Tagebuch

26. März 2022

Man soll es den Berliner Hotels gönnen, wenn sie wieder so gut ausgelastet sind, dass der Zimmer-Service tatsächlich fast bis 15 Uhr braucht, ehe alles für die neuen Gäste eingerichtet ist. So sind wir unter Zurücklassung unseres Rollkoffers mit Zahlenschloss in die Charlottenburger Gefilde enteilt, dieses oder jenes Geschäft aufzusuchen, welches Waren des täglichen Bedarfs feilbietet, welche in der Provinz nicht ganz leicht zu haben sind: blaue Bleistifte der Sorte B5, die es laut heimischem Bürowarenhandel gar nicht mehr gibt. In Berlin gibt es sie und es gibt auch Textmarker in Farben, die sich unter Waldmenschen in Thüringen offenbar keiner Nachfrage erfreuen. Gut denn, wir haben uns den eben in den Berliner Medien durchgehechelten Ernst-Thälmann-Park angeschaut mit dem Kopf, den ein junger Mann gern eingeschmolzen sehen würde, um mit dem Erlös den Krieg in der Ukraine zu verlängern. Man kann auch rund um den Weißen See wandern.

25. März 2022

Ela, die Gute, die irgendwo in den Hörsel-Bergen in der Gastronomie arbeitet, ist eine geduldige Freundin. Sie hört sich fast eine geschlagene Stunde an, was ihre Freundin, die in Geraberg in die Regionalbahn 46 nach Erfurt steigt, bis Erfurt zu sagen hat an ihrem Smart-Phone. Wir und alle anderen Sitznachbarn im Zug erfahren alles, was das Herz nicht begehrt aus dem Privatleben dieser jungen Frau, die eben keine Studierende ist, sondern nur eine Studentin. Denn sie hat eine Arbeit gefunden, mit der sie sich eine neue Wohnung verdienen will und in diesem Job hat sie nur drei Monate Probezeit. Sie will einen Polizisten in Erfurt besuchen, der sich einsam fühlt und sie hält auch reihenweise Verhaltenstipps für Ela bereit, die zwischendurch hie und da einmal kurz zu Wort kommt. Man lernt Ruhezonen in Fernzügen schätzen, wenn man der nach unten offenen Richter-Skala der freiwilligen Indiskretion ausgeliefert wird in diesem so genannten Personen-Nahverkehr.

24. März 2022

Fast schäme ich mich meiner Voraussage, das deutsche Feuilleton werde uns überschwemmen mit bis dato völlig unbekannten ukrainischen Performance-Künstlern, Dramaturgen, Tänzerinnen, Schriftstellern und -rinnen, Sängerinnen und -ern. Einige Oberfeuilletonisten werden sich fragen, warum sie all diese osteuropäische Warnliteratur nicht ernst genommen haben. Ja, warum wohl?  Weil das ganze Osteuropa niemanden hier auch nur einen Scheißdreck interessiert, wenn schon die eingemeindete DDR niemanden interessiert, warum dann ausgerechnet Litauen oder Belarus oder gar Transnistrien und Inguschetien. Die Verlogenheit tanzt auf den Seilen, wir haben noch nicht von Bulgarien geredet oder Ungarn, die zu uns gehören. Botschafter Melnik bittet zum 3. Weltkrieg, wir laden ihn nicht aus, warum auch? Ein Mann wie er bei uns irgendwo, ganze Szenen würden Amok laufen, ganze Zentralkomitees würden mit bebenden Lippen Protest murmeln, so aber? Schweigen.

23. März 2022

Wir bezogen am 23. März 1997 das Zimmer 140 im Hotel „San Francesco“, ich fotografierte meine ersten grünen Eidechsen, die im Blumentopf saßen, wir testeten die Temperatur im Hotel-Pool, was man halt so tut, wenn man angekommen ist. Ich denke bisweilen darüber nach, warum mir beim Gedanken an den Hafen Pozzuoli immer diese völlig unaufgeregten Hunde einfallen, die einen umkreisen, einen mit Hundeblicken anschauen (welchen sonst sollten sie auch wählen), und nie knurren, nie an einem hochspringen, nicht einmal an Bein oder Schuh schnüffeln wie die hier an ihren Leinen gehaltenen Vierbeiner. Von unserem Strand aus gesehen, war Forio ganz schön weit weg. Es war Palmsonntag, was uns Ungläubigen wenig sagte, nur überall diese grünen Zweige, die irritierten uns. Heute hätte ich die Restzahlung leisten müssen für unsere erste Reise nach Brüssel seit Jahren. Entfällt. 2004 war ich zuletzt dort, 2017 zuletzt in Belgien. Ersatztermin immerhin.

