Tagebuch

1. November 2019

Wir fühlen uns gut aufgehoben in dem Hotel, in dem ich schon namentlich begrüßt werde, nachdem ich die selbsttätige Tür passiert habe. Die Abläufe wiederholen sich: wir stellen unser Gepäck unter, weil das Zimmer erst um 14 Uhr zur Verfügung steht, wir eilen zu unseren Lieblingsgeschäften, ich will endlich meinen Geburtstagsgutschein einlösen und bekomme tatsächlich das Buch zum halben Preis, von dem ich hoffte, es zu finden: den Ehebriefwechsel von Eva und Erwin Strittmatter. Dazu gibt es, ebenfalls zum halben Preis, den ersten Band der neuen Hesse-Briefausgabe: 1881 – 1904. Im Kindergarten werden wir erwartet, in der Schule werden wir erwartet, es ist sehr kalt in Berlin, wir haben nichts hinreichend Warmes mit, aber schon morgen soll es deutlich milder werden. Für uns ist heute ein privater Jubiläumstag. Der 1. November 1979 war der erste Tag unseres ersten eigenen Mietverhältnisses, somit wohnen wir heute seit genau 40 Jahren auf der Pörlitzer Höhe.

31. Oktober 2019

Noch vor der französischen Erstaufführung von Eugene Ionescos „Die Nashörner“ im Januar 1960 gab es die Uraufführung des bis heute berühmten, nur leider kaum noch gespielten Stückes in Düsseldorf unter der Regie von Karlheinz Stroux: am 31. Oktober 1959. Liest man lediglich die knappe Charakteristik des Stückes, wie sie Georg Hensel in seinem monumentalen „Spielplan“ gab, dann staunt man, wie aktuell das ist (und bleibt). Schaut man dagegen am Sonntag ins Kritikportal „Nachtkritik“, gewinnt man (vorige Woche etwa) den Eindruck, es werden überhaupt keine Stücke mehr gespielt, nur Romane, Filme, Projekte kommen auf die Bühnen, fast alle nach einer halben Spielzeit schon so veraltet wie die TAGESSCHAU-Sensationen vom vorigen Dienstag. Wer war doch gleich dieser Rezo, war das dieser dicke Grüne, der immer Wein trank? Nee, das war Rezzo, der Wein in sich als alten Schlauch füllte. Heute die finale Stromablesung am Zähler in Gehren.

30. Oktober 2019

Die Oktoberrente ist auf dem Konto, die TEAG hat in Gehren noch einmal abgebucht, die finale Abrechnung folgt nach dem Zählerablesen zum morgigen Monatsende, ich habe das Formular in Bereitschaft liegen. Den Mietvertrag für unsere Wohnung in der Talstraße 14, datiert auf den 10. November 1959, unterschrieben von Bürgermeister Alfred Koch und meinen Eltern, sehe ich zum ersten Mal, das Mietverhältnis begann am 1. Juli 1959. Vielleicht krame ich gelegentlich in meinen Erinnerungen. Ich fand auch sämtliche Quittungen zum Umzug aus der Talstraße in die Obere Marktstraße, alles in allem kostete es knapp 17.000 DM, teuerster Posten das neue Bücherregal für das kleine Zimmer. Für die Beschieferung der Wetterseite in der Talstraße gab es einst eine Hebung der Miete, ich fand auch einen Antrag auf Mietminderung wegen der Langzeitbelästigung durch die anfallenden Arbeiten. Wahrscheinlich abschlägig beschieden, Missstimmung beendet die Mietzeit.

29. Oktober 2019

Der handgeknüpfte Berber aus dem Gehrener Wohnzimmer wandert in ein Auto mit Rudolstädter Kennzeichen, er siedelt in ein Arbeitszimmer über. Wir liefern zum wiederholten Male bei „Gib und Nimm“, lassen diesmal aber die Kisten und Säcke mit dort, es könnte in einer Woche dennoch eine allerletzte Ladung geben. Ich versuche noch einige Spezial-Bücher loszuwerden, ehe alles in den mittleren Norden geht. Zugleich vernichte ich schweren Herzens Hunderte von Karteikarten mit den Sprachübungen meiner Mutter, alles handgeschrieben, alles mit farbigen Kugelschreiberminen: Englisch, Portugiesisch, Französisch, sogar Polnisch, Schwedisch und vor allem Ungarisch. In den Klarsichtfolien auch landeskundliche Beiträge aus Zeitungen. Zu Hause leistet der Papierschredder Schwerstarbeit: alte Rechnungen für Strom, Gas und Telefon, manches Dokument bekommt eine Gnadenfrist. Die letzte Umsiedlung aus unserer Wohnung in unseren Keller betrifft „Text+Kritik“.

