Tagebuch

6. Oktober 2018

Gut, es gab tatsächlich eine Zeit, da ich Donovan gern hörte. Jetzt aber, wenn Gottschalk die Donovan-Mumie aus der Gruft ziehen, ihr einen Stecker in den Hintern stecken und sie dann zittrig „Hurdy Gurdy Man“ krähen lässt, bekomme ich Schreikrämpfe und flüchte aus dem Wohnzimmer. Gottschalk stellt Claudia Roth die Frage, ob wir immer noch von der DDR reden müssen, findet es aber selbstverständlich, dass wir uns sein ewiges Von-68-Gequatsche anhören. Das alles nach einem netten Tag in Nürnberg, wo wir einen geführten Stadtrundgang erlebten, den Handwerkerhof und das Memorium Nürnberger Prozesse sahen, wieder mit einer informativen Führung. Rechtzeitig noch vor der Wahl verlieren die Bayern zu Hause, was man als Omen sehen darf. Für alle Fledermausfreunde war das auch gestern schon toll: eine Milliarde Wertverlust für RWE geschafft, 4600 Arbeitsplätze in Gefahr gebracht und endlich wieder ins Baumhaus dürfen.

5. Oktober 2018

Wie erzieht man seine Kinder zu gesunder Ernährung? Man geht an einem Freitag mit seinen drei Mädchen zu Aldi, kauft dort zwei Gurken, drei Semmeln und noch einige andere Dinge und bittet dann die Frau an der Kasse, doch die Brötchen zuerst einzugeben, damit die Mädchen sie essen können. Die drei Mädchen, die zuvor noch ausdauernd an den Weinflaschen des Angebotsregals von gestern fummelten, stehen danach, während Mutter und Vater zwei getrennte Rechnungen umständlich begleichen, wie die Eichhörnchen mit der Haselnuss zwischen den Händen, ernsten Gesichtes. Trockene Semmeln waren allzeit willkommene Kindernahrung, ich kenne das aus ganz eigener Erinnerung. Ich biss einst sogar, wenn ich das frische Vierpfundbrot beim Bäcker Nippe zu holen hatte, mitten hinein, was angesichts meiner prinzipiellen Leichtgewichtigkeit toleriert wurde. Vierpfundbrote oder gar solche mit fünf und sechs Pfunden sind ausgestorben wie die Dinosaurier.

4. Oktober 2018

Erstmals erscheine ich als Rentner beim Bäcker und am Zeitungsstand, meine Gegenüber ahnen davon natürlich nichts. Pünktlich zum neuen Status hat die neue Maestro-Girocard ihre Premiere, es funktioniert mit der alten PIN. Die ersten Buchmesse-Beilagen liegen auf dem Zeitungsstapel, die restlichen sind bestellt. Den Literatur-Nobelpreis gibt es 2018 nicht, weshalb in Frankfurt kein Verlag Panik bekommen muss, wenn der Name verkündet wird. Wenn alles klappt, gibt es 2019 zum Ausgleich-Doppel-Panik. Ich habe eine Reise zum nächsten Rentenantritt gebucht, der auf den Kampf- und Feiertag der Werktätigen fällt und aus einer Leserreisen-Werbung die nächste Italien-Tour ausgeschnitten. Nie wieder müssen wir Anfang Januar alle Termine wissen, weil im Amte Urlaubsplanung angesagt ist, wir werden fahren, egal, wer eben Goldene Hochzeit, Kindtaufe oder Schulferien hat in der Familie. An einer Kreuzfahrt mit Florenz-Flutung nehmen wir nicht teil. 

3. Oktober 2018

Nachtrag: Der Feiertag ist gut zum Ausruhen und Ordnen. Ein sehr ärgerlicher Artikel in FREIES WORT zur Wohnungsbau-Genossenschaft. Ich verzichte auf einen Leserbrief. Bei Altlinks und Neulinks jubelt man über die Entlassung von Hubertus Knabe, der über Verfehlungen seines Stellvertreters stolpert, Knabe war die Lieblingshassfigur aller Führungsoffiziere und aller, die zu Schild und Schwert in Nibelungentreue standen. Natürlich ist die Entlassung nicht politisch zu deuten, wir kennen das aus der DDR-Nomenklatura, schwere Leiden waren es da, die über Nacht Leber und Nieren befielen. Der Ilmenauer Wahlkampf hat groteske Züge, weil er sich behilft mit Spitzfindigkeiten statt Argumenten. Mancher Alt-Aktivist aus dem vorigen Jahrtausend scheint nicht nur von allen guten, sondern von sämtlichen Geistern verlassen. In der Mail-Post die Kunde vom Ende des selbständigen Ch. Links Verlages, ein Foto von Christoph sogar im FW-Feuilleton.

