Tagebuch

20. Oktober 2018

Kurz vor Toresschluss wird noch ein anonymer Holzhackerbube aktiv, um die morgige Wahl zum Oberbürgermeister zu beeinflussen. Er fährt mit einem handgebastelten Wahlkampfaufsteller im Stadtgebiet umher und beglückt ausgewählte Briefkästen mit einem seltsamen Flyer, in welchem er zwei Kandidaten verunglimpft und den dritten nicht namentlich nennt. Vermutlich soll das heißen, dass der Schelm diesen Dritten unterstützt. Den Grundeinfall realisiert der Mann seit Jahren bei allen Wahlen. Freiheit ist seit Helga Luxemburg immer auch Freiheit der Sich-Selbst-Lächerlich-Machenden. Mein Ersteinsatz als auswärtiger Fensterputz-Helfer verlief glimpflich, ich fiel ohne Leitereinsatz weder auf die Bundesstraße noch nach innen. Was Feinstaub ist, weiß ich nun aus  eigener Wischerfahrung, sammelte man ihn direkt und nachhaltig von Fensterrahmen und –brett, könnte man schon nach wenigen Jahren damit eine eigene Dreckschleuder klimaaktiv befüllen.

19. Oktober 2018

Alexander Held wird heute 60 Jahre alt, man sieht ihn derzeit nur in sehr wenigen Filmen nicht. Ich mag ihn am liebsten, wenn er eine Gelbwurstscheibe aus dem Papier nimmt und ohne Beilage isst. Auch liefert er meiner Arbeitshypothese Belegmaterial, der zufolge Krimis genüsslich vorführen, wie man als fähiger Untergebener unfähige Vorgesetzte ungestraft ignorieren und anblaffen kann, was im wirklichen Leben bekanntlich zur zügigen Überführung des Untergebenen auf den freien Arbeitsmarkt führt. Der Krimi übernimmt für dergleichen Fälle psychotherapeutische Funktionen. Am 19. Oktober 1972 wurde Heinrich Böll der Literatur-Nobelpreis zugesprochen, was bis heute immer wieder von diversen Schlaumeiern als Fehlentscheidung gedeutet wird. In diesem Jahr fiel die jährliche Fehlentscheidung aus, englischen Wettbüros und den Preisträger-Verlagen entgingen diverse Umsätze, die Feuilletons hätten Platz fürs Buchmesse-Gastland Georgien nutzen können.

18. Oktober 2018

Es ist eine alte Geschichte, doch ist sie immer neu. Nein, nicht die mit Liebe und Verschmähten. Ich meine den Zahnarzt. Er hat die Macht, mich einen ganzen Mittwoch lahm zu legen, obwohl er nur 45 Minuten an mir arbeitet. Zwei Betäubungsspritzen, eine Nachspritzung, als ich an einer Stelle kurz zucke, dann geht alles glatt, ich höre nur ein leises Knirschen. Mit zwei Einlagen, die er einem Druckverband vergleicht, schleiche ich den Weg aus der Poliklinik, die schon sehr lange Ärztehaus heißt, bis zu mir nach Hause, dort spuckte ich die Druckverbände lässig aus und versuche, mich mit meiner halbseitigen Gesichtslähmung zu arrangieren. Als das Magenknurren kettenhundartig klingt, schiebe ich eine sehr weiche Banane durch den rechten Mundwinkel in Richtung Schlund. Die Idee, nach gut vier Stunden einen Kaffee zu trinken, scheitert kläglich, die Tasse lässt sich einfach nicht da ansetzen, von wo der Kaffee sonst seinen Weg über meine Zunge nimmt. Er läuft aus mir heraus.

17. Oktober 2018

Vor genau 150 Jahren schrieb ein gewisser Theodor Storm an einen gewissen Theodor Fontane, er würde sich freuen, wenn jener seine eben frisch auf den Markt gekommene Werkausgabe mit einigen freundlichen Worten begrüßen könnte: „Also“, schrieb Storm, „- reden Sie einmal ein Wort von mir; die Verschiedenheit unserer Lebensanschauung braucht ja dabei nicht verleugnet zu werden. Sie können meine ich mit gutem Gewissen ein anerkennendes Wort über die Ausstattung sagen; den – sehr billigen – Preis hinzuzufügen halte ich für sehr nützlich.“ Tatsächlich hat Fontane geschrieben und die Besprechung erschien am 23. Mai 1869 in der „Neuen Preußischen Zeitung“, sieben Monate nach der Bitte des einen an den anderen. Ich will jetzt nicht direkt behaupten, dass das heute länger dauert oder dass die Lebensanschauung eine Rolle zu spielen begonnen hat, nur weil ich schon fast acht Monate auf eine versprochene Rezension warte. Nein, das wäre ungerecht.

