Tagebuch

14. März 2022

Wenn wir F35-Tarnkappen-Bomber kaufen, die in den Vereinigten Staaten von Amerika sozusagen im Regal stehen, brauchen wir keine eigenen Bomber zu entwickeln, was viel zu lange dauert. Die fliegen dann auch gar nicht, wie wir wissen, und, viel wichtiger, wie unsere SPD-Kriegs-Ministerin sagt: das sichert unsere nukleare Teilhabe. Das hat einst nicht einmal Adenauer geschafft: eigene Atombomben. Auch jetzt sind es leider immer noch fremde Bomben, die wir im Fall der Fälle werfen dürfen mit unseren Lieferbar-Bombern. Der Preis ist überschaubar, erhöht nur die Gefahr, selbst beworfen zu werden. Da wir uns schon die Hosen voll schissen bei Strahlen aus Tschernobyl, müssten wir jetzt eigentlich aus allen verfügbaren Fenstern springen. Die Bundesregierung kann nicht ausschließen, dass. Karl Lauterbach warnt nicht vor Waffenkäufen. Sein Warnpotential ist spezialisiert. Bundeskanzler Scholz besucht den nächsten Friedensnobelpreisträger in Ankara.

13. März 2022

Mediatheken haben einen unschätzbaren Vorteil: man kann seinen Krimi zur gewohnten Zeit in Augenschein nehmen, auch wenn die ARD der Meinung ist, man müsse den 685. Brennpunkt seit Erfindung des Brennpunkts als Dauerbrenner unbedingt vorher sehen, in dem alles noch einmal gezeigt wird, was man eben schon sah, nur in die Länge und Breite gezerrt. Es tut mir leid, aber die Fall-Zeit von Bomben interessiert mich so wenig wie einst in der DDR der Start der Mähdrescher in den frühen Morgenstunden der Ernteschlacht. Ich verstehe, dass alle in unseren Sendern zu Wort kommenden Ukrainer und Ukrainerinnen uns drängen wollen, Entscheidungen zu treffen, die einen Weltkrieg objektiv näherbringen. Warum er am Ende da ist, wenn er da ist, ist mir fast vollkommen gleichgültig. Fast vergesse ich, dass heute vor genau 250 Jahren in Braunschweig „Emilia Galotti“ uraufgeführt wurde, Lessing fehlte im Parkett, weil er Zahnschmerzen hatte, Geschichte auch das.

12. März 2022

Selbst der gute alte Jack Kerouac kommt nur noch ins Feuilleton, wenn es wenigstens eine neue Übersetzung von ihm gibt, der 100. Geburtstag allein reicht nicht hin. Meinen Kerouac-Bestand erwarb ich (bis auf die Ausnahme aus DDR-Produktion) in einer Buchhandlung in der Ilmenauer Lindenstraße, lang ist es her. Beat Generation hießen die Kerle damals, hatten auch ein paar Lyriker in ihren wenig geschlossenen Reihen. Das wären heute alles alte weiße Männer gewesen, die Oprah Winfrey nicht einladen würde, wie sie einst noch den immer weißer werdenden Michael Jackson einlud, lang ist es her. Die ersten Buchmesse-Beilagen habe ich gebunkert. Wenn ich nicht nur eine polnische Großmutter hätte, sondern auch noch ukrainische Wurzeln, hätte ich vielleicht sogar eine Chance, eingeladen zu werden in irgendeine Runde, wo mich alle mitleidig und voller Verständnis angucken würden. Polnische Großmütter reichen derzeit nicht für Höhenflüge, Oma Malinowska.

11. März 2022

Wenn die Buchmesse ausfällt in Leipzig, heißt das nicht, dass auch die Beilagen zur Buchmesse ausfallen, die von einigen Zeitungen lange vorher geplant und vor allem mit Anzeigen der reichen Verlage garniert werden. Mir fällt neuerdings erst im letzten Moment ein, dass ich zwar keine Reise nach Leipzig planen muss, die mit dem Auto jetzt ohnehin teurer wäre als meine erste Reise nach San Marino vor 30 Jahren, wohl aber Zeitungen bestellen. Früher schaute man in den Beilagenplan der jeweiligen Blätter und wusste, was wann kommt. Heute ist das Finden der Pläne bei manchen Zeitungen schwieriger als das Finden eines Schuldigen, wenn kein Putin zur Verfügung steht. Vor genau 300 Jahren starb John Toland, von dem ich seit nicht ganz 300 Jahren die „Briefe an Serena“ besitze, erschienen in der Reihe „Philosophische Studientexte“ des Berliner Akademie-Verlages. Mechanischer Materialismus hieß das auf DDR-Deutsch. Trotzdem nicht einfach so zu verachten.

