Tagebuch
14. Juli 2019
Angesichts der Lage in den Lüften wie in den Niederungen des rechtsvergessenen Lebens fällt mir dieser schöne Satz ein: „Was irgendein Arschloch toll findet, ist deswegen keineswegs automatisch gleich Scheiße.“ Von mir notiert, während ich Zeitungen nachlas an einem Sonnabend des Herrn, den ich damit beendete, dass ich ein viertel Glas Rotwein über frisch ausgeschnittene Artikel kippte, unabsichtlich natürlich, aber den finalen Tagesablauf in Wisch- und Trockentätigkeiten umlenkend. Es ist erstaunlich, wie sehr sich Rotweinflecke auf Zeitungspapier im Verlaufe eines nächtlichen Trocknungsprozesses aufhellen, man könnte geradezu von Optimismus geschüttelt werden, ein Nebeneffekt ist allerdings begleitend zu akzeptieren: das Papier verliert seine Glätte. Während uns Fotos aus Dänemark erreichen, wo wir tatsächlich einmal bereits einen 14. Juli verbrachten: in Sandkaas auf Bornholm im arg fernen Jahr 1995. Und erleben jetzt schon die erste Rentenerhöhung.
13. Juli 2019
Vor fünf Jahren starb Nadine Gordimer. Ich habe mir auf meinen Arbeitszimmertisch ihre Rede gelegt, die sie zur Verleihung des Nobelpreises an sie hielt. Ich habe auch meine beiden anderen Gordimer-Bücher auf meinen Tisch gelegt, schwarz und schmal, noch aus DDR-Zeiten kommend. Damit hat es sich leider auch schon, denn es rückt ein Jubiläum näher, dem ich Text widmen muss. Meine Archivbestände zum aufregendsten Schweizer, der sogar schon Dramatiker des Jahres war, reichen bis 2005 zurück. Da Lukas Bärfuss auch Romane schrieb, stehen die Theater zwischen Baum und Borke: machen sie aus seinen Romanen Theaterabende oder spielen sie einfallslos einfach nur seine für Bühnen geschriebenen Texte? Heute würde einer der Lieblingsautoren meiner Kindheit, Kurt David, 95 Jahre alt, er starb aber schon 1994, schrieb zum Beispiel „Der singende Pfeil“ und „Tenggeri“ und war, als ich den „Kulturschock NVA“ erlebte, der IM „Hyronimus“.
12. Juli 2019
Es gibt ein neues Medienhobby: Zitteranfälle zählen. Die Kanzlerin zittert, die Journalisten führen Strichlisten und archivieren die Bilder. Ob Kanzlerinnen Strichlisten führen, wie oft Medien zittern müssten, weil sie wieder einmal horrenden Blödsinn verzapften, unsinnige Fragen stellten, dämliche Personaldebatten am Laufen hielten, obwohl sie selbst in Kommentaren ständig das Weg fordern und das Hin propagieren: zu Inhalten?? Die vierte Macht im Staate ist die Macht der Irreführung im festen Glauben, nur alle anderen irren. Nun will ich immerhin noch verspätet Archivauskunft erteilen: der diesjährige Büchner-Preisträger, Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun, ist mir bekannt. Ich war schon in Thun, dort sind mehr Firmen steuerpflichtig angesiedelt als in: wahlweise offen. Als der Preisträger geboren wurde, legte ich eben mein Abitur ab, in Thun nennt man es Matura. Mein natürliches Interesse an 1971 Geborenen erwachte erst spät an meinem Lieblingsfotografen.
11. Juli 2019
Die frohe Botschaft aus Dresden, einfliegend mit einer Zeitung aus Berlin: Lukas Rietzschels Roman von 2018 kommt endlich auf die Bühne. Es wird höchste Zeit, es könnte sonst geschehen, dass er vergessen ist, ehe er die Bühnen eroberte. Des bedeutenden Prager Dramatikers Franz Kafka Stück „Der Prozess“ erobert eben Bad Hersfeld, man sah das wegen des Begleiteklats sogar in den Spätnachrichten. Nun denn, ich finde auch, dass immer noch viel zu viel Plätze in den Spielplänen unserer subventionierten Theater von so seltsamen Dingen wie Tragödien, Komödien, Lustspielen, Lehrstücken oder gar Klassikern besetzt gehalten werden, als ob nicht hinter jeder Telefonzelle ein noch unerprobtes Projekt lauere, nicht zu reden von all den 30.000 Romanen, die Jahr für Jahr aus den Druckereien kommen. Schon die alljährliche Longlist des Deutschen Buchpreises würde, vereint mit einigen Siegern des Prix Goncourt, des Man Booker Prize, auf immer Vorrat schaffen.
