Tagebuch

10. März 2019

Schon wieder das dritte Frühstück und damit Abreise-Action. Beim Entsorgen des Leerguts fällt eine ganze Batterie gleicher Sektflaschen auf, es gab eine Hochzeitsfeier im Haus, während wir unsere vier Gänge bearbeiteten, eine Mini-Band spielte im anderen Raum zum Tanz auf: Mittwoch, Sonnabend und Sonntag ist hier Schwoof laut Werbung am Hotel. Das hatten wir vor Jahren in Bad Steeben, wo wir stets staunten, wie groß der Tanzeifer sein kann in den oberen Altersgruppen. Aus mir wird in diesem Leben kein Tänzer mehr. Unterwegs bisweilen Regen, nach genau einer Stunde in Ilmenau-West von der Autobahn herunter und noch zwei kleine Erledigungen, ehe sich unser arg gefüllter Kofferraum in den Fahrstuhl ergießen musste. Die Hälfte des Weinvorrates wieder ins Regal, neun von zwölf Bieren aus dem örtlichen Markgrafen-Getränkemarkt bleibt für zu Hause. Aus Dresden noch vor dem Tatort alle guten Wünsche für meinen morgigen chirurgischen Montag.

9. März 2019

Gönne den Gattinnen einen ruhigen Einkauf in der Stadt, dann bist du mit zufriedenen Gattinnen unterwegs. Du kannst währenddessen, den Schrittzähler am Arm, erst in Richtung End wandern, dann zur Reha-Klinik, die bis 1966 eine Lungenheilanstalt war, was auf gute Luft hier schließen lässt und zurück zum Hotel. Ein wenig Lektüre, bis die Tür sich öffnet, die Schnäppchen präsentiert werden, dann kurz entschlossen nach Bamberg. Wir waren 1993 zuletzt in Bamberg, den dortigen überaus berühmten Reiter auf seiner Säule im Dom sahen wir damals gar nicht, jetzt schon. In der Hotel-Sauna schwatzte ich mit einem Mann aus der Heilbronner Gegend über Dampflokomotiven und Thermen. Christa Wolf: „Sozialistisches Bewusstsein für die Masse ist erst bei weitgehender Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu erreichen. Mit Ideen allein geht es nicht.“ Vor 40 Jahren wäre das etwas zum Herumtragen gewesen. Zum Abend das 4-Gänge-Menü. 13393 Schritte sind Hausrekord.

8. März 2019

Wir sind im Zimmer 52 diesmal, eine Etage tiefer als zuletzt, dafür die Zweier-Delegation aus Dresden unmittelbar nebenan und den guten Blick in die Gegend wie gehabt. Den Begrüßungs-Cremant von der Loire haben wir eben noch geschafft, ehe wir zur Mahlzeit schritten. Heute ist die Obermaintherme unser Tummelplatz. Sieben Saunagänge verteilen sich über den Tag, darunter zweimal der Fünf-Sterne-Premium-Aufguss, einmal der Nothelfer. Der volle Parkplatz täuschte, innen verteilte sich alles ganz gut. Wir trieben im Solebecken umher. Mit Christa Wolfs „Moskauer Tagebüchern“ kam ich sogar ein paar Seiten voran. Sie registriert altmodische Kleider in Moskau, aber auch: „Es gibt hier keinen Snobismus, in keiner Sache.“ Max Zimmering, schreibt sie, sei „von einer atemberaubenden Plattheit“. Das ist eine hübsche Formulierung. Peter Huchel ist für sie ein „eitler Fratz“. Das muss Gatte Gerhard als Nachlass-Herausgeber kommentierend zurechtrücken.

7. März 2019

In Deutschland ist dies der Tag der gesunden Ernährung, ich werde sofort, wenn ich im Hotel angekommen bin, das Vier-Gänge-Menü, welches im Preis inbegriffen ist, gleich für heute Abend reservieren lassen, damit wir morgen früh umgehend mit der Gesundheit beginnen können. Ich führe drei Flaschen Cremant mit mir, wir haben auf zwei Geburtstage nachträglich anzustoßen und ich führe ein lustiges Spiel mit mir, weil wir während des Trinkens gern spielen. Es ist ein Spiel, das die Schweizer erfunden haben, die nicht nur bei den Hustenbonbons führend sind. Den morgigen Frauentag verbringen wir mit einer je fünfzigprozentigen Frauenquote. Wir werden uns erinnern, wie wir vor, sagen wir 55 bis 60 Jahren, als Indianer verkleidet Cowboys an südthüringische Bäume banden, um dann ein wenig um sie herum zu hüpfen und krumme Speere schwangen. Ich jagte einst sogar unseren Hahn, in der Hoffnung, er verliere eine seiner Schwanzfedern für den Kopfputz.

