Tagebuch
29. Oktober 2018
Man hat sich beeilt in Gera gestern, 15 Minuten Spielzeit gespart, so dass wir etwas eher in den anhaltenden Dauerregen zurückkehren konnten und zum vorläufigen Hochrechnungsergebnis aus Hessen. Mittlerweile kann ich die Sätze der Experten bei Anne Will schon mitsprechen, obwohl ich diesen Experten noch gar nicht kannte, aber er sagte halt, was ich schon sechsmal las. Die Experten sind auch nicht mehr das, was sie mal waren, da halten sie sich auf der Höhe der Volksparteien. Wie auch immer: am Morgen hörte ich im Frühstücksfernsehen, dass es für eine satte 49er Adenauer-Mehrheit doch noch reichte. Unser neuer Oberbürgermeister muss schon am 1. November seinen Dienst antreten, was er nicht wusste. Unser alter Oberbürgermeister wird den Schreibtisch besetzt vorfinden ohne Übergabe, wenn er aus seinem Fernreise-Urlaub wieder an seinem vermeintlichen Arbeitsplatz einrücken will. Unseren OB aber wählen wir Ilmenauer künftig immer ganz extra.
28. Oktober 2018
Als ich am Freitag zu später Stunde von Meiningen gen Ilmenau fuhr, die endlose 80er Zone also, überholten mich mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit exakt drei Fahrzeuge, das erste mit dem Schweizer Kennzeichen AG für Aargau, das zweite mit dem Schweizer Kennzeichen ZH für Zürich, das dritte mit dem Kennzeichen SÖM für den Thüringer Kanton Sömmerda. Würde ich mit meinem durchaus flotten Fahrzeug in der Schweiz so schnell fahren wie diese Schweizer bei uns und dazu so unbeeindruckt von den an den Straßenrändern stehenden Schildern, würde ich wohl jedes Mal in die Schweizer Bußgeldgeschichte eingehen und nennenswerte Teile der dortigen Kantonshaushalte tragen, hier aber ist Raserland. Heute reisen wir vorbildlich nach Ostthüringen, vorbildlich auf den Theatergang vorbereitet, final las ich eben noch „Burleske“ aus Max Frischs Tagebuch von 1948. „Biedermann und die Brandstifter“ sah ich zuletzt 2014, es ist also hohe Zeit für frischen Frisch.
27. Oktober 2018
Drei Stunden Schiller gestern, eine späte Heimkehr folgerichtig, eine längere Auslaufkurve bis zur nötigen Bettschwere. Gut, dass wir in dieser Nacht eine Stunde geschenkt bekommen, nachdem sie uns im März gestohlen wurde. Ich bekomme nicht gern Diebesgut zurück, am liebsten werde ich gar nicht erst beklaut. Deshalb finde ich die Idee einer durchgehenden Sommerzeit dämlich, ich bin für durchgehende Normalzeit. Immerhin, wenn ich morgen aus Gera zurückkehre, einen hoffentlich soliden Max Frisch gesehen habend, dann ist es noch gar nicht so spät wie es aussieht, obwohl es so dunkel sein wird, wie es eben dunkel ist um diese Jahreszeit. Im April 1878 schrieb Fontane, der schon wieder: „Um den Karl Moor zu spielen, muss man an ihn glauben. Aber welcher gebildete Mensch kann das. Fände sich einer, so tut er mir leid. Im Leben wird jede Kraftmeierei verlacht; auf der Bühne sollen wir sie nach wie vor pietätvoll hinnehmen.“ Ehrlich: ich ziehe „Maria Stuart“ vor.
26. Oktober 2018
Als ich am 26. Oktober 1993 in Verona Renzo Chiarellis „Neuen praktischen Führer von Verona“ für bescheidene 6000 Lire kaufte, war dieser noch neu, fünf Jahre später, am 25. September 1998, verzichtete ich auf den Erwerb einer neuen Broschur, obwohl ich die alte in Ilmenau vergessen hatte. Meine ersten Fotos zeigen San Zeno Maggiore, außen, innen, unten, den Kreuzgang. Wie viele Kreuzgänge sahen wir seither. 1998 fuhren wir bei Regen in Garda los, erwischten dann aber einen sehr schönen Verona-Tag. Sehe ich die wenigen Bilder, auf denen ich selbst bin, dann meine ich, mir schon etwas anzusehen vom nahen 30. Oktober: ein wenig in mich gekehrt, ein wenig wie unterdrückt leidend. Das bilde ich mir natürlich nur ein, weil ich weiß, was passierte nach unserer Rückkehr vom Gardasee. Das ist wie bei Fontanes „Schach von Wuthenow“: weil alle wissen, dass Jena-Auerstädt folgte, glauben sie an die Genialität der Projektion. Fontane wusste nur, was kam.