10. Juli 2019
Immer wenn ich vom Bücherretter Peter Sodann lese, vermisse ich einen Hinweis darauf, dass er die geretteten Zeugnisse durchaus auch zu Geld zu machen versucht. Es gibt einen Buchhandel auf seinen Familiennamen, bei dem ich schon hie und da etwas kaufte, ich weiß also, wovon ich rede. Und verrate auch, dass bei ihm die Bücher stets sehr preiswert sind. Das hat mit jener Nachfrage nach DDR-Literatur zu tun, die die geretteten Bücher zuvor auf Deponien brachte, wessen voraus oder hinterher eilender Gehorsam das einst auch immer verursachte. Immer wenn ich lese, dass heute niemand mehr Stil habe, nur weil er Musik vom USB-Stick hört statt von der Schellack-Platte, dann sage ich mir: es hält sich unter Stil-Aposteln auch niemand mehr an Versprechen, die er rotzdreist gab. Ansonsten ist, einer alten Zeitung zufolge, der Bäcker Lothar gestorben, was mir die Todesanzeige kaum verraten hätte, die trauernde Lebensgefährtin war meinem Haushalt bekannt.
9. Juli 2019
Wir sehnen uns nach den Tagen zurück, da uns das Hundegebell aus dem Tierheim nervte. Zirka 456mal habe ich darüber nachgedacht, was wohl in den uralten Bundesländern für eine Klagewelle gegen die Stadt laufen würde, hätte die ihr Tierheim in Hörnähe tausender Einwohner eingerichtet. Heute scheint, verglichen mit den beiden Bell-Monstern unter unserem Balkon, das Hundeasyl ein Ort der stillen Einkehr für stumme Vierbeiner, während Paula und Co. bis zu anderthalb Stunden am Stück die Abwesenheit ihrer Herrschaften bekläffen und bejaulen. Besonders Co. scheint voller Trauer, er hebt seinen schwarzweißen Hals fast wie ein echter Wolf und heult den unsichtbaren Mond an, während Paula einfach nur bellt, als zöge eine Karawane von Hundehaltern hinter ihrem Zaun vorbei. Seltsamerweise fallen die anderen Hunde der Nachbarschaft nicht in die Orgie ein, sie sind vielleicht nur einfach nicht allein gelassen. Wenn allein gelassene Menschen heulen würden!
8. Juli 2019
Edgar hat heute seinen Namenstag. Edgar ist der, der seinen Besitz mit dem Speer verteidigt. Seine Uroma wäre geneigt gewesen, ihm etwas für die guten Noten auf seinem Zeugnis zu geben, leider gibt es aber weder gute noch schlechte Noten auf Edgars Zeugnis, weil Edgar in einem modernen Land lebt, das allerdings noch immer eifrig am internationalen Speer-Handel teilnimmt. Am 8. Juli 1809 gewannen die vereinten Österreicher und Braunschweiger bei Gefrees eine Schlacht gegen Truppen Napoleons. Für uns ist Gefrees vor allem Ort eines Getränkemarktes, in dem wir uns gut versorgen, wenn wir in Weißenstadt lustwandeln. Am 8. Juli 1899 wurde in der New Yorker Bronx das Heinrich-Heine-Denkmal von Ernst Herter enthüllt, das die Düsseldorfer nicht haben wollten. Vor Jahren sprach ich in einem Heine-Vortrag ausführlich über diese peinliche Geschichte. Zum Ausgleich schwafeln heute Deutsche über den Berliner Walter-Benjamin-Platz: Rechts-Architektur.
7. Juli 2019
Wobei ein e-Verlust zu registrieren ist, den ich allen hinfortigen Moliére-Inszenierungen dieses seines letzten Stückes dringlich ans Herz legen würde: „Der eingebildet Kranke“ ist die bessere Übertragung. Wir waren zeitig genug in Gera, die freie Platzwahl wirklich nutzen zu können, mit Rudolstädter Erfahrungen gerüstet, was Sitzkissen, Jacken und sonstige Utensilien betrifft. Und hatten auf dem Heimweg auf dem, was manche immer noch Autobahn nennen, wir aber nennen es Vierspur-Baustelle, vergleichsweise freie Bahn. Die heutige SONNTAGSZEITUNG meldet, dass sich die europäischen Sozialdemokraten von der SPD distanzieren, was ich verstehe, nachdem es gleich mehrere entsorgte Kader dieser Partei nicht lassen konnten, ihre durchsichtigen Motive für ihr Offizial-Greinen über Ursula von der Leyen öffentlich zu machen. Jottchen, Sozis, manchmal hilft es, einfach nur die Fresse zu halten. Maul zu und Ruhe. Das Gemaule nervt längst exponentiell.