2. Oktober 2018

Nachtrag: Es geht nach Hause. Meinen Fontane las ich gestern zu Ende, griff im Bus dann zu einer Hochglanz-Broschüre über die heilige Katharina von Siena. Um 10 Uhr sind wir auf dem Brenner, um 11.25 Uhr passieren wir die deutsche Grenze bei Garmisch-Partenkirchen. Rundum zufrieden mit der Reise, vertraut mit Marmor und Alabaster, neugierig auf Piero della Francesca geworden. Wie dergleichen Zufälle immer ausfallen, kaum habe ich Alabaster-Früchte gesehen, die völlig natürlich wirken, lese ich von solchen beim alten Fontane. Nur ein Marmormitbringsel liegt im Koffer, dazu ein sehr feiner, sehr starker Barolo-Grappa und drei Weine aus der Fattoria Poggio Alloro. Das Transfertaxi bringt uns vom Hermsdorfer Kreuz bis zum Parkplatz in Arnstadt. Zwei Pakete hat die Nachbarin für uns, eins mit den Bänden der Manesse Bibliothek der Weltgeschichte, die Fontanes Darstellung des Krieges von 1870/1871 komplett enthalten. Postsichtung, Telefonate.

1. Oktober 2018

Nachtrag: Auf dem Weg zur Zwischenübernachtung in Arco sehen wir unsere letzte Reisestation Arezzo. Erstmals ist das Wetter umgeschlagen, wir haben sogar kurz Regen. Arezzo ist die Stadt von Francesco Petrarca, von Pietro Aretino, von Giorgio Vasari, der die Loggia an der Piazza Grande noch entwarf, die Vollendung aber nicht mehr erlebte. Es ist der nämliche Vasari, der auch malte und Biografien schrieb, die bis heute gelesen werden, ich besitze seit langem die zu Raffael, Leonardo da Vinci und Michelangelo. Und hatte meine erste Bekanntschaft mit ihm schon als Student. Unsere Stadtführerin ist schwanger und ebenfalls vom Pferderennen begeistert, das hier aber ganz anders abläuft als in Siena. Es wetteifern nur vier Parteien und nicht 17. In Arco beziehen wir das Zimmer 303 im Palace Hotel Cittá in Wurfweite unseres ersten Hotels hier, das aber einen Stern weniger besaß. Wir merken es bei den Mahlzeiten besonders auffallend. Ich bin nun Rentner.

30. September 2018

Nachtrag: Im Dom von San Gimignano ist unter den Fresken eine sehr spezielle Szene zu sehen. Die biblische Geschichte vom trunkenen und nackten Noah erscheint als Bild eines nicht sonderlich nackten Mannes, dessen männlichste Stelle freilich offen und frei liegt. Man könnte auch: baumelt sagen. Auch die Geschichte vom bethlehemitischen Kindermord ist wesentlich blutiger dargestellt, als man sie gemeinhin sieht. Es wird naturalistisch in die Babies gestochen. Auf dem Weg zum „Manhattan der Toskana“ lag ein Stopp am Tempio San Biagio, reiner Fototermin, was nie schlecht ist. Und die zweite Weinprobe der Reise. Unter den Proben ein wahrhaft sensationeller Vernacchia die San Gimignano, in der Qualität kannte ich bisher keinen. Dazu Wurst, Schinken, Käse, alles aus eigener Produktion. Drei Flaschen nehme ich dennoch nur mit und koste zum Abschied statt des Grappas den Limoncello. Es ist mein letzter Abend als Nicht-Rentner, morgen Arezzo und Arco.

29. September 2018

Nachtrag: Das Wetter hält sich immer noch hochsommerlich, vier Leute aus unserer Bus-Gruppe verzichten auf die Tour nach Siena und verpassen so den Höhepunkt in der Reihe der durchweg guten Stadtführungen. Wir hören von den Pferderennen der Ortsteile auf der abschüssigen Piazza del Campo, wir hören von den beiden diesjährigen Siegern, es waren im Juli die „Wölfe“ und die „Drachen“ im August, im Oktober wird ein dritter Sieger hinzu treten. Die „Drachen“ laden alle Verlierer zum Fest, die „Wölfe“ alle bis auf einen: die „Stachelschweine“, denn die sind der Feind. Man muss eine „Wölfin“ gehört haben, um das voller Vergnügen zu akzeptieren. Wir sehen uns San Domenico zweimal an, erst mit Führung während einer Messe eigens für Amerikaner, dann allein, in Ruhe und mit Zeit. Dem ungemein miesen Abendessen von gestern folgt heute ein versöhnlich gutes. Die Zeit vorher reicht für einen Spaziergang, ein alter Mann zeigt allen Passanten Hornissen.

