Tagebuch
27. April 2019
Es gibt auch Journalisten, die fast 103 Jahre alt werden, in diesem Falle eine Journalistin, was auch sonst. Die LITERARISCHE WELT räumt ihr Platz für gleich zwei Todesanzeigen ein. Das Buch aus Oldenburg ist eingetroffen, das dortige Antiquariat wird im Mai geschlossen. Zu Wochenbeginn telefonierte ich mit der freundlichen Dame, die das Geschäft nun abwickeln muss: 250.000 Bände im Bestand. Wie macht man das? Ein paar Tage lang gibt es noch Sonderrabatte, ich hatte das vor Jahren schon einmal mit einem Haus in München, bei dem ich Stammkunde war. Kündigung ohne Chance, auch nur halbwegs gleichwertige Räume zu finden. Wer außer mir kauft alte Essays? Und wenn wir sieben wären, welchen Grund sollten Verlage haben, immer noch einmal neue zu drucken, die keiner lesen möchte? Ich habe einen ehemaligen Alpha-Chefredakteur mit einer hingepfuschten Buch-Besprechung erwischt, die er sehr dezent im Folgejahr korrigierte. Es freut mich keineswegs.
26. April 2019
Ich schaue mir die Premieren-Übersicht für die nächste Spielzeit in Rudolstadt an, in diesem Jahr sehe ich nichts mehr, bis März dann vier Sachen, wie immer die Premieren selbst nicht. Im Mai geht es noch nach Gera und Dresden, dann noch einmal final nach Weimar. Unsere Fassade ist zum zweiten Male besprüht worden, jetzt mit Hochdruck, vorher war es wohl eine Chemikalie, die das Grüne zu vernichten hatte. Ein Freitag mit anderem Zeitregime. Reifenwechsel ohne Durchsicht, die kommt nach dem Urlaub. Noch hat das Hämmern kein Ende. Ich wiege so wenig wie seit Jahren nicht mehr, nur nehme ich an den falschen Stellen ab. Der Champagner am Abend zeigt uns: wir werden in diesem Leben keine Champagner-Freunde mehr, fast alle Cremants von der Loire, aus Bordeaux, selbst aus dem Elsass munden uns besser. Unter den Geschenken von gestern auch ein Jahrgangssekt, den wir erst einmal ruhen lassen. Ich studiere Alt-Bestände meines Italien-Archivs.
25. April 2019
Während ich, wie verabredet, den allerletzten Tag in Arnstadt nicht mit einem Anruf störe, geht dort der Abschied über die Kellerbühne. Blumen, Geschenke, Geschenke, Blumen, ich sehe alles erst am frühen Nachmittag, kann mir verdrückte Tränchen sehr gut vorstellen. Und auch die hemmungslos geheulten. Die für immer ehemaligen Kolleginnen könnten fast alle Kinder der Scheidenden sein, die seit 1972 zum Haus gehörte, das einst Abteilung Finanzen, nach Abschluss der Lehre Abteilung Volksbildung des Rates des Kreises Ilmenau hieß, später Landratsamt, Umzüge aus der Stammetage in der Krankenhausstraße in die Friesenstraße, zurück in die Krankenhausstraße, dann nach Arnstadt in eine verlustreiche Fusion zweier Ämter. Wir gehen noch zu Bratwurst für mich und zweimal Eis für uns beide in die Stadt, am Ende des Tages stehen auf meinem Armband 15217 Schritte, Rekord bisher. Die Zeitungen der nächsten Woche lasse ich zurücklegen. Die Renteneintrittsreise steht an.
24. April 2019
Wer seine Genossenschaftswohnung eigenhändig verschönernd vom Urzustand entfernte, muss in bestimmten Fällen den Urzustand wieder herstellen. In unserer Nachbarschaft einen Aufgang weiter tun das seit mittlerweile vier oder gar mehr Wochen handwerklich unbegabte und Arbeitsumfänge schlecht abschätzen könnende Amateur-Menschen, indem sie tagaus, tagein zu möglichst maximal unmöglichen Zeiten hämmern, klopfen und hacken. Es klingt, als würde mit dem stumpfesten Meißel nördlich des Äquators und westlich des Urals an Beton gepickert, um selbigen atomweise von der Wand zu bekommen. Immerhin ist eine erkannte Ursache von Lärmbelästigung dämpfend für meine sich intervallartig steigernden Wutanfälle. Ende April, lautet die Hoffnung, müssen sie fertig sein, sonst wird eine weitere Miete fällig. Aus dem Stand, ohne Vorbereitung, nur auf Regal- und Archiv-Bestände gestellt, schrieb ich nebenher 1824 Wörter über einen toten Feuilletonisten.