6. Juli 2019
Beim Fußball ist nach dem Spiel vor dem Spiel. Beim Urlaub ist nach dem Urlaub bloß nach dem Urlaub. Ich zum Beispiel erhole mich vom Urlaub keineswegs nur durch Löschen unnützer Mails, ich blättere den wartenden Zeitungshaufen durch. Da eine Theaterkritik, in der Schaufensterpuppen vorkommen, beängstigend leblos. Mich würden eher lebendige Schaufensterpuppen, nein, doch, auf keinen Fall beängstigen. Die Reiseteile der Blätter auf meinem Arbeitszimmertisch werfen die dann doch beängstigende Frage auf, warum ich keinen Ehrgeiz entwickle, ein handzahmes Krokodil in Gambia zu streicheln oder eine sandige Schildkröte in Abu Dhabi auf den Arm zu nehmen oder zum Gorilla-Tracking nach Uganda aufzubrechen. Ich breche allenfalls zum Gorilla-Tracking in den Leipziger Zoo auf, das hat den Vorteil, dass ich abends noch ins Theater gehen kann, was in Uganda nur eingeschränkt möglich ist. Die Saison 2018/19 beende ich heute mit „Der eingebildete Kranke“.
5. Juli 2019
Zeitig schon ein umgewandelter Arzt-Termin: der Tablettennachschub im neuen Quartal muss gesichert werden. Die junge Dame an Tresen vergisst leider eine Sorte, was ich erst auf dem Weg zur Apotheke merke. Dafür in der Apotheke das seltene Phänomen: alles ist da, nichts muss erst bestellt werden, für nichts gibt es eine Ersatzlösung wegen Rabattvertrages der Krankenkasse. Die Orchideen haben fast alle den Zustand von vorm Urlaub, nur eine fordert den finalen Schnitt. Die Post enthält nichts Aufbauendes oder Erfreuliches, die zu löschenden Mails nur eine sehr dringlich erwartete Nachricht: Pressekarten gesichert. Die zurückgelegten Zeitungen an der Tankstelle und am Kiosk sind alle da, keine Preissteigerung inzwischen. Telefonate, Rückmeldungen. Eine Frau im Warteraum: „Mal sehen, wie weit ich das Portemonnaie heute aufmachen muss.“ Das sagt man, wenn Enkel Zeugnisse bekommen, wie heute in Thüringen. Erstklässler-Zeugnisse sind ohne Noten.
4. Juli 2019
Nachtrag: 6.30 Uhr ist Gepäckladen angesetzt, 6.45 Uhr das Frühstück. Alle sitzen eher am Tisch. Um 7.31 Uhr rollte der Bus vom Hotelparkplatz, Auffahrt Affi auf die Autobahn. Es geht gut durch Italien, es geht gut durch Österreich, erst auf dem Hoheitsgebiet der Raser, der weltweit höchsten Autobahnbaustellendichte beginnt die Stau-Folge des Tages: fünf sind es schließlich, eine von einem brennenden Pkw verursacht, den wir in seiner grauweißen Blech-Blässe noch stehen sehen. Wir verlieren eine reichliche Stunde, ohne das offenbar deutlich bessere Bus-Navi wäre es sicher viel mehr geworden. Wir addieren alle Schrittzähler-Ergebnisse und landen bei verblüffenden 97.461 Schritten, hinzu kommen bis zum späten Feierabend zu Hause noch einmal fast 6000 und das bedeutet: im Schnitt jeden Tag mehr als 10.000. Hinzu etwas Sonnenbrand im Nacken und auf den Füßen. Das Zubringertaxi fährt uns bis vor die Tür nach zwei Entladungen vorher in Heyda.
3. Juli 2019
Nachtrag: Ausgerechnet ein italienischer Busfahrer (Linie LB 027, Abfahrt 11.19 Uhr Richtung Brescia) versucht, uns diesen schönen Urlaub zu vermiesen: er lässt uns nicht in seinen Bus nach Gardone steigen, weil wir vorher keine Fahrkarten kauften und im Bus bezahlen wollen, was wir alle Tage getan haben bis hier. Den Fahrgästen unmittelbar nach uns in der Reihe verkaufte er Karten, uns verweigerte er sie zum zweiten Mal. Ich wünsche ihm bei einer Leerfahrt, damit es nur ihn trifft, eine Frontalkarambolage ohne Hirntrauma als Folge, denn Hirn kann nur bei Existenz Schaden nehmen. In Gardone der wirklich herrliche André-Heller-Garten. In Gardone auch eine Gedenktafel für Oriana Fallaci, deren Bezug mir dunkel bleibt. Meine Fallaci-Bestände aus dem Archiv stehen im Ordner „Italien III“. Die Rücktour von Gardone im Bus nach Maderno völlig problemlos, die Fährfahrt schon mit Abschiedsstimmung. Flucht aus dem Pool, als es wild blitzt.