Tagebuch
2. September 2023
Nachtrag: Die Gegend ist neu für uns, auch wenn wir inzwischen schon an die 50 Sorten Wein von dort getrunken haben. Die Einladung zur Busreise bekommen wir seit einigen Jahren, immer stand ein anderer Termin im Weg. Nun endlich klappt es, etliche der Mitreisenden kennen wir, einige sehr gut. Wir steigen in Bad Kreuznach aus dem Bus, wo uns nach einer frei verfügbaren Pause eine Stadtführung erwartet. Im Kurviertel atmen wir Sole ein, die ein Zerstäuber in die Umgegend bläst, sitzen vor den Gradierwerk-Teilen, meinem miesen Husten tut das mehr als gut. Ich belichte in der Kurhausstraße eine Buntnessel, einen Gedenkstein für Friedrich Müller, der als Maler Müller ein wenig bekannt ist, in Kreuznach geboren am 13. Januar 1749, später noch das Schild an dem Haus, das als sein Geburtshaus gilt. Auch an Friedrich Christian Laukhard wird erinnert, der am 28. April 1822 in Kreuznach starb. Fröhlicher Empfang in Sommerloch, unser Quartier liegt in Braunweiler.
1. September 2023
Eine Eintragung vom 1. September 1973 gibt es nicht im Tagebuch, dessen allererster Band die Zeit vom 19. September 1971 bis zum 6. Dezember 1973 umfasst mit vielen großen Lücken. Die größte Lücke erhielt später den Titel „Kulturschock NVA“ und wurde ein Buch im Chr. Links Verlag. Jetzt auch schon wieder zehn Jahre her. Immerhin finde ich unter dem 19. September 1973 den Grund für mein knapp vierwöchiges Schweigen. Es war die siebente und letzte gemeinsame Ungarn-Reise mit meinen Eltern, angetreten am 30. August, beendet am 17. September. Vergeblich versuchte ich, in Ilmenau Reiner Kunzes „Brief mit blauem Siegel“ zu ergattern. Vergriffen, hieß es. Mein Exemplar entstammt der zweiten Auflage von 1974 und gehörte zuvor Dominique Krössin, die heute, wenn es keine Namensgleichheit gibt, Bezirksstadträtin für Schule, Sport und Kultur in Pankow ist. Da ich morgen in Bad Kreuznach und Umgebung auf Weinreise bin, verordne ich mir ein Kurzschweigen.
31. August 2023
Die Abendausgabe der Vossischen Zeitung vom 31. August 1933 meldete auf ihrer zweiten Seite: „Theodor Lessing ermordet“. Die Korrespondenz aus Marienbad wusste: von einer Leiter an der Villa „Edelweiß“ aus wurden zwei Revolverschüsse abgefeuert, einer traf ihn am Kopf. Lessing starb im Marienbader Krankenhaus um 1 Uhr nachts, heute vor neunzig Jahren also. Für mich steht der Verfasser von „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“, „Die verfluchte Kultur“, aber auch von „Meine Tiere“ und „Blumen“ auf der Verlustliste des Jahres 2022 ganz oben, ich hätte sehr gern zu seinem 150. Geburtstag am 8. Februar geschrieben. Als ich das nicht zu Ende brachte, vertröstete ich mich auf den heutigen Tag. Und wieder kein Ergebnis. Immer drängen sich andere Themen und Dinge vor, am Ende funkt nun sogar der so genannte Gesundheitszustand dazwischen. Als ich Ende März/Anfang April für eine Woche in Marienbad kurte, vergaß ich sogar, nach Spuren zu schauen.
30. August 2023
Natürlich bin ich auf der Suche nach etwas anderem auf dieses Datum gestoßen: am 30. August 1953, ich war eben ein halbes Jahr alt geworden und entwickelte keinerlei Interesse für das ARD-Programm des Westens, übertrug selbiges erstmals den „Internationalen Frühschoppen“, den Alt- Nazi Werner Höfer moderierte. Weil die Sendung jeden Sonntag von meinem Großvater Reinhold gesehen wurde, sah auch ich sie, wenn ich in Mühlberg bei ihm zu Gast war. Das geschah recht häufig, ich ging in Mühlberg sogar phasenweise zur Schule. Haften geblieben ist nichts als das Bild ewig rauchender Männer. Höfer hat auch Theaterkritiken geschrieben und vor allem kein schlechtes Gewissen gehabt. Als Albert Norden 25 Jahre vor dem immer alles aufdeckenden SPIEGEL einen besonders widerlichen Fall aus Höfers Leben aufdeckte, interessierte das im Westen niemanden, denn es war ja nur Propaganda. Wir haben daraus gelernt: Propaganda treiben immer die anderen.
