Tagebuch
22. März 2019
Vor haargenau 200 Jahren starb in Weimar der Präsident des Staatsministeriums Christian Gottlob von Voigt, geadelt 1807, seit 1794 Geheimer Rat. Als stille Reminiszenz an diesen Tag wählte Johann Wolfgang von Goethe ihn für seinen eigenen Tod, wartete damit aber noch 13 Jahre. Voigts Gattin Johanna Viktoria, geborene Hufeland, verwitwete Michaelis, war bereits 1815 gestorben, Goethes Gattin Christiane Johanna Sophie 1816. Wir verdanken die Herausgabe des Briefwechsels zwischen Goethe und Voigt, insgesamt 2327 Seiten umfassend, dem in Wernshausen (heute Ortsteil von Schmalkalden) geborenen Hans Tümmler, der 1933 flugs in die NSDAP und die SA eintrat, was weder im Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar noch in der drum herum liegenden DDR jemanden sonderlich störte. Die vier Bände erschienen zwischen 1949 und 1962 und sind heute um 100 Euro antiquarisch zu erwerben. Amtliche Briefwechsel muss man allerdings mögen.
21. März 2019
Als sollte meine gestrige These zum Thema linker Faktentreue umgehend bestätigt werden, legt die JUNGE WELT mit der Behauptung nach, Salman Rushdie habe als mittelmäßiger Graphomane den Literaturnobelpreis bekommen, sonst hätte nie jemand von ihm Notiz genommen. Schreibstümper diesen Falls ist Reinhard Lauterbach. Kann es sein, dass dieser Name verräterisch ist? Immerhin liegt auf einer Internet-Liste mit 34 Autoren, die den Literaturnobelpreis nicht bekamen, Rushdie abgeschlagen auf Platz 25. Auf der Liste der Autoren, von denen ich nie eine Zeile las, auf die ich aber neugierig bin trotz allem, liegt Rushdie auf Platz 649. Da sind aber die Autorinnen noch nicht eingerechnet, auch nicht diejenigen, die sich den Diversen innerhalb der Schreibzunft zuordnen. Beim Sortieren alter Zeitungsbeiträge stieß ich auf diese Unterzeile in der FAS vom 14. September 2014: „Ein Verbot von Beipackzetteln könnte jedes Jahr Tausende von Menschenleben retten“.
20. März 2019
Ich müsste mich selbst bedauern, dass ich die taz nur dann lese, wenn sie eine literataz enthält, was nicht sehr oft im Jahr passiert. Heute beispielsweise schreibt ein Jens Uthoff auf der Seite 20, dass der Interzone-Sänger Pudelko ohnehin Fan des österreichischen Schriftstellers Wolf Wondratschek war. Laut Lexikon ist Wondratschek in Rudolstadt in Thüringen geboren, welches sich „Schillers heimliche Liebe“ nennt und zweifelsfrei nie zu Österreich gehörte. Faktentreue ist, das freilich weiß ich, ein eher konservatives Projekt und gilt links als spießig. Steffen Grimberg, den ich leider nicht kenne, nur Klaus Grimberg ist mir bekannt, orakelt in selbiger taz über den Abgang eines der FAZ-Herausgeber und benutzt bei der Gelegenheit die sehr hübsche Formulierung „Binnenpluralität im eigenen Blatt“. Dergleichen irritierte mich einst am „Freitag“, als der noch nicht „derfreitag“ hieß und der Homogenisierung a la Jakob Augstein noch ahnungslos tapfer entgegen blinzelte. Wie ich.
19. März 2019
Die Nebenwirkungen von Medikamenten, die ich einnehme, erregen selten in jedem Detail mein Interesse. Meist ist es besser, die Beipackzettel gar nicht zu lesen, sie verursachen im Spektrum zwischen Todesangst und Minderwertigkeitsgefühlen höchst diffuse Empfindungen. Ein Mittel zum Mundspülen hätte ich im Traum nie verdächtigt. Vielleicht erwischt es mich gerade deshalb. Als ich gestern nach einer Woche Vollabstinenz meinen ersten Schluck Weißwein nehmen wollte, meinen Lieblings-Gascogner, hätte ich fast ausgespuckt. Die Probe Roter aus Kastilien danach schmeckte wie aus einem vergessenen Tetrapack des vorvorigen Jahres. Heute, beim zweiten Kontrolltermin, meine dezente Frage an den Kieferchirurgen: ja, das sei normal, kann ein paar Tage dauern, deshalb soll man es nie länger als einen Monat benutzen. Ich hätte es lesen können: Verfärbung der Zunge und der Zähne: vorübergehend. Geschmacksstörungen: keinerlei Zeitangabe. Mein schöner Wein!
