Tagebuch
17. Januar 2019
Meine Biologie-Hausaufgabe für Freitag, den 17. Januar 1969, lautete: „Welche Voraussetzungen müssen für eine bessere Anpassung an die Umwelt erfüllt werden? Beispiele nennen. Gibt es einen bequemeren Weg?“ Dass an diesem Abend auf dem Ehrenberg ein Studentenclub eröffnet wurde, den ich später über einen längeren Zeitraum sehr regelmäßig besuchte, in dem ich auch Lesungen veranstaltete, wusste ich natürlich nicht. Heute erschrecke ich: 50 Jahre ist das her. In den „bc“ ging man aus Überzeugung, nur dort wurde vernünftige Musik gespielt, „bd“ folgte auf Platz 2. „bh“ und am klarsten „bi“ waren die Clubs, in dem die überwiegend männlichen TH-Studenten, wie man heute sagen müsste, „parshipten“ mit paarungswilligen Ilmenauerinnen. Am 17. Januar 1719 erblickte Johann Elias Schlegel zu Meißen das Licht der sächsischen Welt, noch nicht ahnend, dass er der bedeutendste deutsche Theaterautor vor Lessing werden würde, der ihn später sehr lobte.
16. Januar 2019
Nach den Gesetzen medialer Aufmerksamkeitsökonomie ist das Eintreten des Erwarteten schlicht langweilig. Insofern verblüfft es, wenn sich alle Nachrichten an der „krachenden“ Niederlage von Theresa May festhalten, ehe sie ein paar Dinge nachschieben, die dem Unwichtigsten am Brexit wenigstens etwas feste Substanz unterfüttern. Immerhin erinnert mich das Dauerbeschwören von Untergangs-und Irrwitz-Szenarien an meine schönen Wochen in Ramsgate. Schon 2001 war der Fährverkehr für Personen dort eingestellt, sah der Hafen so öde aus wie jetzt in allen Haupt- und Nebennachrichten. Was da später noch eingestellt werden konnte, ist mir rätselhaft. Weshalb nur reportieren unsere Abendunterhalter eigentlich nie vom Eurotunnel? Dafür sah man aus dem Jahr 1971 einen britischen Professor, der allen Ernstes seinem Kollegen Arnold Toynbee entgegenhielt: Warum sollten uns Frankreich und Deutschland näher sein als Kanada und Australien? Ja, warum?
15. Januar 2019
Am 15. Januar 1999 trat ich meine erste Alleinreise nach Holland an, es war ein Freitag ohne Stau, im Tagebuch lese ich von einer Umleitung kurz vor dem Ziel und von 614 gefahrenen Kilometern. Im LandalGreen Park Aelderholt bewohnte ich den Bungalow Nummer 250 für sieben Tage, das Benzin kostete damals zwischen 1,45 und 1,50 Mark. Heute freuen wir uns über 1,35 Euro. Nach drei Silvester-Touren, einem Sommer-Urlaub sowie zwei Tagestouren von Uelsen (Grafschaft Bentheim) und dem belgischen De Vossemeren aus mein siebenter Holland-Aufenthalt. Inzwischen sind elf weitere hinzugekommen. Seltsame Erinnerungen an Telefonate aus der Telefonzelle, wo die Apparate Gulden schluckten, dass man einen Assistenten zum Nachfüllen brauchte. Es funktionierte auch mit der VISA-Karte, war da sogar etwas preiswerter und ohne Geheimzahl-Forderung, wobei die schottische Bank Umtausch-Gebühren veranschlagte, bis das innerhalb der EU verboten wurde.
14. Januar 2019
Wer zu spät liest, den bestraft das Leben mit verspäteter Freude. Beim Nachblättern in den alten Zeitungen der abgelaufenen Woche stoße ich auf eine vierzeilige Überschrift über einem langen einspaltigen Artikel: „Bestseller in den Ilmenauer Buchgeschäften im Jahr 2018“. Und siehe: ich bin da vertreten. Nicht etwa mit meinem 2018 sogar in einem Ilmenauer Buchgeschäft vorgestellten Shakespeare-Buch, sondern mit „Ilmenau von A bis Z“. Das Büchlein läuft also im dritten Jahr immer noch gut, folgere ich zu meinen Gunsten. Zu meinen Ungunsten muss ich feststellen, dass mir die Namen der meisten Bestseller-Autoren nichts sagen. Wo ich von ihnen schon hörte, muss ich bekennen, von ihnen nie etwas gelesen zu haben, die Ausnahmen sind Landolf Scherzer und Steffen Mensching, auch von Isabell Allende las ich vor 30 Jahren einmal etwas, dann nie wieder. Am 14. Januar 1999 verzeichnet mein Tagebuch 2500 aufgeklebte Bieretiketten: zwei volle Ordner.
