nun endgültig ohne Blüten, zwei tapfere Restblüten im Gästezimmer, trotzige Überlebende. Verabredung für morgen geregelt. Morgenlektüre: Theodor Wiesengrund Adorno, das erste der neun kritischen Modelle, Titel „Wozu noch Philosophie“, der Titel ohne Fragezeichen. Ich sehe den ungeheuren verlegerischen Mut der „edition suhrkamp“, eigentlich schwer verkäufliche Bücher zu einer Reihe zu bündeln. Wer ein Buch mit „Wozu noch Philosophie“ eröffnet, pfeift auf Lesegewohnheiten und ermittelbare Befunde von Leserverhalten. Zeitungen dieser Praxis blieben nach kurzer Zeit ohne Leser, sehr zu Recht.

3. August 2019

Am Abend stehen mehr als 50 gelaufene Kilometer in einer Woche zu Buche, die 23. Berliner Biermeile bringt dabei gar nicht so viel wie gedacht, denn man geht langsam im Gedränge. Zwei neue Gläser, erstmals auch das Band zum Anhängen mit Bajonett-Verschluss. Wir genehmigen uns drei verschiedene Kirschbier nach einem tschechischen Vorglas, lesen hübsche T-Shirt-Aufdrucke: Bitte nicht schubsen, ich trage ein Bier. Expedition ins Bierreich. Frieden mit Bier – wie mag das in bierfernen Volksgruppen wohl wirken? Zwischendrin kostümierte Menschen, viel Musik auf vielen Bühnen. Immer mal ein Blick auf die Fassaden der Karl-Marx-Allee, die ihre ersetzten Kacheln stolz herzeigen und einige einfarbige Fahnen, deren Sinn uns entgeht. Vermutlich Kampfsignale, der Klassenfeind will die Arbeiter- und Bauern-Wohnungen okkupieren, was den Arbeitern und den Bauern in den Quartieren missfällt. Besonders den Bauern. Wir landen abermals pünktlich in Erfurt.

2. August 2019

Plötzlicher Starkregen sieht im Fernsehen deutlich besser aus als in der so genannten Wirklichkeit. Wir stehen lange am Löwentor des Berliner Zoos in dem Unterstand für Bollerwagen, wollten noch die Eisbären besuchen, aber da ging es los wie aus Eimern und Gießkannen in Kombination. Zuvor sahen wir natürlich die Pandas, größten Eindruck machten die Strauße und die Emus, man kennt die Vorlieben seiner Enkel am Ende doch nicht, es sei denn, die Liebe zu Eierkuchen mit Apfelmus. Wir spielen kleine Familie plus Pressekarte, was uns nur 26 Euro kostet. Der zweite Schrittrekord in Folge nach den gestrigen 17166 fällt buchstäblich ins Wasser, eine weitere Stunde im Zoo und der Heimweg zu Fuß hätten ihn locker bewirkt. Wir müssen im Hotel klatschnasse Sachen wechseln, ehe wir erneut von Wieland zu Goethe wandern. Für Sonnabend verabreden wir einen ruhigen Start in den Tag, wir werden beim Bäcker frühstücken. Alle Bieretiketten lösen sich von den Flaschen.

1. August 2019

Als wir dem Ziegenhof in der Danckelmannstraße zuwandern, nutzen wir auch den Horstweg, über dessen Namen wir uns freuen. Der Ziegenhof ist eine Oase mitten zwischen Häusern, ruhig und grün und mit echten Ziegen, echten Hühnern, echtem Spielplatz. Zwischendurch wird die zweite Runde Erdbeer-Marmelade gekocht, feinstpüriert für empfindsame Enkelzungen. Bei „Mein Hoffi“ finde ich weitere unbekannte Biersorten, auf dem Mommsen-Spielplatz lesen wir Sprüche über die hässlichen Kinder der Reichen und geldgeile Schlampen. Tatsächlich zeigen die Kinderwagen auf dem Mommsen, dass die Mütter kein kostenloses Essen für ihren Nachwuchs benötigen, eher weniger Hochmut und flachere Schuhe im Sand. Unser Abendessen nehmen wir auf dem Walter-Benjamin-Platz, der einigen Hohl- und Holzköpfen neuerdings als Anlass für Gehirnakrobatik über rechte Architektur dient. Mein zweiter Beitrag zu Herman Melville heute im Netz: 200. Geburtstag.