28. Oktober 2019

Morgens werde ich von Eiskratzern geweckt, auf dem Balkon blühen die Blumen noch wie neu mit immer neuen Blüten. Unser Wahlergebnis bringt die Kommentatoren zum Schwitzen. Absehbar war das und wir haben nur die Wahl zwischen Wahlen, bis das Ergebnis irgendwie zufriedenstellt, oder Koalitionen, die undenkbar scheinen. Zweckbündnisse von mehr als drei Parteien wachsen sich zum Normalfall aus, die Griechen hatten kurzzeitig unter Tsipras sogar einmal einen Faschisten in die Regierung genommen, das Abendland ging nicht unter. Unser Landtagsabgeordneter setzte sich am Ende doch noch durch, sein Kompagnon aus Arnstadt nicht. Gerade 20 Jahre ist es her, da die CDU hier die absolute Mehrheit gewann, nachdem Schröder in Berlin als Wahlsieger von 1998 ein volles Jahr Selbstfindung zelebrierte. Die SPD saust von der anderen Seite her auf die Fünf-Prozent-Hürde zu, an der sich mehrere Kleinparteien schon tummeln. Es geht weiter mit kostenlosen Kita-Jahren.

27. Oktober 2019

Zeitig zur Wahl, Beteiligung offenbar gut. Wir begegnen Menschen, von denen wir ahnen, wen sie wählen. Ich darf in meiner Wahlkabine sogar sitzen, weil sie so niedrig aufgestellt ist. Die Fotos vom Klassentreffen trudeln ein. In Gehren finde ich einen Brief der Versicherung, die ich eben noch glaubte, loben zu müssen, weil sie nach meiner Information über den Tod meiner Mutter so rasch handelte und sogar den überzahlten Beitrag erstattete. Nun schickt dieselbe Versicherung meiner Mutter die Beitragsrechnung für die Zeit von Ende Dezember 2019 bis Ende Dezember 2020. In diesen gigantischen Läden weiß die linke Hand nicht nur nicht, was die rechte tut, es gibt offenbar gar keine Hände mehr. Auch zwei Kataloge, deren Absender mir versicherten, die Kundenummer meiner Mutter zu löschen, haben schon wieder neue Kataloge geschickt. Am Abend Abschied vom Tatort aus Luzern, über den neuen aus Zürich im kommenden Jahr werde ich nicht mehr schreiben.

26. Oktober 2019

Die beste Idee war es nicht, meine Bücherspende auf den Tag der offenen Tür in den Ilmkreis-Kliniken zu legen, auch wenn es zuerst ganz gut klang. Es war viel zu viel los, es gab ein Foto in einer Patientenbibliothek, in der die Bücher noch gar nicht aufgestellt waren. Am Nachmittag, wie seit fast einem Monat, wieder Gehren, Demontage von Möbeln in der Küche, Abtransporte zu „Gib und Nimm“ und in die Papier-Container. Frohe Kunde noch kurz vor der Abfahrt: die Fahrt mit dem Kleintransporter ins ehemalige Land der Frühaufsteher findet statt. Jetzt heißt es, Bananenkartons sammeln. Plan für den morgigen Sonntag: ich will mich an das Regal mit den Sprachbüchern machen, das ist das letzte, das ich noch nicht Band für Band sichtete. Am Abend Fahrt zum Gabelbach zum Klassentreffen, ich komme ein wenig zu früh, war nicht der einzige, der 18 Uhr im Terminkalender stehen hatte. Dann aber so viele da, wie länger nicht: wir reden über Pflegefälle.

25. Oktober 2019

Nach dem Schuss in den Ofen mit der Handarbeitsfrau gestern, einem kompletten Missverständnis, heute die Absage aus Kassel: zu viele unserer Bücher stehen in den dortigen Beständen. Wir müssen es glauben. Neuer Versuch in Sachsen-Anhalt: Wir werden alle Bücher auf einmal los, müssen sie aber selbst anliefern und bekommen dafür natürlich nichts. Tut sich das Transportproblem auf, ein Termin ist vorsorglich vereinbart, ein Helfer steht bereit, muss allerdings noch endgültig zusagen. Pünktlich neun Uhr stehen wir am Haupteingang des Krankenhauses, unsere Bücherspende umfasst, wenn ich richtig zählte, 154 Hardcover-Bände, 17 Paperbacks, fast alle voluminös, weshalb einige Kisten benötigt wurden. Die beiden letzten Theatertermine des Jahres 2019 sind fixiert: Horvath in Berlin, Kleist in Leipzig. Telefonat wegen des morgigen Klassentreffens. In Gehren Kleinarbeit für mich, erneute Fahrt zu den blauen Tonnen, es geht viel Glas in die Nachbarschaft, Fortgang morgen.