18. März 2019
Christa Wolfs 90. Geburtstag ist für mich ein Montag, da ich kurz nachschaue, wer diesem Anlass nun gar nichts mehr abgewinnen kann. Dann gehe ich nahtlos und leise vorempört zu einer Dame über, die vermutlich vor jedem Pressefoto und mittlerweile auch Auftritt vor Kameras lange vor dem Spiegel steht und übt, wie sie die Haare fallen lassen muss, um möglichst schön auszusehen, wie sie den Kopf drehen muss, um noch schöner auszusehen, ehe sie die Gelegenheit ergreift, eine ihrer granatendämlichen Thesen in die Welt zu sprechen: Kinder seien ein reaktionäres Projekt, Kinder versauen die Klimabilanz. Die Dame ist 1980 geboren und hat sogar promoviert, das aber zeichnet in Deutschland längst niemanden mehr aus. Die Dame ist, was schwerer ins Gewicht fällt, Lehrerin. Gäbe es keine Kinder mehr wegen der Umwelt, könnte uns diese komplett gleichgültig sein. Sie braucht uns nicht, wir sie schon. Welche Schule beschäftigt eine Verena Brunschweiger?
17. März 2019
Immer, wenn ich gestern dachte, jetzt machen die Elstern Mittagspause, oder: sie haben aufgegeben, der Scheißbaum schwankt ihnen zu heftig, da fliegt ja jedes Ei aus dem Nest, wenn es kein Bleiei ist, doch warum sollten normale Elstern Bleieier legen, immer dann sah ich den Fortgang des Baugeschehens und bewunderte diese wackeren Facharbeiter. Bob, der Baumeister mit seinem „Jou, wir schaffen das!“, das bekannte Vorbild unserer Kanzlerin, ist gegen diese beiden Elstern ein armer Pessimist. Meine Hoffnung, am Ende des Sturmes, gegen den Greta Thunberg bis jetzt auch noch kein revolutionäres Rezept gefunden hat, den Brutvorgang beobachten zu können, wird das letzte sein, was stirbt. Ich liebe diese tapferen Elstern, die den überlegenen Krähen die ziemlich kleine Stirn bieten, wenn es darauf ankommt und wünsche ihnen von Herzen alles Gute. Mich bewegt still die bohrende Frage, ob „Saturday for Future“ weniger klimafreundlich wäre als „Friday for Future“.
16. März 2019
Läge Ilmenau auf den Lofoten oder den Orkney-Inseln (wo man sehr anständiges Bier braut nach dem schottischen Reinheitsgebot), könnte man sagen: so ist es halt auf Lofoten und Orkneys: es stürmt, auch wenn es nicht zugleich schneit. Hier aber macht uns der Dauersturm langsam wuschig. Ich werfe eben einen Blick aus dem Arbeitszimmerfenster, aus dem ich das ganze Stadtpanorama erblicke, als ein Vogel ins Blickfeld fliegt, etwas quer im Schnabel tragend. Es ist weder der Ulmer Spatz noch die kleine weiße Friedenstaube. Für einen Spatzen ist der Vogel klar zu groß, für eine Friedenstaube ist der Weißanteil im Federkleid zu gering. Es ist, um es kurz zu machen, eine Elster, also jener Singvogel, über den ich schon einmal schrieb. Er befindet sich mit seiner Partnerin (oder sie mit ihrem Partner) mitten im Nestbau, es sind emsige An- und Abflüge zu verzeichnen, die werkzeugfreie Schnabelarbeit ist stressig. Doch das Nest wird wegen Sturmes einfach nicht fertig.
15. März 2019
Die ersten Buchmesse-Beilagen liegen auf dem Stapel, der Rest ist bestellt. Im Kroatien-Krimi gibt es etwas, das ich mit jeder neuen Folge neu faszinierend finde. In fast allen anderen Krimis sind die jeweiligen Vorgesetzten von mehr oder weniger viel Inkompetenz gezeichnet. Sie haben Angst vor der nächsten Pressekonferenz, dem Polizeichef, dem Innenminister, bisweilen sogar vor der Wahl. Hier aber, in Kroatien, steht die Kommissarin regelmäßig vor einem nur als Realsatire zu deutenden Geronten-Klüngel von Mann-Mumien, dem Aussehen nach noch älter und seniler als der halbtote Präsident Algeriens, der trotzdem nach einer neuen Amtszeit giert. Was für ein albernes Kriminal-Politbüro sitzt da immer inquisitorisch beisammen? Beim Stöbern in meinen umfänglichen Archiv-Beständen zu Christa Wolf stoße ich auf ein Artikelchen, das ich am 17. März 1989 drucken ließ, anlässlich ihres 60. Geburtstags, am Sonntag neu nachlesbar in meiner Rubrik ALTE SACHEN.