29. August 2023
Gern erwecken forschende Wissenschaftler, wenigstens aus den Bereichen, die mir bisweilen wichtig werden, den Eindruck, als wären sie nie auf die Idee gekommen, ein Buch zu schreiben, wenn nicht Freunde, meist zahlreiche, sie dazu gedrängt hätten. Wie übersichtlich wäre unsere Romanliteratur, bedürften deren Verfassende solcher Dränger. Aber es ist eine Seuche: ein jeglicher jeglichen Geschlechts, dem nicht gleich nach einer halben Seite der Stift aus der Hand fällt oder die Langnägel an der Tastatur des Laptops abbrechen, wirtschaftet an seinem ersten, wahlweise zweiten bis siebenten Roman. Eben las ich, wie sich Julius Vogel gedrängt fühlte, über Käthchen Schönkopf zu schreiben und zwar fast schon, als er noch zu Füßen von Gustav Wustmann saß. Das müssen Zeiten gewesen sein: zu Füßen! Im Übrigen gewannen nicht nur 38, sondern 46 Länder Medaillen in Budapest, der ARD-Videotext diskriminierte glatt acht Länder mit nur je einer Bronzemedaille.
28. August 2023
Nun ist es amtlich: man kann das schlechteste Ergebnis aller Zeiten aus dem Vorjahr doch noch toppen: durch das allerschlechteste Ergebnis aller Zeiten: weniger als null Medaillen hat freilich nie ein Land gewonnen, weshalb wir nicht traurig sein müssen: nur 38 Länder liegen vor uns, wir waren mal eine Sportnation. Dafür bekommen jetzt auch kleine fette Buben, die bei den Bundesjugend-Spielen sich die Kugel auf die Füße warfen im Kugelstoßen und kleine fette Mädchen, die das 60-Meter-Ziel erreichten, als die Siegerinnen schon in die vegane Bockwurst bissen, jetzt alle eine Urkunde. Man darf sie nicht diskriminieren. Was im Fußball dazu führen wird, dass man ohne je ein Tor geschossen zu haben, sich gute Chancen auf die silberne Torjägerkanone ausrechnen darf: ab hundert Fehlschüssen pro Saison wird man zur Wahl der Sportler des Jahres geladen. Dafür endete gestern die Zeit der alten Krimis am Sonntagabend: Claudia Michelsen war Brasch in Magdeburg.
27. August 2023
Wird Leipzig am 27. August kommenden Jahres der letzten öffentlichen Hinrichtung innerhalb seiner Mauern gedenken: Johann Christian Woyzeck verlor im Sitzen seinen Kopf mitten auf dem Markt, mehrere tausend Leipziger schauten zu, die Kinder hatten schulfrei? Immerhin hat Georg Büchner diesen Mörder zum Vorbild seines „Woyzeck“ genommen, der auf deutschen Bühnen Jahr für Jahr wieder irgendwo neu inszeniert wird, obwohl er kein Roman ist. 200 Jahre „Rübe runter“ als Innenstadt-Event? Nein natürlich nicht, zumal am Folgetag ja eines Mannes zu gedenken ist, der als Minister auch ein Todesurteil unterschieb und daraus eine Gretchen-Tragödie bastelte oder so ähnlich. Johann Wolfgang, genau, trieb in Leipzig ebenfalls eine Weile ein galantes Rokoko-Wesen, steigerte sich dort in eine Liebes-Fiktion, die den Biografen mit allerschönster Regelmäßigkeit ein mehr oder minder selbständiges zweites oder drittes Kapitel abnötigt: über Käthchen-Mädchen.
26. August 2023
Ins Theater nach Trier habe ich es nie geschafft, dennoch schickt mir das Haus sehr regelmäßig seine Monatsprogramme. Ich bin im Verteiler, wie das so schön heißt, weil ich vor Jahren nach eventuell noch vorhandenen Programmheften zu Schiller-Inszenierungen fragte. Wie bei anderen deutschsprachigen Häusern auch. Nahezu alle halfen mir damals, nur ihre aktuellen Programme schickten sie mir später nicht. Die erste Premiere der neuen Spielzeit, die in mein Ressort fiele, wäre „Die Leiden des jungen Werther“. Meine Neugier darauf wäre nicht größer, wenn der erste und einzige Welt-Bestseller Goethes in Arnstadt gezeigt würde. Es war halt ein Roman und ich bin da eisern. Selbst wenn Goethe es selbst dramatisiert hätte. Hat er aber nicht. Ist auch nie auf diese Idee gekommen. Die Herren Jürgen Fuchs, Gerulf Pannach und Christian Kuhnert wurden am 26. August 1977 zwangsweise aus der DDR in die West-Freiheit versetzt. Was ihnen nicht viel half.