24. Oktober 2019

Keine Berliner Zeitung heute und kommende Woche ist Feiertag, da gibt es gar keine Zeitungen. Die hiesige hat ein Foto von den Baracken des alten Rates des Kreises, als der noch beengt am heutigen Wetzlarer Platz saß, damals Platz der Widerstandskämpfer. Warum die Zeitung das Wort Stadtpolitik in die Überschrift nimmt, obwohl im Text selbst nur von Kreispolitik die Rede ist, entzieht sich meinem Vorstellungsvermögen. Immerhin: in der mittleren Baracke vorn links bin ich sehr oft gewesen als Kind, dort saß mein Vater als stellvertretender Kreisschulrat, dort saß der gute alte Hugo Bock, der meine spätere Frau in die Haushaltsgeschäfte der Volksbildung einführte. Mir sind die Namen und Gesichter alle noch vertraut, der Sohn des damaligen Kreisschulrates heiratete später eine meiner Mitschülerinnen an der Goetheschule. Der Kreisschulrat selbst lag mit seinem Herzinfarkt wochenlang im Ilmenauer Krankenhaus, ich drei Wochen in der Etage darüber, 1964.

23. Oktober 2019

Zum Verschnaufen zwischendurch ein Reiseblick zurück: am 23. Oktober 2004 fuhren wir nach Ascona, es war unsere elfte Schweizreise. Schöne Ferienwohnung, Locarno zu Fuß bequem zu erlaufen. Ein Restaurant mit Sternen und Überraschungen: der Hauptgang wurde in zwei Teilen geliefert, damit die herrlichen frischen Fische nicht erkalten konnten auf den Tellern, die Suppe zuvor aus den gleichen Fischen: ein Traum, dazu ein edler Aigle. Fünf Jahre zuvor schon wieder der vorletzte Tag auf Ischia. Die gestrigen Fotos gehen nach Kassel, man kauft deutschlandweit, was schon einmal gut klingt. Ich zähle 41 Regalreihen zu 0,85 Meter Stellfläche, was 35 laufende Meter nach alten Bibliotheksmaßen ergibt: Wahnsinn. Zugleich komme ich zu Hause mit Entsorgung der alten Zeitschriften-Bestände im Keller so gut voran, dass die ersten Umzüge nach unten über die Bühne gehen können. Mit gestern schon wieder 20.000 Schritte vom Zähler registriert. Purer Sport.

22. Oktober 2019

Mit dem heutigen Dienstag sind es bis Ende des Monats noch drei Möglichkeiten, Dinge zu guten Zwecken in Gehren abzuliefern, wir sortieren und packen, wir stapeln und schleppen. Nach der Absage aus Wiesbaden, wohin sich unsere Bücherhoffnung richtete, nun ein neuer Versuch, diesmal Richtung Kassel, neue Fotos von den gefüllten Regalen, freundliche Dame am Telefon, Chef nicht da. Es wäre perfekt. Wie immer denke ich nicht an den Markttag und finde lange keinen Parkplatz, Rechnung zur Versicherung, sie wird erst im November fällig, bis dahin ist das Geld aus der Zahn-Zusatzversicherung vielleicht sogar schon auf dem Konto. Besuch im Strickwarengeschäft, Termin vereinbart für eine Besichtigung des Handarbeitsnachlasses. Auch die alten Regale in den beiden Kammern leeren sich. Etliches hat nur die Chance, in den Papiercontainern zu landen, die dort in erstaunlicher Zahl stehen, wo früher der Gehrener Backstein-Hauptbahnhof stand, lang ist es her.

21. Oktober 2019

Der „Woyzeck“ ging doch noch ins Netz in der Nacht, mein dritter nach Eisenach und Coburg, mir kam beim Schreiben natürlich wieder dieser Lehrer in den Sinn, der mich einst nervte, sein dickes Büchner-Buch zu besprechen. Ich sah es dieser Tage wieder in der zweiten Reihe meiner Bestände von Gustav Schwab bis Gottfried Keller, weil ich Platz brauchte für Erbstücke. Die Kontoauszüge meiner Mutter bis Ende 2018 sind geschreddert, es fehlt nur noch der laufende Jahrgang. Einer der roten Ordner stammt aus dem Jahr 1988 und ist Nachlass der Tante meiner Mutter, Sparkasse Gifhorn Wolfsburg, das letzte Blatt mit der Nullstellung des Kontos vom 25. August 1988, anteilige Pflegeheimkosten. Das blieb uns erspart. Nicht erspart bleibt mir der Hinweis auf den heutigen 50. Todestag von Jack Kerouac, über den ich auch geschrieben hätte, wenn das Wörtchen wenn nicht wär. Mit Doris Lessing morgen wird es nicht besser, auch ihr Jubiläum (100) entfällt unter Zwang.


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