16. Oktober 2018

Wäre ich noch ein praktizierender Philosoph, dann nutzte ich heute vielleicht die Gelegenheit, mit Louis Althusser anlässlich seines 100. Geburtstages in aller Form abzurechnen oder aber ihm ein finales Lobliedchen zu singen. Ich bin es nicht, also lasse ich beides. Auch zu Gerhard Wolf will ich mich nicht weiter äußern, der fünf Tage jünger ist als meine Mutter und heute ohne seine Christa den 90. begeht. Dass vor 50 Jahren Freddy Frinton starb und also nicht mehr erleben durfte, wie wir Neugermanen ihn alljahresendlich über den Tiger stolpern sehen und alle begeistert sind, wenn er die Blumenvase leer säuft, ist im klassischen Sinne keine Tragödie, aber ein bisschen ist es schon so. Mich erreicht eine Mail meiner Klassentreffensfreunde und -dinnen mit der revolutionären Nachricht, dass wir ab 2019 nicht mehr am letzten September-, sondern erst am letzten Oktober-Sonnabend zusammentreffen. Vermutlich ist das unsere neue Rentner-Mentalität: wir sind flexibel.

15. Oktober 2018

Der Besuch, für den wir ein zusätzliches Gästebett erwerben wollten, ist längst abgereist, das Bett aber befindet sich auf dem Postweg, sagt die Firma, die es liefert. Also: sagte sie vor einer Woche. Auf welchem Postweg, hat sie nicht gesagt. Vielleicht auf dem mongolischen Teil der Seidenstraße, vielleicht wird das Bett in der Ostukraine umgespritzt, um illegal auf dem estnischen Markt in die Umlaufbahn gebracht zu werden. Zwischen Alfred Döblin und Georg Kaiser steht hinter mir im Bücher-Regal ein ziemlich dicker Band von Maria Waser, die erst Maria Krebs hieß. Sie war eine Schweizerin und erblickte am 15. Oktober 1878 in Herzogenbuchsee das Licht des Kantons Bern. Später lebte sie in Zürich. Zu den Nachwuchsautoren, die sie förderte als Mitglied der Redaktion „Die Schweiz“, gehörte auch Robert Walser, ebenfalls Jahrgang 1878, was die Frage aufwirft, wer wann für wen Nachwuchs ist. Die Geburtstagstorte mit der 90 drauf ist fast komplett aufgegessen.

14. Oktober 2018

Immer, wenn eine uralte Volkspartei, die schon am Krankenbett des Kapitalismus stand, als dieser noch gar nicht wusste, dass er er und es es war, unter die zehn Prozent rutscht, befällt mich ein Schauer. Was, wenn die nun auf einmal wieder auf Revolution setzen oder gar in die außerirdische Opposition gehen, was wird dann aus den Eisbären und dem Aletschgletscher? Derweil unsereins zu Frauenwald, Nordstraße, im „Waldfrieden“ friedlich eine gute Stunde auf das gute Essen wartet und später selbigem noch das hausgemachte Eis folgen lässt, werden weit im freistaatlichen Süden mit hoher Wahlbeteiligung Karten neu gemischt. Die Gesichter der Sieger sehen später nicht sehr viel besser aus als die Gesichter der Abstiegskandidaten in der Nations League. Auf dem Platz ist es fast wie in der Politik: Man spielt eigentlich 87 Minuten gar nicht so schlecht, aber in den drei Minuten, in denen man eben nach dem Knoten im Schnürsenkel schaut, da fallen die Gegentore, drei an Zahl.

13. Oktober 2018

zwei Tage her, aber erst heute kann sich die Groß-Familie drum herum versammeln und den feierlichen Anschnitt begutachten. Vier Generationen an einem Tisch, das ist fast wie in archaischen Kulturen, nur dass dort die Urgroßmutter ein Kopftuch trug, freilich ein mit dickem Knoten unter dem Kinn gebundenes. Und morgen geht es nahtlos weiter: 63. In diesen Oktober-Tagen, wissen die Beteiligten, lag früher schon manchmal Schnee. Heute ist Klimawandel und wenn wir alle schön mit dem Elektro-Auto fahren, dafür kommt die Energie aus der Steckdose und nicht von Atom, Kohle oder Windrad, dann wird es bald auch wieder Flocken geben im Oktober, die jetzigen Urenkel werden es erleben. Grönland wird dann mit Island um den Namen Iceland wetteifern, wobei die Differenzen friedlich ausgetragen werden auf Baumhäusern und mit Puddingpulver.