10. März 2022

In meinem zweibändigen Friedrich Schlegel aus dem Aufbau-Verlag steckt ein Lesezeichen bei Lessing, allerdings nicht bei Theodor, sondern bei Gotthold Ephraim. Mit dessen „Emilia Galotti“ bin ich derzeit täglich verabredet, was mit kommendem Sonntag zu tun hat. Vom Krieg in der Ukraine höre ich, dass die Menschen dort nach zwölf Tagen genervt sind. Das wirft nicht nur die Frage nach unserer vom Langzeitfrieden verdorbenen Kriegsberichterstattung auf. Sondern auch die Frage, wie es wohl den Menschen im dreißigjährigen Krieg ging nach zwölf Jahren Krieg: weitere zwölf Jahre standen bevor und dann waren immer noch sechs Jahre übrig. Meine Tankstelle zeigt mir, dass die Altgrünen vor Jahren falsch lagen, als sie schlappe fünf Mark pro Liter für eine gute Idee hielten, sechs Mark heißt das Thema und: Nieder mit der Wirtschaftsnation Deutschland. Es muss uns nicht gut gehen, anderen geht es auch nicht gut. Zukunft wird allgemein weit überschätzt.

9. März 2022

Komischer Zufall: Weil gestern der Dramatiker Heinar Kipphardt 100 Jahre alt geworden wäre, von dem ich einst „Shakespeare dringend gesucht“ las und etwas später auch noch „Der Hund des Generals“, schaue ich heute in ein Buch aus der Reihe Theater heute, es ist die Nummer 16 und trägt den Titel „Deutsche Dramatik in West und Ost“. Ich sehe die Postkarte eines Antiquariats-Netzwerkes vor Seite 13. Dort beginnt der Abschnitt über Heinar Kipphardt mit dem Satz: „Heinar Kipphardt könnte als Gegenfigur zu Peter Hacks erscheinen: dieser verzog 1954 von München nach Ost-Berlin, jener ging 1960 von Ost-Berlin über Düsseldorf nach München.“ Am 23. November 2017 hatte ich das Buch zuletzt in Arbeit, lange her also. Mit Friedrich Schlegel, dem morgen der 250. Geburtstag zu bescheinigen sein wird, bin ich bis heute nicht warm geworden, der Umgang mit Theodor Lessing aber führt nach Hannover, wo beide geboren wurden, ein Berührungspünktchen.

8. März 2022

Muss Berlin den Frauentag abschaffen als Feiertag, wenn das Gesetz über die selbstbestimmt freie Definition des eigenen Geschlechts in Bälde rechtskräftig wird? Denn er macht den Weg frei für die Bedarfsfrau. Auch die Frauenquote würde sofort hinfällig, weil ja jede einst dominant männliche Hauptvorstandssitzung mit der Frage beginnen dürfte: Wer macht heute die Frau? Bei allen großen Tagungen könnte man wechselweise die Reihen 1 - 16 zu Männern, die Reihen 17 - 34 zu Frauen ernennen und eine Rotation gleich mitbeschließen. Ansonsten wäre es ratsam, vielleicht noch vor der ausfallenden Buchmesse in Leipzig ein Konsortium mehrerer Großverlage zu gründen, welches sich die Gesamtausgabe des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko als Nahziel und in allen deutschen Dialekten vorzunehmen hätte. Morgen wäre nach dem gregorianischen Kalender ohnehin sein 108. Geburtstag und gleich übermorgen noch sein 161. Todestag, beste Anlässe also!

7. März 2022

Sollte ich so lange leben, wie mein heute frisch abgeholter Führerschein in Kartenform gültig ist, wäre ich älter geworden als mein Vater, der nie geglaubt hätte, so alt zu werden, wie er wurde. Meiner Mutter, die nie 80 oder gar 90 werden wollte, gefiel zum Schluss sogar der Gedanke, 100 zu werden, nicht schlecht. Dass eines Tages Menschen mit Hirn im Kopf statt Grütze, Dostojewski vom Lehrplan der Universität Mailand absetzen oder ein dickes Fernsehmädchen aus dem Mutterland des Kulturimperialismus Tolstois „Krieg und Frieden“ aus ihrer Bibliothek verbannt, hätte ich mir nie träumen lassen. Ich hatte einen 1960 geborenen Chefredakteur, der nach einem Zählfehler meiner damaligen Sekretärin verkündete, Dummheit sei nicht strafbar. Heute glaube ich, dass Dummheit strafbar ist, sie kann sogar direkt in Volksverhetzung münden. Selbst Gogol ist kein Ukrainer, es kann sein, dass ich nie wieder „Der Revisor“ sehen darf! Heiliger Ilja Muromez!