28. September 2018

Nachtrag: Der Weg zum Hotel „Cristina“, wo wir Zimmer 33 beziehen, wird in Pisa und Volterra unterbrochen. Die Einfahrtserlaubnis in Pisa ist nach nur 105 Euro in Lucca mit 200 Euro wieder heftiger, am Ende kommen mehr als 900 Euro nur an diesen Gebühren zusammen. Wundere sich niemand über den Anstieg der Reisepreise. Wir kennen den Campo dei Miracoli schon, erreichen ihn in einer Art von Maidemonstration vor dem Palast der Republik, Massen, Massen, Massen. Die wollen aber nur fotografieren. Wir sehen Baptisterium, Camposanto und Duomo von innen, alles für sieben Euro pro Nase, auf den Torre Pendente steigen wir nicht, das heben wir uns auf. In Volterra beginnen wir die Stadtführung am Etruskertor, hören die leidenschaftlich vorgetragene Geschichte von einer Rettung durch Zumauern. Volterra ist eine echte Entdeckung für uns mit Theater und Therme aus Römerzeiten. Und wie immer hören wir von herzlichen Antipathien gegen Florenz.

27. September 2018

Nachtrag: Wir müssen zeitig aus dem Bett, es geht nach Elba und wir haben die Fähre zu erwischen. Unser Schiff heißt „Moby Blue Two“, es legt in Portoferraio um 10.45 Uhr an. Wir sehen die noble Verbannungs-Villa Napoleons von außen und innen, wir sehen nicht den Ort, wo er seine kleine Privatarmee antreten ließ. Die Insel-Rundfahrt bringt uns nach Marina di Campo, wo wir ein Pasta-Gericht vertilgen und einen halben Liter Vino della Casa. Porto Azzuro ist wie auf Postkarten, man möchte sofort einen Urlaub nur hier buchen. Erinnerungen an Ascona. Das Eis ist hier wie überall einfach sensationell gut. Wir haben uns mittlerweile immer näher mit einem Ehepaar aus Schwedt angefreundet, haben die zufällige Tischwahl im Hotel einfach beibehalten. Die Rückfahrt wieder an Deck, es ist dort wärmer als innen im Schiff, nur ganz leichter Seegang. Im Hotel wird nach dem Abendessen die Schlussrechnung fällig, denn morgen siedeln wir nach Chianciano Terme über.

26. September 2018

Nachtrag: im Netz steht heute mein Text zu Gottfried Kellers „Am Mythenstein“. Wir erleben eine zweistündige Stadtführung in Lucca ohne einen Hinweis auf Heines berühmtes Reisebuch, in dem Lucca kaum vorkommt. Die Stadt ist für uns wie nie gesehen, jetzt haben wir sogar Zeit, auf der Mauer zu spazieren in sommerlicher Hitze. Und vom verpassten Bus 1996 zu plaudern, was damals kaum lustig war. Schon 14.30 zurück nach Forte dei Marmi, es sind nur gut 40 Kilometer bis dahin. So bleibt Zeit, für einen langen Barfuß-Spaziergang am Sandstrand, wir laufen bis zur Seebrücke und weiter, dort irgendwo ist das 96er Hotel zu vermuten. Der Strand fällt flach ab, man kann weit hinein ins Mare Tirreno laufen, einige aus unserer Gruppe baden sogar, das Wasser ist sehr warm. Der Montecarlo Bianco zum Abendmenü ist jung und gut, der Chianti Classico auf dem Balkon ergänzt ihn bestens. Ich komme sogar mit meinem Fontane voran, lese „Schach von Wuthenow“.

25. September 2018

Nachtrag: Kurz vor 10 Uhr erreichen wir den Check Point in Florenz, wo unser Busfahrer nicht weniger als 320 Euro für das Recht zahlt, uns in der Stadt abzuladen. 1996 durften wir noch direkt zur Piazzale Michelangelo fahren, jetzt erst nach der Gebührenerhebung. Der Blick von oben noch immer herrlich. Florenz selbst ein Alptraum an Massentourismus. Was wir vor 22 Jahren als Massen empfanden, gälte jetzt als pure Wohltat. Um auch nur in die Nähe der David-Kopie und des Cellini in der Loggia zu gelangen, mussten wir uns wie Eisbrecher durch das touristische Packeis schieben. Nach der Freizeit bis 16 Uhr besuchten wir ein Weingut in Altopascio, verkosteten einen absurd schlechten Vermentino und zwei ordentliche Montecarlo (Bianco und Rosso). Gut, dass ich von 96  noch die Fotos von den Gräbern in Santa Croce habe, von den Figuren der Uffizien-Galleria, jeder Versuch, dort auch nur die Kamera zu heben, wäre potentiell Kopfstoß mit Körperschadensfolge.


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