25. Oktober 2018
Der Blick geht 25 Jahre zurück: unsere dritte Italien-Reise, mit vier Übernachtungen die bis dahin längste. Abfahrt 5 Uhr am Ilmenauer Hauptbahnhof, der damals noch so hieß, es war eine Reise mit dem Thüringer Reisedienst, den es damals noch gab, das Ausflugspaket kostete zusätzlich 60 Mark. Das Hotel Zanella in Nago hatte früher den Namen „Gasthaus zu den zwei Gänsen“, weshalb an der Fassade sicherheitshalber 18 Gänse (mehr zeigt das Foto nicht) prangten. Auf dem Hinweg ein Halt im Zillertal, kurz nach 17 Uhr passierten wir den Brenner-Pass und sahen Schnee. Aus unserem Hotelfenster im Dunst Berge und ein Glockenturm mit der Uhrzeit 19.35 Uhr. Alles in allem waren wir so an die 14 Stunden unterwegs. Die Zubringer-Logistik steckte noch in den Anfängen, die Busse sammelten ihre Gäste noch selbst ein. Den privaten Liegeplatz des Hotels am See in Torbole konnten wir nicht mehr nutzen, auch den Pool im Innenhof nicht, es war nicht mehr warm genug.
24. Oktober 2018
Sieben Tage vor der ersten Rentenzahlung habe ich mir ein vergleichsweise teures Geschenk gegönnt. Wie oft ich es nutzen werde, will ich mir noch gar nicht ausmalen, denn es bedient zuerst ein nostalgisches Bedürfnis. Als ich in die intensivere Phase der Erarbeitung meiner Doktorarbeit trat und alleweil nach Berlin fuhr, um in der Staatsbibliothek Unter den Linden zu arbeiten, war ich immer sehr froh, dass das „Historische Wörterbuch der Philosophie“ so weit gediehen war, dass die mich am meisten interessierenden Stichwörter schon im Druck vorlagen. Die einzelnen Bände, in der DDR ohnehin nicht greifbar, waren für meinen Horizont unfassbar teuer. Mit dem Sohn des Hauptherausgebers Joachim Ritter, Henning Ritter, hatte ich einen freundlichen Mail-Wechsel, allerdings nicht zum Wörterbuch seines Vaters und viel später. Jetzt gehört das gesamte Werk auf CD-ROM zu meiner privaten Bibliothek, und das ausgerechnet noch am „Tag der Bibliotheken“.
23. Oktober 2018
Ich will nicht orakeln, in wie vielen und speziell welchen Wahlkämpfer-Unterhosen es gegen 19 Uhr am Sonntag zu spontanen Samenergüssen kam. Ich will auch nicht kommentieren, was es bedeutet, wenn der Wahlsieger nun laut gestriger Tageszeitung nicht weiß, wie es weiter geht und auf einen Brief aus dem Rathaus wartet. Es darf auf keinen Fall ein Brief mit verdächtiger oder gar gefälschter Unterschrift sein. Von den fünf Unterstützergrüppchen hat ja nur eine und die wiederum auch nur in zwei, drei Vertretern und den nachgeordneten Leserbriefschreiber-Abteilungen aktiv bis hyperaktiv gerungen. Diese eine Gruppe wird nun zum Lohn wohl den Bürgermeisterposten haben wollen, den 28 Jahre lang die SPD (wer war das gleich?) innehatte und das keineswegs schlecht. Die CDU wird sich rasch vom Teil-Fatalismus verabschieden müssen, soweit er mit dem Begriff Gegenwind operiert. Der Journalist, für den 51,4 Prozent knapp 51 sind, sollte sich coachen lassen.
22. Oktober 2018
Nicht 50 Prozent aller Ilmenauer hatten das Bedürfnis, ihren neuen Oberbürgermeister zu wählen. Es siegt ein Zugezogener, dem der längst vergessene Piraten-Partei-Hype überregional Schlagzeilen brachte: als Frontmann von Pro Bockwurst. An ihm selbst ist nichts auszusetzen, der Alptraum für die Stadt sind seine Unterstützer, die selbst über kein präsentables Personal verfügen, aber auf die Lampe hauen und übers Feuerchen hupfen wie Rumpelstilzchen. Im kommenden Jahr werden die Kommunalwahlen Vertreter der Kernstadt Ilmenau weitgehend aus dem Stadtrat vertreiben, die Prognose lässt sich schon der jetzigen Zusammensetzung leicht ablesen: winzige Ortsteile haben mehr Repräsentanten im Rat als zehnfach größere Wohngebiete, die zum Teil gar nicht vertreten sind. Als Theodor Fontane 1890 nach langen Jahren Abstinenz wieder einmal wählte, beschrieb er seine Wahlentscheidung als Knöpfeabzählen: „Nur der, der nichts weiß, weiß es ganz bestimmt“.