13. Januar 2019
Wenn ein lokales Anzeigenblatt und ein gerade um seinen Ruf kämpfendes Nachrichtenmagazin eines Schriftstellers gedenken, den eine breitere Öffentlichkeit zu keinem Zeitpunkt zu den Großen rechnen konnte, weil ihm einfach die dauernde Präsenz fehlte, mit denen sonst die schreibenden Alphatiere sich in den Schlagzeilen halten, dann ist das mindestens bemerkenswert. Der knappe Einspalter im ANZEIGER ist als seltsamer Ausrutscher aus eigenen Üblichkeiten zu akzeptieren, der kaum längere im SPIEGEL ist substanzhaltiger, erwähnt Recherchen über den Verbleib des Bernsteinzimmers, nicht allerdings das daraus erwachsene Buch. Als es 2002 erschien im Verlag meines Freundes Reinhard Escher in Gehren, war ich mehr als nur gelinde erstaunt, dass Martin Stade sich auf solch einen spekulativen Stoff eingelassen hatte. Sein Geburtsort Haarhausen war Bahn-Endstation, wenn mein Vater mit mir in den 50ern Mühlberg besuchte, der Rest mit dem Rad.
12. Januar 2019
Wie es bei Mutti und Vati so zugeht am Sonnabend: Mutti hört in ihrem Bad Deutschlandfunk, während Vati in seinem Bad nichts hört. Am Frühstückstisch sagt Mutti, dass heute vor 50 Jahren die erste Platte von Led Zeppelin erschien. Vati nimmt, nachdem er die Spülmaschine angestellt und die WELT von der Tankstelle geholt hat, Led Zeppelin aus dem Regal, die erste Platte von 1969 steht logischerweise ganz links in der Reihe seiner insgesamt 15 Scheiben, sie enthält neun Titel. Es dauert einen Moment, bis etwas zu hören ist, denn die Anlage verweigert sämtliche Befehle der Fernbedienung, was durch manuelle Betätigung der seit Jahren selten benutzten Knöpfe des Kastens selbst leicht behoben ist. Als Zugabe gibt es „Stairway to heaven“ von Led Zeppelin IV, Mutti muss den Wunsch gar nicht erst äußern. Nur ist beim Überspielen der Titel auf Stick fürs Auto aus Versehen Nummer IV ins Cover von Nummer III gerutscht, kurze Irritation, dann acht Minuten.
11. Januar 2019
Nicht weniger als 87 Straßen in Groß-Ilmenau müssen umbenannt werden, es entschärft auf diesem Wege vier Talstraßen und drei Friedensstraßen. Ich bin ein Betroffener. Denn ich lebte in zwei Friedensstraßen und einer Talstraße. Die Gehrener Friedensstraße bleibt erhalten, in deren Nummer 3 ich meine ersten sechs Lebensjahre verbrachte, die Gehrener Talstraße, in der ich zwanzig Jahre lang mein erstes und einziges eigenes Kinderzimmer hatte, verliert ihren Namen und wird wohl frühestens in zweihundert Jahren in Eckhard-Ullrich-Straße umbenannt. Die Friedensstraße in Pennewitz erlebte mich fünf Jahre als ungemeldeten Untermieter, davon anderthalb Jahre als jungen Vater. Die Pennewitzer Talstraße bewandere ich nur aller Jubeljahre von Dörnfeld her kommend während eines Großfamilien-Treffens, sie wird ihren nahe liegenden Namen ebenfalls verlieren. Die Ilmenauer Talstraße ist mir gleichgültig, seit ich von der Gehrener zu Kopernikus und Kepler zog.
10. Januar 2019
Heinrich Lautensack, der merkwürdige Dichter aus Vilshofen, ist am bekanntesten geblieben mit seinem körperlichen Zusammenbruch bei der Beerdigung von Frank Wedekind, die zu filmen er gekommen war. Am 10. Januar 1919 starb Lautensack in der Heilanstalt Eberswalde. Paralyse ist der Begriff, mit dem sein Sterben in Verbindung gebracht wird. Der zugleich auch den anderen in den Hintergrund treten lässt, der die Ursachen der Paralyse bezeichnet: Syphilis. Lautensack lesen heißt begreifen lernen, wie weit hundert kurze Jahre eine ganze Zeit entfernen können. Eberswalde, ohne diesen Todestag hätte ich wohl nie wieder daran gedacht, war Wirkungsstätte einer Frau, von der ich nur noch weiß, dass sie Großmutter eines Gehrener Nachbarskindes war und in der Pflege von Schwerstbehinderten arbeitete. Schon Andeutungen darüber reichten aus, uns einen Beruf wie diesen für vollkommen undenkbar zu halten. Woher die Kraft vor dem täglichen schreienden Elend?