6. März 2019

Dies ist der 90. Geburtstag von Günter Kunert, den ich vor allem damit zubrachte, über Günter Kunert zu schreiben. Mein Arbeitszimmer ist zwischendurch fast unwegsam geworden, ich habe Trittbänkchen aufgestellt, Ordner aus dem Regal gezogen, Dateien geöffnet und Schreibmaschinen-Typoskripte gesichtet. Kleinkarierte Blätter aus DDR-Schreibblöcken, auf die ich einst Gedichte abschrieb, jedes Blatt ein Gedicht, Platz für spätere Interpretationen und Bemerkungen, ganze Bände, die sich nicht in meinem Besitz fanden, sind so in meiner Handschrift für spätere Reißwölfe überliefert. Ich schnitt aus, was ich in heutigen Zeitungen fand, es war verblüffend viel, ich druckte aus, was meine e-paper-Zugänge hergaben, es war verblüffend viel. Blätter mit Bezahlschranken boykottiere ich, www.eckhard-ullrich.de hat auch keine Bezahlschranke. Günter Kunert ist knapp vier Monate jünger als meine Mutter. Wie man 90 ist, weiß ich also ziemlich genau, Glückwunsch!

5. März 2019

Wie auch immer: heute jährt sich der Tag der späten Uraufführung der im Jahr 1929 zu Papier gebrachten Posse „Rund um den Kongress“ von Ödön von Horvath. Die einschlägige Literatur hat zwei Jahre im Angebot: 1959 und 1969. Für beide Jahre wird als Haus der Uraufführung das Theater am Belvedere in Wien genannt, es handelt sich dabei um ein Theater, das der Google-Suche tapfer widersteht. Regisseur der Uraufführung war Irimbert Ganser, den ich um seinen Vornamen nicht beneide, auch er widersteht der Google-Suche außerordentlich tapfer. Mit etwas Mühe findet man noch die Namen der für Bühne und Kostüme Verantwortlichen und dann ist schon Feierabend. Immerhin hat der ewige Horvath-Experte Traugott Krischke, den ich um seinen kompletten Namen nicht beneide, eine Uraufführungskritik als Zeitungsausriss in seinem klassischen Dokumentenband veröffentlicht. Zu Rewe und zurück sind es 1200 Schritte, ganz unabhängig von Regen und Sturm.

4. März 2019

Es muss draußen nur regnen und stürmen und schon leidet die Gesundheit. Meine heutigen 3397 Schritte übertreffen die Zahl der Wörter, die ich Gabriele Tergit an ihrem 125. Geburtstag widmete, nur unwesentlich. Der Briefkasten blieb leer, mein Anruf bei einem Weinhändler wegen zweier spanischer Rotweinpakete mit insgesamt vier guten Gläsern als Zugabe brauchte eine gewisse Zeit, ehe ich statt der Dame aus der Warteschleife einen leibhaftigen Menschen am anderen Ende hatte, der zu allem mich auch noch in seinem Computer gespeichert fand, obwohl ich schon sehr, sehr lange bei ihm nichts mehr bestellte. Über Tergit las ich, dass sie für 500 Mark monatlich neun Gerichtsberichte zu liefern hatte, alles darüber hinaus wurde extra bezahlt. Klar, warum die Zeitungen heute ihre Geschäftsstellen schließen und ihre Sekretärinnen entlassen: um den gut bezahlten Qualitätsjournalismus zu retten. Wie war das gleich mit dem Essen und dem Kotzen? 

3. März 2019

Der Kaieteur-Wasserfall im Regenwald von Guayana ist der schönste Katarakt der Welt. Trotzdem hat er nur wenig Besuch. So steht es heute im Reiseteil der Sonntagszeitung. Ich kommentiere: Gut so. Wenn wir mit unserem Geld nicht wohin wissenden Menschen auch noch die letzten stillen Winkel der Erde, so schön sie auch sein mögen, fluten, wenn wir in immer größeren Schiffen, in immer dichter fliegenden Fernfliegern den Rest der Welt auch noch kaputt machen und das nie mit dem ganzen Geschwafel um Klimawandel aus Menschenhand in Verbindung bringen, dann ist uns wirklich nicht mehr zu helfen. In Venedig erwehren sie sich nun endlich des Tagestouristen-Wahns, die wirklichen Venedig-Freunde müssen es leider mit ausbaden. In Florenz sahen wir, wie Kollaps aussieht, wenn die Kreuzfahrer anlegen ohne Zeit für die Uffizien, aber mit einem sensationellen Verdrängungseffekt: man kommt nicht einmal in die Nähe. Meine Coburg-Kritik steht im Netz.