21. Oktober 2018
Darf man eigentlich am Wahltag selbst noch Wahlwerbung in den Briefkasten werfen? Wäre ich ein Unterstützer der Bockwurst-Politik, würde ich mit dieser Frage umgehend zum Europäischen Gerichtshof, zur Kommunalaufsicht Arnstadt, sowie zum Denunzianten-Briefschlitz der lokalen Presse sausen. So aber finde ich, was ich finde, erst in meinem Kasten, als ich mit meiner jetzt schon 4,40 Euro kostenden Sonntagszeitung unterm Arm vom Abgeben meiner Stimme heimkehre. Früher ging ich ins Wahllokal und wurde allseits fröhlich begrüßt, heute muss ich meinen Ausweis vorzeigen, da mich die Wahlhelfer nicht kennen, was umgekehrt auch gilt: ich sah sie noch nie. Den noch am Frühstückstisch gehegten Wunsch, der Auszählung der Stimmen in meinem Lokal 15, der Hochburg der Nichtwähler, beizuwohnen, habe ich begraben. Es gab Zeiten nach 1989, da wurde hier jede PDS-Stimme von den Zettel-Zählern mit Flüchen begleitet. Zuschauen machte Vergnügen.
20. Oktober 2018
Kurz vor Toresschluss wird noch ein anonymer Holzhackerbube aktiv, um die morgige Wahl zum Oberbürgermeister zu beeinflussen. Er fährt mit einem handgebastelten Wahlkampfaufsteller im Stadtgebiet umher und beglückt ausgewählte Briefkästen mit einem seltsamen Flyer, in welchem er zwei Kandidaten verunglimpft und den dritten nicht namentlich nennt. Vermutlich soll das heißen, dass der Schelm diesen Dritten unterstützt. Den Grundeinfall realisiert der Mann seit Jahren bei allen Wahlen. Freiheit ist seit Helga Luxemburg immer auch Freiheit der Sich-Selbst-Lächerlich-Machenden. Mein Ersteinsatz als auswärtiger Fensterputz-Helfer verlief glimpflich, ich fiel ohne Leitereinsatz weder auf die Bundesstraße noch nach innen. Was Feinstaub ist, weiß ich nun aus eigener Wischerfahrung, sammelte man ihn direkt und nachhaltig von Fensterrahmen und –brett, könnte man schon nach wenigen Jahren damit eine eigene Dreckschleuder klimaaktiv befüllen.
19. Oktober 2018
Alexander Held wird heute 60 Jahre alt, man sieht ihn derzeit nur in sehr wenigen Filmen nicht. Ich mag ihn am liebsten, wenn er eine Gelbwurstscheibe aus dem Papier nimmt und ohne Beilage isst. Auch liefert er meiner Arbeitshypothese Belegmaterial, der zufolge Krimis genüsslich vorführen, wie man als fähiger Untergebener unfähige Vorgesetzte ungestraft ignorieren und anblaffen kann, was im wirklichen Leben bekanntlich zur zügigen Überführung des Untergebenen auf den freien Arbeitsmarkt führt. Der Krimi übernimmt für dergleichen Fälle psychotherapeutische Funktionen. Am 19. Oktober 1972 wurde Heinrich Böll der Literatur-Nobelpreis zugesprochen, was bis heute immer wieder von diversen Schlaumeiern als Fehlentscheidung gedeutet wird. In diesem Jahr fiel die jährliche Fehlentscheidung aus, englischen Wettbüros und den Preisträger-Verlagen entgingen diverse Umsätze, die Feuilletons hätten Platz fürs Buchmesse-Gastland Georgien nutzen können.
18. Oktober 2018
Es ist eine alte Geschichte, doch ist sie immer neu. Nein, nicht die mit Liebe und Verschmähten. Ich meine den Zahnarzt. Er hat die Macht, mich einen ganzen Mittwoch lahm zu legen, obwohl er nur 45 Minuten an mir arbeitet. Zwei Betäubungsspritzen, eine Nachspritzung, als ich an einer Stelle kurz zucke, dann geht alles glatt, ich höre nur ein leises Knirschen. Mit zwei Einlagen, die er einem Druckverband vergleicht, schleiche ich den Weg aus der Poliklinik, die schon sehr lange Ärztehaus heißt, bis zu mir nach Hause, dort spuckte ich die Druckverbände lässig aus und versuche, mich mit meiner halbseitigen Gesichtslähmung zu arrangieren. Als das Magenknurren kettenhundartig klingt, schiebe ich eine sehr weiche Banane durch den rechten Mundwinkel in Richtung Schlund. Die Idee, nach gut vier Stunden einen Kaffee zu trinken, scheitert kläglich, die Tasse lässt sich einfach nicht da ansetzen, von wo der Kaffee sonst seinen Weg über meine Zunge nimmt. Er läuft aus mir heraus.