9. Januar 2019
Als ich 1974 mein erstes Rock-Lexikon in den Händen hielt (rororo Handbuch 6177), las ich über ihn: „als Sohn des Personalchefs einer Industriefirma in Heston geboren“, er hatte also seinen 30. Geburtstag eben frisch hinter sich, denn der fiel auf den 9. Januar 1974. Woraus folgt: James Patrick „Jimmy“ Page wird heute 75 Jahre alt. Das ist für mich viel unfassbarer, als würde Heiner Müller 90, denn auch der ist an einem 9. Januar geboren, hat aber das Zigarrenrauchen nicht so lange überlebt. Page dagegen, der Eric Clapton und Jeff Beck bei den Yardbirds beerbte, dann mit Robert Plant, John Paul Jones und John Bonham Led Zeppelin bildete, ist eine lebende Rock-Legende. Ich sehe ihn immer noch gern auf YouTube, aktuell am liebsten in einer späten „Kashmir“-Aufnahme mit Robert Plant, der im Vorjahr die 70 erreichte. Das alles mitten im ersten Schneetreiben des neuen Jahres, der Schneeschieber gibt den Geist auf, bevor der Parkplatz vollständig geräumt ist.
8. Januar 2019
Mein Reclam-Buch „Die Lebensmaschinerie“ enthält hinten die Notiz „550. RUB 18. 11. 80“, was heißen will: als 550. Reclam-Buch am 18. November 1980 gekauft. Das ist eine von Elke Erb komponierte und mit Nachwort versehene Sammlung aus diversen Büchern Peter Altenbergs. Unter dem Titel „Diogenes in Wien“ hatte erst 1979 der Verlag Volk und Welt Berlin seine zweibändige Auswahl veranstaltet, die aus dem ersten Buch „Wie ich es sehe“ mehr enthielt, aus Platzgründen natürlich. „Wie ich es sehe“ brachte Altenberg 1896 Zuspruch vor allem aus der schreibenden Zunft von Karl Kraus bis Gerhart Hauptmann und legte den Grundstein für etwas, was man heute nur zu gern Kult nennt. In der Sammlung Janowitz des Wallstein Verlags Göttingen gab es dazu 2009 eine gediegene Dokumentation: „Die Selbsterfindung eines Dichters“. Altenberg starb am 8. Januar 1919 in seiner Geburtsstadt Wien. Der freundliche neue Hermes-Bote ist ein Hintergründler mit Wurzeln.
7. Januar 2019
Die Dame mit der grauen Strickmütze, den braunen Stiefeln und der schwarzen Jacke, die sehr regelmäßig, sehr dreist und vor allem rücksichtslos unseren Mietparkplatz zu zwei Dritteln oder wahlweise, wie heute, auch nur zur Hälfte benutzt, um ein rosa verkleidetes Kleinstkind aus dem Kindergarten zu holen, das sie dann rechts hinten in einem protzigen schwarzen BMW, Endziffer des Kennzeichens 888, verstaut, muss eine Dame sonnigen Gemütes sein. Sie parkt dort und so keineswegs nur, wenn alles besetzt ist, die Lieblingsausrede vieler anderer Falschparker, sie parkt stets und ständig da, weil es der ihr bequemste Platz ist. Vernünftig einparken wie andere kann sie vorwärts nicht, dazu ist das Gefährt zu groß, oder es würde zu lange dauern. Deshalb behindert sie gleich noch den fließenden Verkehr mit, zwingt ihm Slalomfahrten auf. Immerhin wendet sie, wenn sie schließlich abrauscht mit mildem Schwung und großem Bogen, nicht erst in der Wendeschleife.
6. Januar 2019
Manche denken heute an jene uralten Zeiten, als herrenlose Könige in Kleingruppen beritten durch die Wüste zogen. Nicht einmal Brecht fragte, ob sie nicht wenigstens einen Koch bei sich hatten. Er setzte es wohl voraus. Durch die Nachrichten geistern Forderungen nach 20 Euro Stundenlohn. Ich gedenke seliger Zeiten, als mir allen Ernstes ein Blatt 15 Euro Pauschale für einen Gerichtsbericht anbieten wollte. Man nannte das damals Stärkung des Lokalen. Heute ist am Lokalen kaum noch etwas zu stärken. Immerhin beantworte ich mir, wenn ich in den Spiegel schaue, die Frage, ob ich, wenn ich jetzt Lokaljournalist mit wenig oder keiner Lokalkenntnis wäre, einen Erfahrungsträger wie mich fragen würde, mit einem klaren Nein. Immerhin führt mich dieser Gedankengang zu Erinnerungen an meine kurze 1990er Einarbeitungszeit in Eisenach: niemals wäre dort jemand losgezogen ohne gründlichen Blick ins Archiv zuvor: er sollte kennen, was bereits gedruckt war.