14. März 2019
Nachtrag: Die intensive Haus-Betreuung für mich endet mit heutigem Donnerstag. Ich sehe nur noch aus, als wären mir zwei Kaugummi in die Backentaschen gerutscht, es wird einige Menschen geben, die mich schon auf den ersten Blick erkennen. Auf meinem rechten Handrücken zeigt sich ein solider braungelbgrüner Fleck, dort fusionierte die Infusion mit meiner in der Rückenlage befindlichen Leiblichkeit am Montag, was mich zwar bei Bewusstsein ließ, die mich umgebende Welt aber in eine gewisse Drittrangigkeit versetzte. Da die Donnerstagsbrötchen ohne mein Zutun bereits gestern ins Tiefkühlfach wanderten, muss ich heute nur Zeitungen holen, was ich stadtwärts zu Fuß und heimwärts per Bus abwickele. Noch am Montag lag plötzlich massig Schnee, heute nur heftiger Wind, heftiger Nieselregen. Der dicke Ast, vom Wochenend-Sturm bedrohlich nahe unseres Parkplatzes als Gefahr für Nachbars- und KITA-Kinder hinterlassen, ist in zwei Schritten beräumt.
13. März 2019
Nachtrag: Ich setze meine gestern begonnene Hauptbeschäftigung fort: ich döse oder schlafe vor mich hin, nehme weitgehend flüssige Nahrung zu mir. Der Versand meines Fußballgesichts in den Bilderrahmen, den nur die Empfängerin und die sie ebenfalls beliefernden Teilnehmer sehen auf ihrem Smartphone, löst eine Zwergwelle des Mitgefühls aus, ein Rat an die mich betreuende Rest-Urlauberin lautet: mich gut zu verstecken. Ich verstecke mich aber schon selbst. Genannte Rest-Urlauberin genießt morgen in sechs Wochen den letzten Arbeitstag ihres Lebens mit dem, was man früher einen Ausstand nannte, früher, als man zum Aktivisten noch ernannt wurde mit einer kleinen, in Ostmark ausgezahlten Sofortprämie und sich nicht selbst zum Aktivisten kürte, nur weil man ständig mit handgemalten Plakaten herumreist und auf Kamerateams wartet, die die mehr oder minder interessanten Inszenierungen für die Nachrichten filmen. Ich liebe meine Rest-Urlauberin.
12. März 2019
Nachtrag: In der Tat suggeriert mir der morgendliche Blick in den Spiegel den Anblick eines mit mir nicht identischen Menschen mit einem fußballartigen Mondgesicht. Der mir nach meiner gut zweieinhalbstündigen Operation ausgehändigte Beipackzettel kündigt mir Tage der Enthaltsamkeit an: Rauchverbot, Alkoholverbot, die ersten weichen Nahrungsmittel nach dem Ende der Betäubung. Möglichst keine koffeinhaltigen Getränke, Spülen mit Chlorhexamed ohne Nachspülen, morgens und abends ein Mittelchen namens Amoxi-Clavulan Aurobindo. Von dem ich die erste Tablette eine Stunde vor dem Eingriff bereits einzunehmen hatte. Der Verzicht auf Nikotin fällt mir leicht, der Verzicht auf Alkohol, nun ja, nicht ganz so leicht. Statt meines geliebten Schwarztees braue ich mir heute eine Kanne mit Nana-Minze aus Marokko, ein Geschenk aus dem vorigen Jahr, das so endlich die gebührende Ehre erfährt. Ibuflam 600 soll ich nach Bedarf nehmen, ich habe spürbaren Bedarf.
11. März 2019
Zweieinhalb Stunden sind eingeplant für meinen heutigen kiefernchirurgischen Runderneuerungs-Eingriff, ich bin bestens vorinformiert, vorbereitet von Erfahrungsträgern und Tröstern, ich sah jedes Detail auf dem Computerbildschirm, weiß, was wo gemacht wird und wie ich mich fühlen werde. Glücklicherweise gehöre ich nicht zu denen, die vorab den Heldentod aus Angst sterben, ich neige zu einer gewissen zuschaltbaren Schicksalsergebenheit, außerdem werde ich mittels Spritze in einen Zustand überhöhter Toleranz gegenüber der Schlechtigkeit dieser Welt versetzt, weshalb ich abgeholt werden muss, wenn alles vorbei ist, weil den eigenen Beinen in Kombination mit dem eigenen Kopf für eine längere Weile eher weniger zu trauen ist. Vermutlich wird morgen unter Anti-Biotikum, Schmerzmittel und Gesichtsschwellung keine Schreibleistung von mir zu erwarten sein, die der weltweiten Öffentlichkeit zuzumuten wäre, weshalb ich mich auf ein Schweigen einstelle.