31. Juli 2019

Von Primo Levi, der sich 1987 das Leben nahm, steht nur „Das periodische System“ in meiner büchervollen Wohnung, nennenswert gekümmert hat sich um seinen heutigen 100. Geburtstag nur Marc Reichwein, der dafür bezahlt wird. Ich will mich also nicht lange ärgern, dass ich die gute Gelegenheit verstreichen lassen muss, ihm endlich einmal etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Hier ist heute Karls Erdbeerhof in Elstal angesagt, man fährt mit einem Express-Bus hin, der nur so viele Fahrgäste mitnimmt, wie Sitzplätze vorhanden sind, was am Abend dann zu chaotischen Zuständen führt, weil von den zwei Millionen Berlinern, die außer uns auch in Karls Erdbeerhof den Spaß für Kinder haben wollen, tatsächlich nicht alle mit einer Million Autos angereist sind. Es gibt am Nachmittag Stromausfall, der alles lahm legt, was mit Strom betrieben wird, alle Kassen natürlich auch, alle Stellen, wo gebraten und gebacken wird, alles Licht. Lustig nur ohne Enkel.

30. Juli 2019

Diese merkwürdige Bundesbahn. Schon wieder hat sie uns auf die Minute pünktlich nach Berlin gebracht. Unser Stamm-Hotel gibt uns Zimmer 504 zum wiederholten Male. Wir schauen auf den S-Bahn-Spielplatz. Gestern die üblichen Gänge: zu Ambrosetti, zu Mitte Meer, ein kurzer Blick zu unserem Bäcker, bei dem wir heute frühstücken, ein kurzer Gang zu Langer Blomqvist, ich trage Essays von Margaret Atwood und ein Buch über Dostojewski ins Hotel, dazu ein Taschenbuch über Eva Strittmatter. Heute Drei-Spielplatz-Tour: vor dem Essen Goethe mit Wasser, nach dem Essen ganz allein auf dem Spielplatz der Eichendorff-Grundschule, schließlich noch der Karl-August-Spielplatz nach dem Eismichel. Am Ende des Tages 13680 Schritte, mehr waren es seit Anfang März erst dreimal. Renate Feyls Name geriet schon 1965 in die Hamburger ZEIT: in einem Bericht über ihr wenig erfolgreiches FDJ-Projekt mit Jugendlichen in der Ostberliner Karl-Marx-Allee.

29. Juli 2019

Da, wo Herbert Marcuse zeit seines Lebens akademisch und außerakademisch wirkte, schrieb und redete, stand Revolution nie ernsthaft auf irgendeiner Tagesordnung, vielleicht schrieb er deshalb so gern über Revolution. Die so genannte friedliche Revolution in der DDR ermöglichte es seiner sterblichen Hülle, auf den Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin, eben noch Ost-Berlin, zu finden, obwohl er in Starnberg starb. Heute vor genau vierzig Jahren. An seinem Grab stand ich schon. Man kann seine Sachen tatsächlich noch lesen, müsste ihm aber mit ganz anderen Fragen begegnen als seinerzeit, als aus Puddingpulver-Attentätern echte Bombenleger und Mörder wurden und alleweil von Marcuse faselten. Ich bin längst zu Ludwig Marcuse über gegangen, der mit Herbert nur den Familiennamen teilt, sonst nichts. Morgen werde ich an Renate Feyl denken, die 75 wird und keineswegs über sie schreiben. Schon weil ich viel zu wenig von ihr kenne und weiß.

28. Juli 2019

Vor fünfzig Jahren starb in Rostock der einstige Mitbegründer des DDR-Schriftstellerverbandes im Ostseebezirk, Erich Fabian, im Alter von 76 Jahren. Dass er einen Dostojewski-Roman schrieb, las ich eben erst im Lexikon, dass er „Von Puschkin bis Gorki“ schrieb, weiß ich aus meinem Bücher-Regal, wo das Bändchen über neun russische Dichter aus dem heute längst vergessenen Schweriner Petermänken-Verlag nicht ganz unpassend quer über meinen Tschechow-Beständen liegt. Ein Beitrag über Tschechow steht zwischen dem über Tolstoi und dem über Gorki. Das Buch ist auch wegen des Literaturverzeichnisses interessant, weil es auf Texte hinweist, die heute kaum noch jemand kennt. Pikant: Fabian weist auf seinen eigenen Roman als benutzte Quelle hin, auf die Idee muss man erst einmal kommen. Mein zweiter, deutlich längerer Melville-Text ist heute fertig geworden nach dem ersten gestern, ich kann also beruhigt gen Berlin reisen, alle Pflichten erledigt.


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