12. Oktober 2018

Die Olympischen Spiele in Mexiko, am 12. Oktober 1968 eröffnet, waren für mich wie viele andere auch, die Roland-Matthes-Spiele: zwei der neun Goldmedaillen für die DDR gewann er: über 100 und über 200 Meter Rücken. Als Schüler der 10. Klasse an der Goetheschule Ilmenau verpasste ich einen Teil der Spiele wegen einer Klassenfahrt. Von der ich nicht viel mehr in den dunkleren Ecken meiner Erinnerungen finde als den Umstand, dass wir bei der Rückkehr vor dem Hauptbahnhof von zwei Goldmedaillen erfuhren. Es waren die von Manfred Wolke im Boxen und die von Lothar Metz im griechisch-römischen Ringen, dessen Regeln ich nie verstand. Wolfgang Nordwig ergatterte die Bronze-Medaille im Stabhochsprung. Als Nordwig 1972 in München Gold gewann, gratulierte ihm der 68er Sieger aus den USA, Bob Seagren, nicht. Was man sich so merkt. Die Stimme Bernhard Minettis etwa, er starb vor 20 Jahren, als der als alter Faust „Habe nun, ach“ sprach: unvergesslich. 

11. Oktober 2018

Vor zehn Jahren sagte sie, leicht in sich versunken: Achtzig wollte ich eigentlich nie werden. Nun hat sie die 90 erreicht und als sie die Mutter von John McCain im Rollstuhl am Sarg ihres mit 82 gestorbenen Sohnes sah, sagte sie: Wenn man 106 ist, darf man auch im Rollstuhl sitzen. Die Torte mit der 90 drauf ist bestellt, die Plätze in ihrer Wunschgaststätte sind reserviert, das Hauptgeschenk kommt mit Enkeln und Urenkeln aus der Hauptstadt. Vielleicht muss man einen 17. Geburtstag 1945 erlebt haben wie sie, um trotz vieler Krankheiten, schwerer Operationen, Frühinvalidität so alt zu werden und immer noch allein in der eigenen Wohnung leben zu können, wo bis vor acht Jahren der Sohn, seit acht Jahren der Enkel das wöchentliche Einkaufen übernommen hat. Besser hören würde sie gern, besser sehen auch, die Handarbeiten gehen nur noch gelegentlich und schwerer von der Hand. Dass die Zeitungen nicht mehr gratulieren wegen des Datenschutzes, ist ihr sehr recht.

10. Oktober 2018

„Ich stamme aus einer Zeit, in der Balladen den Kindern den Zugang zu der Welt der Dichtung erschlossen, und in der Mütter, sich selbst am Klavier begleitend, sangen, so dass Gedichte zuerst Lieder waren“ – so begann Marie Luise Kaschnitz ihren Vortrag über Eduard Mörike. Natürlich war ihr klar, dass sie von einer ziemlich kleinen, sehr bestimmten Schicht redete, denn als sie geboren wurde am 10. Oktober 1901, da gab es massig Mütter, die mit Mann und mehreren Kindern in einem einzigen Raum schlafen mussten, ein Klavier hätte selbst als Miniatur nirgends Platz gefunden. Immerhin fünf Kaschnitz-Bücher las ich in diesem Jahr schon zu Ende, darunter zuletzt „Griechische Mythen“. Am heutigen Welttag gegen die Todesstrafe denke ich daran, dass unsere hyperaktiven Menschenrechtsfreunde eigentlich nie gegen die Todesstrafe in den USA kämpfen, die dort in grauenvollster Ritualisierung vollzogen wird. Der Welthundetag steht mir katzenmäßig fern.

9. Oktober 2018

Schwer auszudenken, was heute los wäre, wenn Thomas Mann seine Antwort auf Otto Julius Bierbaums Frage nach französischen Einflüssen, 1904 in „Die Zeit“, Wien, gedruckt, in „Die Zeit“, Hamburg, 2018 veröffentlicht hätte. Man lese: „Ich bin nordisch gestimmt, bin es mit der ganzen Bewusstheit, die heute überall in Sachen der Nationalität und der Rasse herrscht.“ Welch ein Shitstorm wäre zu erwarten, wie viele Berg- und Talprediger würden sich in ihre Brüste werfen,  beiderlei Geschlechts und aller restlichen Zuweisungen. Wen würde die herrliche Ironie überhaupt interessieren, die der Autor der „Buddenbrooks“ souverän handhabt: „… in weiteren Kreisen bin ich, glaub ich, als Schilderer guter Mittagessen geschätzt“. Wie komme ich überhaupt darauf? Ach ja, wegen Fontane: „… dürfte man ihn für zweifel- und makellos deutsch erklären?“, fragt Thomas Mann. Theodor Fontane nannte einen seiner frühen Romane hemmungslos einfach „L’Adultera“.


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