22. März 2022

Auf den Tag genau ein halbes Jahr vor dem 100. Todestag Goethes, der 1932 in ein ganzes Goethe-Jahr verwandelte, erschien in der „Weltbühne“ das Gedicht „Goethe-Jahr 1932“ von Theobald Tiger. „Böte, Kröte, Nöte, Röte, Flöte … / wochenlang reimt alles sich auf Goethe. / Dann verstummen Prosa und Sonett. / Von den deutschen Angestellten-Massen / hat man keinen weniger entlassen. / Klassiker sind nur fürs Bücherbrett.“ Heute vor 90 Jahren war dieser Todestag und weil das so ist, habe auch ich mich des Themas angenommen. Ullstein-Reisen lud 1932 zum Goethefest nach Ilmenau. Man konnte für 62,50 Mark von Berlin aus mit sechssitzigen Luxus-Privatautos über Wittenberg, Leipzig, Naumburg, Kösen, Weimar, Rudolstadt und Jena nach Ilmenau fahren, die Eintrittskarte zur Festaufführung am 28. August war im Preis inbegriffen, Unterkunft und volle Verpflegung ebenfalls. Vor 25 Jahren setzten wir uns zu dritt in einen Reisebus nach Ischia/Italien.

21. März 2022

Die Rettung naht: Katar und andere Musterstaaten könnten eventuell das Putin-Gas ersetzen, das schon nicht mehr irritierend einfach Erdgas genannt wird in den Leitmedien. Der Preis ist gerade nicht heiß, sondern arg kalt. Katar hatte eine Handball-Weltmeisterschaft, hat bald eine Fußball-Weltmeisterschaft. Was fehlt noch? Eine Eishockey-Weltmeisterschaft, ein Biathlon-Weltcup, Olympische Winterspiele? Wir würden uns natürlich nicht abhängig machen, denn nach aller Wahrscheinlichkeit wird das Bauarbeiter-Paradies Katar nicht Abu Dhabi überfallen, um den Landweg zu seiner Schwarzmeer-Flotte zu sichern oder Polen die Gebiete zurückzugeben, die Stalin sich im Deal mit Hitler unter den später ukrainischen Nagel riss. Ich dagegen bin abhängig von mir völlig unbekannten Reisebüro-Kunden, die meine Reise im April nicht mitbuchen wollen, weshalb sie storniert wurde. Das kannte ich nicht mehr: Ich darf nicht, weil andere nicht wollen.

20. März 2022

Pünktlich zum heutigen 152. Geburtstag von Arthur Eloesser bin ich mit einer Darstellung seiner Arbeiten zum Goethejahr 1932 fertig geworden, leider wieder etwas länger, sie wird zu Goethes Todestag übermorgen ins Netz gestellt. Zum Frühlingsanfang verirrte sich tatsächlich so etwas wie Frühlingswetter nach Ilmenau, nachdem gestern sogar noch ein paar Flöckchen fielen. Wir stellten unser benzingetriebenes Fahrzeug auf den kostenlosen Parkplatz am Friedhof und wanderten in Richtung Festhalle. Für einen bescheidenen Unkostenbeitrag von 15 Euro pro Person, das sind für immer noch viele zwei Schachteln Zigaretten, besichtigten wir die Ausstellung „Körperwelten“ mit der imposanten Nebeneinanderstellung einer gesunden und einer Raucherlunge, die man aufpumpen konnte. Die Farbe der gesunden Lunge irritierte mich heftig. Der Anblick diverser Tumore erzeugt eher den falschen Eindruck, dass die gar nicht so schlimm aussehen, wie sie sind, rein farblich nur.

19. März 2022

Wenn, in aller Regel, am Samstag das Anzeigenblatt mehr oder minder beschädigt im Briefkasten liegt, darin die vielen bunten Prospekte der verschiedenen Märkte in der Umgebung, dann sehen wir in die meisten gar nicht hinein, weil wir dort nicht kaufen, in einige schon, weil wir dort kaufen. Heute sind die Prospekte schon Makulatur, wenn sie im Kasten liegen. Denn Mehl und Öl, wie zu sehen, zum Schnäppchen-Preis, wird es gar nicht geben können. Vielleicht sollten Medien und Minister andeutungsweise darauf hinweisen, dass Eierlikör und belgisches Konfekt Mangelware werden könnten oder doppelt so teuer. Beides schmeckt deutlich besser als Mehl und Öl, muss auch gar nicht erst energieaufwendig gebraten werden. Immer klarer wird, dass die Russen eigentlich seit Jahrhunderten nichts anderes tun, als Nachbarn zu überfallen. Das wird uns Deutsche insbesondere sehr trösten, denn wir überfielen selten jemanden, warum auch. Nur weil es Untermenschen waren?