25. August 2023
Vor vielen, vielen Jahren, in einem Land vor unserer Zeit, sagte der Sohn eines Schuldirektors, der auf der Insel Sansibar für ein paar Jahre arbeiten durfte, später sogar über die Städtegeographie der Hauptstadt promovieren, zu seinem Vater: Wir waren überall, aber noch nie in Garsitz. In Garsitz, weiß man, gibt es keine Kirche, man kann sie folglich auch nicht im Dorf lassen. Ich war heute zum ersten Mal im Waffenmuseum Suhl, das es schon lange gibt und zum ersten Mal im Explorata in Zella-Mehlis, das es noch nicht so lange gibt. In Cannes war ich genau doppelt so oft, ebenso in Nizza. In Suhl sieht man Waffen, die eine Schenkung des Aktivs Staatssicherheit des Rates des Bezirkes sind, wie auch Waffen, die amerikanische Waffensammler als Schenkung zurück nach Europa lieferten. Ich sah meine alte Kalaschnikow, für mich immer eine MPi, für Besucher aus dem zahmen Westen umdeklariert zum Sturmgewehr. Sogar unsere Waffennamen nehmen sie uns.
24. August 2023
Nach Monaco komme ich nicht alle Tage. Ich könnte kühn behaupten: nur alle dreißig Jahre. Das wäre keine Falschaussage, aber auch keine von hohem Wert. Denn nach dem Gesetz der Miniserie fiele der nächste Aufenthalt ins Jahr 2052, in die Nähe meines 100. Geburtstags. Ob ich dann immer noch gern blaue Lamborghinis vor dem Casino fotografiere, wage ich zu bezweifeln, die Hände von Oliver Kahn und Gianluigi Buffon aus den Jahren 2016 und 2017 würde ich übersehen. Immerhin: am 24. August 2022 und am 24. Oktober 1992 war ich da. 1992 galt fast alle Zeit den Kakteen, 30 Jahre später diversen Seepferdchen, den Haien und einigen überaus seltsamen Fischen im Musée Océanografique. Davor das gelbe Unterseeboot von Cousteau. Ich war noch halbwegs gut zu Fuß, einen Monat später zählte ich unter die familiären Totalausfälle, wartete auf eine ärztliche Diagnose, die den Namen verdiente. Und heute, ein Jahr nach Monaco, bin ich fit wie ein uralter Turnschuh.
23. August 2023
Heute vor genau 90 Jahren starb in Berlin der Pfarrerssohn Otto Franz Gensichen im nicht ganz zarten Alter von 86 Jahren. Ich las nie etwas von ihm, dafür einiges über ihn. 1859 begann er in Landsberg an der Warthe seine gymnasialen Jahre, siebzig Jahre später wurde dort Christa Wolf geboren in ihrer Frühform als Christa Ihlenfeld. Gensichen musste nicht vor sowjetischen Truppen flüchten, die ihr späteres Befreierwerk mit einigen Untaten verbanden. Er leitete kurz das Berliner Wallner-Theater, war Kritiker, schrieb Romane und Erzählungen. Weil er auch für die Bühnen schrieb, geriet er ins Blickfeld von Theodor Fontane. Der kritisierte zwischen 1871 und 1885 „Minnewerben“, „Was ist eine Plauderei?“, „Euphrosyne“, „Die Märchentante“, „Frau Aspasia“ und „Lydia“. Und schrieb zu „Lydia“ sehr bestimmt: „Der Dichter soll von der Menschheit sprechen und unter Umständen allerdings auch von sich selbst. Aber nie von seinem Metier.“
22. August 2023
Früher, also ganz früher, als die Welt noch in Unordnung war, konnte ich die meisten Weltrekorde in der Leichtathletik und im Schwimmen hersagen. Ich kannte alle Sieger der Friedensfahrt, führte Statistiken der Etappensieger, wusste, wer bei zwei Olympischen Spielen in Folge Gold in welcher Disziplin gewonnen hatte. Einen gab es im Diskuswerfen, der gewann Gold bei vier Olympiaden: Al Oerter, der eigentlich Alfred Adolf Oerter hieß, was für einen 1936 Geborenen kein übertrieben ehrenrühriger Name war. Heute höre ich des Abends mit mäßigem Interesse den diensthabenden Sportreporter in Budapest mit zufriedenen Athleten deutscher Zunge reden, die einen sehr guten fünften oder noch besseren sechsten Platz errangen. Sie wissen genau, warum es nicht geklappt hat. Das ist immerhin mehr als bei unseren Fußballerinnen und Fußballern, die nichts wissen, aber bald wieder angreifen wollen. Schon fünfundzwanzig Länder haben ihre Medaillen, Deutschland nicht.