6. März 2022

Immerhin drei Bücher von Alexander Osang stehen im Regal direkt neben der rechten Seite meines PC-Arbeitsplatzes. Im Jahrgangsordner 1962 sind nicht wenige seiner Reportagen gesammelt, er gehört zu diesem Jahrgang, wird am 30. April 60 Jahre alt. Ein heuriger Hase ist er schon lange nicht mehr. Was aber tut er in seinem Endlostext zum Botschafter der Ukraine in Deutschland, zu Andrij Melnyk, für den Spiegel? Er geht über die Geschichte mit seinem Vornamenspaten Andrij Melnyk ebenso leicht hin wie über die Geschichte mit Stepan Bandera. Als der vormalige Präsident der Ukraine, Juschtschenko, ihm 2010 den Titel „Held der Ukraine“ verlieh, protestierten Russland und Polen, das Europa-Parlament und das Simon-Wiesenthal-Zentrum. Bandera war Antisemit in einem Maß, dass hier allein der Gedanke, nach ihm Straßen zu benennen, einem Verbrechen nahe käme. Melnyk hat an seinem Grab in München Blumen niedergelegt. Osang lese ich nicht mehr.

5. März 2022

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die keine mehr ist, seit sie am Sonnabend erscheint, ist nunmehr eine Wochenzeitung. Das heißt, sie wandert nicht am Montag in die Remittenden-Kiste, sondern wird noch bis Freitag verkauft. Wenn’s hilft. Nachdem gestern Iring Fetscher 100 Jahre alt geworden wäre, was nur den Deutschlandfunk interessierte, würde heute Pier Paolo Pasolini 100 Jahre alt, was vor allem in der schwulen Community ein Date ist. Die Literarische Welt füllt eine ganze Seite mit ihm und diese Seite ist nicht von Tilman Krause. Auf meinem Lesetisch finde ich eine Notiz mit diesem Spruch: „Der Gitarrenhimmel ist vorchristlich, es gibt viele Götter in ihm, wenige Göttinnen.“ Über dem Spruch steht der Name Tal Wilkenfeld. Ob ihr Name mit dem Spruch wirklich zu tun hat oder gar von ihr selbst ist, weiß ich nicht. Am Bass ist sie jedenfalls unschlagbar gut. Und singt längst auch. Morgen wäre Günter Kunert 93, ich nur säumig als ein später Gratulant.

4. März 2022

Sollte man jetzt seinen Dostojewski, seinen Tolstoi, seinen Turgenjew aus dem Fenster werfen oder nur alle Neu-Übersetzungen von Swetlana Geier? Oder reicht es, wenn man seinen Viren-Scanner von Kaspersky kündigt und zu den Programmen zurückkehrt, die einem letztens nicht halfen bei der Cyber-Attacke vermeintlicher Microsoft-Helfer? Wie doof auch immer das klingt, dergleichen wird derzeit öffentlich gedacht, gefragt und gemacht. Die nächsten vier wichtigen Buchpreise werden an ukrainische Autorinnen gehen, das lässt sich jetzt schon heftig vermuten. Putin hat, was immer er will und wollte, der weltweiten Rüstungsindustrie ein traumhaftes Konjunkturpaket aufgelegt, zum Glück sind wir im Großraum Bodensee heftig mit von der Partie. Wir erlebten heute schon mal den probeweisen Stromausfall, mitten im Text am PC, im Tropfen der Kaffeemaschine, im Saugen des Staubsaugers, nicht nur auf dem Klo wurde es dunkel und im Kühlschrank, nur kurz, aber lehrreich.

3. März 2022

„Waffen aus Deutschland für die Ukraine“ ist ein höchst merkwürdiges Label für sowjetische Luftabwehrraketen aus Uralt-Beständen der vor mehr als 30 Jahren abgewickelten NVA. In der Bundeswehr dürfen sie nicht mehr zum Einsatz kommen, wegen Materialmängeln, heißt es. Sind sie rostig geworden oder gehen sie gelegentlich nach hinten los? Wir wissen es nicht. Was ich weiß an diesem dritten März: vor genau 20 Jahren, Sonntag, war mein Vater zur zweiten Nachfeier meines 49. Geburtstages Gast in unserer Wohnung, er schaffte die Treppen noch mit äußerster Mühe und kam danach nur noch sehr selten, bald gar nicht mehr. Aus der von ihm, mir und meiner Mutter in vielen Jahren zusammen getragenen Sammlung von Märchenbüchern griff ich mir heute eins heraus mit dem Titel „Wie Iwan die Sonne besuchte“. Erschienen 1989 im Verlag Dnipro Kiew, Untertitel „Ukrainische Heldenmärchen“. Darin schlägt ein Drache sechs Brüder, ehe ihn „Rollerbse“ tötet.


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