18. März 2022

Zwei Tage brauchte ich, meinen heutigen Gruß zum 90. Geburtstag von John Updike in die Fassung zu zwingen, die ich ins weltweite Web plumpsen lasse. Ich nahm fast alle meine vielen Updike-Bände in die Hand, von einigen musste ich Staub blasen, hinter allen lag der übliche Regalstaub, dem unser Dyson aus dem Leben hilft. Ich grabe mich durch die Theaterkritiken von Alfred Polgar, lese Theodor Fontanes Kritiken zu „Emilia Galotti“. Mein Dauerbrenner Arthur Eloesser führt mich zu „Goethe in Tennstedt“, wo ich vor sechs Jahren schon einmal Fühlung nahm und schrieb. Man nennt es Arbeit. Fast 70.000 Wörter brachte ich bisher zu Eloesser bereits zu Papier, insgesamt 28 Texte, ein Ende ist nicht abzusehen. Jan-Josef Liefers erfreut uns mit seinem Film zu Erich und Margot Honecker in Lobetal. Ich sehe Tochter Sonja (gespielt) und Enkel Roberto. Und mich in Sonjas Wohnung in der Leipziger Straße am Glastisch sitzen, vielleicht gar auf Honeckers Platz.

17. März 2022

Die letzten Literatur-Beilagen zur Buchmesse in Leipzig gibt es heute. Sie zu holen, verordnen wir uns den täglichen Gang bis in die Stadt und zurück, die 10.000 Schritte fallen dabei locker ab. Wir treffen Bekannte, denen wir sagen, wir seien unterwegs, etwas Lügenpresse zu kaufen und Mehl zu hamstern, es gibt aber gar kein Mehl mehr und nach dem Sonnenblumenöl verschwindet nun auch das Rapsöl aus den Regalen. Am Busbahnhof passieren wir einen Rollator-Schieber mit Begleitung, der zwei große Pakete Küchenrollen transportiert. Wir vermuten, dass er sie zu Hause in der Mitte spalten wird, vielleicht hat er sich eine ukrainische Küchenrollen-Säge gekauft bei Amazon und will sich nun sein Klopapier selbst schneiden, vielleicht kocht er sich zu Hause auch eine Küchenrollen-Suppe mit Mehlschwitze, angebräunt in brauner Butter. Wir sehen einen Amsterdam-Krimi, in dem belorussische und ukrainische Mädchen und Frauen Opfer von Menschenhandel sind: in Holland.

16. März 2022

Natürlich stapelt niemand Rapsöl im Keller, meine weiblichen Korrektoren sind mir sofort auf meine ahnungslosen Schliche gekommen: die Rede muss von Sonnenblumenöl sein. In einer umgehend anberaumten Vorort-Begehung überzeugte ich mich vom Vorhandensein des Rapsöls wie von der Abwesenheit des Sonnenblumenöls, ich erblickte Klopapier, aber kein Mehl und ich sah Keimöl, von dem ich nicht weiß, was das ist. Am Abend sah ich Christina Links im Fernsehen, was mir angenehmste Erinnerungen hochdämmern ließ. Sie saß und sprach in einer Sendung über die russische Schriftstellerin Ludmilla Ulitzkaja. Ich schaute in meinen Ordner „Sowjetunion/Russland Tu – Z“ und siehe, ich bin bis 1998 zurück ganz ordentlich ausgestattet. Mein Gedächtnis machte Ulitzkaja sechs Jahre jünger, als sie ist, das wird sie mir verzeihen, falls sie je von mir hören oder gar lesen sollte. Sie war zehn Jahre alt, als Stalin starb, ich sieben Tage, was gegen mich spricht.

15. März 2022

Hamstern als Wort ist streng genommen eine Beleidigung für jene pelzigen Nager, die sich einen Vorrat anlegen für Zeiten, in denen Nahrung knapp ist. Das ist ihr Job. Wir dagegen, Einwohner Mitteleuropas, die sich zeitweise erfolgreich einredeten, das Volk der Dichter und Denker zu sein mit einer Ausstiegsklausel ins Volk der Richter und Henker, der Untermenschen-Feinde, mutieren fast anlasslos zu Klopapier-Regalplünderern. Wir schleppen weg, was wir immerhin noch bezahlen. Die nächste Stufe ist das Wegschleppen ohne Zahlung. In Kriegszeiten steht darauf die Todesstrafe und Kriegszeiten sind weniger weit weg, als wir glauben, wenn wir Mehl und Rapsöl im Keller stapeln oder in der Speisekammer. „Solange es Raufasertapete gibt, brauche ich kein Klopapier“, sagt ein Mann mit einer Schaufel in der Hand, den ich frage, ob Stahlbauer heute auch Erdarbeiten verrichten. Mit „Neues Deutschland“ kann man sich den Arsch nicht mehr abwischen: zu teuer.


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