2. März 2019

Es ist entschieden besser, einen Großvater gehabt zu haben, der Reichsjugendführer und Gauleiter in Wien war als etwa einen popligen Drechsler, der als Sozialdemokrat seine Dorf-Musik aufgab, um 1933 nicht in die SA übernommen zu werden und nach dem Krieg in seinem Kaff die KPD neu gründete, mit dem alten Mist gar nicht erst wieder anzufangen. Ariane von Schirach hat es nach kühnen Anfängen im SPIEGEL nicht ganz so in alle Power-Marketing-Schübe geschafft wie der Ferdinand. Der Ferdinand aber, der füllt, kaum hat er ein neues Buch geschrieben, halbe ZEIT-Magazine, ganze WELT-Seiten und fast ganze in der BERLINER ZEITUNG, um nur zu nennen, was mir eben auf den Weg hüpft. Ich weiß am dritten Schrittzähler-Tag den Weg zu den Mülltonnen zu schätzen, den zur Tankstelle sowieso und noch der Weg zum Briefkasten trägt bei zum Wissen, wieder zu wenig gelaufen zu sein. Nach Coburg zu fahren ins Theater, ist auch kein Lauftraining.

1. März 2019

Heute wird Roger Daltrey 75 Jahre alt. Ohne das gestrige ehemalige Zentralorgan ND wäre mir das glatt durch die Maschen gerutscht, zumal ich seit einer Nachtwache wegen Komplett-Ausstrahlung der zweiten WHO-Rock-Oper „Quadrophenia“ ziemlich heftige Interessenverluste bezüglich der Band rückblickend nicht leugnen kann. Selbst als 2001 nur 2001 war und noch nicht Frölich & Kaufmann, erwarb ich von WHO keine nennenswerte Zahl von Scheiben. Immerhin stehen, selten gehört, neben „Quadrophenia“ noch „Odds & Sods“, „Live at Leeds“, „Who’s next“, „The Who sell out“ und „Who are you“ in meinem CD-Regal. Weil das Doppelalbum „Quadrophenia“ zuerst am 19. Oktober 1973 herauskam, muss meine Radionacht irgendwann in den Wochen danach gewesen sein. Den Film von 1979 habe ich, soweit ich mich erinnere, nie gesehen, anders als „Tommy“. Was waren das für Zeiten, als die Mehrzahl aller Titel noch weniger als drei Minuten lang daher kam!

28. Februar 2019

Hotels gratulierten mir zum Geburtstag, Reisebüros und Weinhändler, ein Bundestagsabgeordneter, ein Landtagsabgeordneter, Telefonanbieter boten einen Thermobecher als Geschenk plus Zubehör, ein Buchhändler 15 Prozent Rabatt auf die nächste Bestellung. Freundliche Menschen diverser  Verwandtschafts- und Bekanntschaftsgrade meldeten sich bei mir mit den besten Wünschen, die sie zur Verfügung hatten. Unter meinen Geschenken ein Schrittzähler mit vielen Funktionen, damit ich mittels Bewegungskontrolle jene 79 Kilogramm Lebendgewicht von gestern auch morgen noch halten kann. Nicht weniger als 10.000 Schritte pro Tag sind empfohlen, was eine Menge Holz ist. Immerhin hüpft heute bereits meine fünfte fette Rente aufs Girokonto. Sämtliche Rechnungen sind bezahlt, der Weg in den März soll ein reiner sein. Und der erste Schrittzählertest ergibt exakt 3529 Schritte von der Keplerstraße über Bäcker, Zeitungskiosk und Busbahnhof, die Busfahrt zählt nicht.

27. Februar 2019

Natürlich ist es kompletter Unfug: mit 66 Jahren fängt das Leben an. Nein, es pfeift, sehr günstig gezählt, auf dem vorletzten Loch. Es stimmt auch nicht, dass das Interesse an Gedichten wächst, 99 von 100 Dichtern müssen ihre Bände bei Verlagen selbst bezahlen, der bescheidene Rest tingelt von geförderter Lesung zu geförderter Lesung, um das Absatzmanko zu kompensieren, in der lyrischen Parallelwelt. Meine erste Geburtstagskarte kam gestern, was heute kommt, werde ich sehen. Den Band mit 66 Gedichten habe ich mir verkniffen, den ich heute in den Händen halten wollte. Wenn ich früher an meinem Geburtstag an andere dachte, die diesen 27. Februar mit mir teilen, gab es in schöner Folgerichtigkeit humoristische Mahnungen, wen ich vergaß. Heute nenne ich nur einen neben mir: Karl Scheffler, der 1910 „Berlin – ein Stadtschicksal“ veröffentlichte und sonst etliche andere Bücher. Seiner ist heute der 150. Geburtstag. Meinen 65. 2018 feierte ich noch mit Frank.


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