23. April 2019
Mein Anruf in Arnstadt ist, wenn sich nichts weiter ändert an der allgemeinen Absprache zwischen Alt-Eheleuten, der vorletzte unseres Ehelebens, dem morgen der letzte folgen wird, während übermorgen wegen Abwesenheit der Gattin am Arbeitsplatz infolge umfangreicher Festlichkeiten, die unter Männern Ausstand genannt werden, der Anruf ausbleiben wird. Am Freitag dann köpfen wir den Veuve Clicquot, den ein rühriger Schulausschuss-Vorsitzender seiner rührigen Protokoll-Führerin zum Abschied überreichte. Wir hätten auch einen Cremant de Loire geköpft, aber so geht es keinesfalls schlechter. Die Renteneintrittsreise folgt nicht auf dem Fuße, sie beginnt erst, wenn die Koffer gepackt sind. Ich habe dem Hauptmann in Chemnitz einen Ibsen in Ilmenau folgen lassen, aktweise die Lektüre, und heute einen Altbestand Volker Braun sortiert. In den Zeitungen der Vortage lustige Dokumente von Meininger Kulturbetriebs-Geheimnissen zwischen den Zeilen.
22. April 2019
Ostermontage sind in Italien Tage, an denen die Bürgersteige hochgeklappt werden, Busse und Bahnen ab Mittag die regionalen Dienste verweigern, soweit wir das einst erlebten. Bei uns wandert das Bio-Ilmkreis-Kaninchen, das seit Karfreitag, zerteilt durch eine Geflügelschere, in der sauren Sahne lagerte, in den Bräter, wo es zu einer festlichen nicht-veganen Mahlzeit mutiert, die mit so genannten echten Thüringer Klößen nebst Bohnen von einer vierköpfigen Speise-Gemeinschaft aus drei Generationen vertilgt wird. Es bleibt ein Hinterläufchen für den letzten aller Schladis der Frau an meiner Seite, dem letzten, für Ausländer formuliert, scheißlangen Dienstage. Ganz langsam sind mulmige Gefühle an meiner Seite nicht mehr zu leugnen, das Räumen des Schreibtisches und der Schränke im Amt hat längst begonnen. Die Berliner Craft-Biere haben eine gewisse Neigung, ihre Etiketten erst nach Einsatz einer platinveredelten Rasierklinge freizugeben, ich habe Übung darin.
21. April 2019
Nur zwei Übernachtungen in Chemnitz, der klare Wille, nicht letztmalig hier gewesen zu sein, obwohl die Stadt selbst, dank anglo-amerikanischer Bomben und Sozialismus im nachfolgenden Aufbauwerk, nun nicht direkt zu den urbanen Kleinodien Mitteleuropas gehört. Sie haben da ein Theater, das neugierig machte, einige der Inszenierungen, die ich nun gern gesehen hätte, laufen bis Saisonende leider letztmalig. In der ehemaligen Sparkasse hat man bescheidene sieben Euro zu zahlen, um von oben nach unten sehr viel Otto Dix und sogar Andy Warhol zu sehen, es ist die Sammlung Gunzenhauser, die ich sehen wollte, seit sie 2007 eröffnet wurde. Wann immer ich auf der A 4 an Chemnitz vorbei fuhr, erneuerte ich den stillen Wunsch. Unser Hotel hat eine nette Kooperation mit einem Restaurant, in dem es einen Sekt gibt für Hotelgäste und fünf Prozent noch obenauf, falls man seine warme Mahlzeit dortselbst einnimmt. Sechs Berliner Craft-Biere als Beute.
20. April 2019
Vom Fenster unseres Hotels aus sehen wir den allgemein als „Nischel“ geführten Karl-Marx-Kopf rechterhand, die Galerie „Roter Turm“ linkerhand, den „Roten Turm“ selbst sehen wir natürlich auch. Wir sehen gegen Abend auffällige kleine und größere Gruppen jener Menschen, gegen die die Bösen in den Augen der Guten unverständlicherweise unverständliche Vorurteile haben. Je später die Stunde, um so lauter die Gruppen jener Menschen, was in den Augen der Guten auch die Bösen endlich zu akzeptieren haben. Je früher die Stunde, umso seltener und leiser jene Menschen, unter denen das weibliche Geschlecht deutlich unterrepräsentiert ist, nicht zu reden von all den restlichen Geschlechtern. 1200 Schritte waren es zum Theater, wir saßen auf Plätzen, wie sie in Friedenszeiten nur Gerhard Stadelmaier bekam und sahen zu allem schließlich noch einen wirklich eindrucksvollen Gerhart Hauptmann. Und nahmen uns heute auch die ehemalige Sparkassen-Hauptstelle zum Ziel.
19. April 2019
Mein geschmäcklerischer Geburtstagskalender erinnert mich heute an Stefan Schütz, morgen an Karl-Heinz Jakobs, der eine heute 75, der andere morgen, wenn er noch lebte, 90. Schütz hat, wenn mir nicht sehr viel entgangen ist, nur einmal für so etwas wie Aufregung im Betrieb gesorgt: als er mit seinem Wälzer „Medusa“ höchstes Lob, den Döblin-Preis und auch manchen Hieb einheimste. Sein dramatisches Schaffen wird vornehm übersehen. Als „Der Hahn“ 1990 15 Jahre verspätet in der eben ablebenden DDR gespielt wurde, in Leipzig, überschrieb ein Kritiker seinen Beitrag „Ein zäher Broiler“. Karl-Heinz Jakobs musste einst einen offenen Brief von Hans Christoph Buch über sich ergehen lassen, weil er ausgerechnet für NEUES DEUTSCHLAND eine Reihe von Beiträgen ins Leben gerufen hatte, „Die Sonntagsgeschichte“. Man wusste im Westen immer, was gut war, was man durfte, und was nicht. Ich fahre heute nach Chemnitz und gehe dort nicht nur ins Theater.
18. April 2019
Jean Ziegler, ein Schweizer, möchte den Kapitalismus zerstören. Sein Credo: wir müssen ihn zerstören, eher er uns zerstört. Immer komisch, wenn einem Uralt-Schweizer der Kapitalismus kannibalisch vorkommt. Macht kaputt, was euch kaputt macht, ist übrigens eine ziemlich staubige These, von einem gewissen Norbert Krause verfasst und von einem gewissen Rio Reiser einst in Mikrofone gegrölt. Derweil landauf, landab das alte Kinderbuch „Emil Nolde und die Detektive“ neu interpretiert wird. Man erwägt bereits die Exhumierung von Siegfried Lenz, dessen Roman „Deutschstunde“ im Alt-Westen Zwangslektüre war. Was wäre, wenn Leonardo da Vinci seine Köchin immer „alte Judensau“ genannt und ihr zweimal täglich zwischen die Beine gegriffen hätte? Raus mit der Mona Lisa aus dem Louvre, das Abendmahl zugehängt in Mailand? „Thursday for Future“? Suzie Quatro kommt nach Berlin zum Konzert, mit fast 70 in der guten alten Lederkluft.
17. April 2019
Fast schüchtern die Frage des Landrates, ob er denn das Richtige getroffen habe mit seinem Präsent zu meinem runden Geburtstag, lang ist es her, er hatte das Richtige getroffen: eine Biographie des damals noch lebenden Literatur-Nobelpreisträgers Gabriel Garcia Marquez mit dem Titel „Reise zum Ursprung“. Das voluminöse Buch ist inzwischen in die zweite Reihe gerutscht, der Landrat ist längst ein Ex-Landrat. Garcia Marquez ist heute schon wieder fünf Jahre tot. Ich könnte zum Vergleich einen Ex-Landtagsabgeordneten heranziehen, der mir auch ein Buch schenkte, die Frage aber unterließ, ob er das Richtige getroffen habe, denn er hatte das Falsche getroffen. So geht es. Eine Anfrage aus dem Büro des Oberbürgermeisters, worüber ich mich freuen würde, wird es auch nicht mehr geben. Es gibt eine stuhlgebundene Wichtigkeit, die man verliert, wenn man den Stuhl verliert. Man tröstet sich dann mit anderen Wichtigkeiten, die im So-und-nicht anders-Sein liegen.
16. April 2019
Unfassbar: Notre-Dame in meterhohen Flammen. Die allerersten Fotos, die ich in Paris machte, es war am 17. Mai 2002, waren wie selbstverständlich Fotos von Notre-Dame. In jungen Jahren las ich gefesselt buchstäblich bis zur letzten Seite Victor Hugos „Notre-Dame von Paris“. Im Register steht der Roman als Nummer 500 unter dem Datum des 24. Oktober 1968. Natürlich sah ich Anthony Quinn als Glöckner, Charles Laughton als Glöckner. Unfassbar: Notre-Dame, wie man die Kathedrale kennt, ist nicht mehr. Eigentlich wollte ich heute wenigstens einige Zeilen zu Anatole France schreiben, Heinrich Mann zitieren, Richard von Schaukal zitieren, an meine Dissertation denken, für die ich beinahe einen France-Roman als Material verwendet hätte, weil er Fortschritt thematisierte. Vom Quartier Latin her fotografierte ich am 16. Mai 2003 erneut Notre-Dame, fast auf den Tag ein Jahr später: der hintere Turm, der gestern einstürzte, fast genau in der Bildmitte.