Tagebuch

1. August 2023

An die Anrufe habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Sie sind letztlich harmloser als alle die, die angeblich von der Firma Microsoft kommen, immer mit falschen Telefonnummern, immer mit gebrochenem Deutsch vorgetragen. Meine Anrufer sind Leute in Not, sie wollen einen Termin in meiner Arztpraxis und sind nur schwer zu überzeugen, dass ich gar kein Arzt bin. Sie finden mich angeblich im Internet, wo ich mich selbst zwar auch finde, aber eben nie als Arzt. Natürlich weiß ich inzwischen, wer gemeint ist. Der geschätzte Nicht-Kollege ist ein freundlicher und wohnt und praktiziert in Großbreitenbach, wir hatten sogar schon einen fast kollegialen Mail-Wechsel. Heute nun, early in the morning, wie unsere Enkel zum Glück noch nicht sagen, stand sogar einer an unserer Haustür: als ob in Genossenschaftswohnungen neuerdings Arztpraxen geführt würden, wo man einfach mal so klingeln kann. Ich verschreibe nichts und sehe mir auch nichts nur mal so an.

31. Juli 2023

Verlustanzeige des Tages: am 31. Juli 1973 starb Alfred Matusche. Dieser Todestag wäre ein Thema zur Rückschau gewesen: Zwischen dem 19. Juli und dem 24. Juli 1978 tippte ich nicht weniger als 27 Schreibmaschinenseiten zu vier Stücken von ihm, die ich zuvor gelesen hatte. Als ich knapp zwei Jahre später, im Mai 1980, weitere vier Stücke las, kam ich nicht mehr dazu, meine Notizen zu machen. Die kleinen Merkpunkte im dialog-Band „Welche von den Frauen und andere Stücke“ sind also immer noch sichtbar an den Seitenrändern. Nie vor 1980, nie später las ich in einem einzigen Jahr mehr bühnen- und funkdramatische Texte als ausgerechnet damals, vor meinem Diplom: 90 bis Ende Mai, ganze 10 nur noch danach bis zum 29. Dezember. Und 1981: acht von Januar bis August, mehr nicht. Auf einer Bühne sah ich nie einen Matusche, das wird vermutlich so bleiben. Dennoch entscheide ich mich für den 150. Geburtstag von Hans Ostwald, Berliner von Geburt und Passion.

30. Juli 2023

Neustart in der stillen Hoffnung, es nun wieder durchzuhalten. Kein Anlass nirgends. Vielleicht ein paar Fragen weniger, warum ich kein Tagebuch mehr schreibe. Mir sind nie gute Antworten dazu eingefallen. Dabei wäre immer etwas, die Fingerspitzen könnten trocken bleiben: Saugausfall. Die Glatze ohne gedrehte Locken. Vor 50 Jahren lag Walter Ulbricht im Sterben. In Berlin tobten die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten, ich hatte wenige Tage zuvor meinen Job verloren, meinen Studienplatz für Journalistik in Leipzig in Kombination dazu. Es zog sich hin bis zum endgültigen Verzicht auf meinen ersten großen Lebensplan. Schon 1969, als die DDR ihren 20. Jahrestag in Berlin feierte und die Auserwählten unter der Jugend in blauen und möhrenfarbigen Nylon-Jacken dorthin transportiert wurden, war ich ohne Bedarf. Erst zum 25. Jahrestag 1974 sah mich Berlin: in keinerlei Signalfarbe. Und ich sah alle, die nach Biermann von hinnen gingen, auf etlichen Bühnen.

4. April 2022

Eines der vielen Stalin-Opfer unter den russischen Schriftstellern hieß Michail Kolzow. Der alte Aufbau-Literatur-Kalender legt den Tag seiner Ermordung auf den 4. April, der neue Aufbau-Kalender kennt das Datum gar nicht mehr und WIKIPEDIA lässt ihn vollends schon zwei Jahre länger tot sein. Das Nachwort eines Leipziger Reclam-Bändchens vergisst dezent alle Umstände seines Schicksals, soweit sie nicht positiv lesbar sind. Immerhin: Kolzow traf im Spanienkrieg auf Ernest Hemingway und der machte in seinem Roman „Wem die Stunde schlägt“ aus ihm den Journalisten Karkow. Ich erinnere mich meiner Studentenzeit in Berlin, da wir, parallel zu den Vorlesungen und Seminaren zur Geschichte der KPdSU, Opferzahlen zu ermitteln versuchten. Es waren erschreckend viele Opfer unter den namhaften Autoren von Tretjakow bis Mandelstam. Die Wahrheit ist nicht nur das erste Opfer jeglichen Krieges, auch im Frieden geht es ihr meist schlecht.

3. April 2022

Der Sonntag „Judika“, lese ich, betont den Gehorsam Christi und unseren Gehorsam gleich mit. Ich weiß nicht, wie viele Menschen inzwischen Google nutzen müssen, um zu erfahren, was denn dies sei: Gehorsam. Wie sehr gehorsam war Michail Schatrow, der heute nicht 90 Jahre alt wird, weil er am 23. Mai 2010 bereits gestorben ist? Er habe sich als Dramatiker, ist zu lesen, mit kritischer Sympathie mit Lenin und der Sowjetunion auseinandergesetzt, andernorts ist er der Mann, den die Deformationen des Sozialismus unter Stalin zu Bühnenstücken anregten. Da er in Moskau geboren und gestorben ist, würden unsere Kulturpatrioten ihn aus dem Lehrkanon streichen, wenn er je drin gewesen wäre, was ihm aber nie gelungen ist. Hätte ich einstens nicht die Reihe „Spektrum“ des Verlags Volk und Welt gesammelt, wäre meine Bibliothek eine Schatrow-freie Zone. So aber steht da der schmale Band Nr. 18, Titel „Bolschewiki (Der 30. August)“. Ich las ihn am 10. Mai 1976.

2. April 2022

Da ist er nun, dieser Todestag. Ich habe mir sogar auf  Youtoube „Komm auf die Schaukel, Luise“ angehört, meine Molnár-Datei ist auf Wachstum angelegt. Daneben lese ich brav und tapfer die Theaterkritiken von Alfred Polgar, dem Molnár sehr am Herzen lag. Und Alexander Roda Roda ist ebenso mein täglich Brot. Mein Medienblick zwingt mir die Frage ab, warum Kriegsfotografen in der Ukraine gern Frauen in dicken Pelzmänteln vor rauchenden oder brennenden Häusern belichten und ich höre von sachverständiger Seite, diese Pelzmäntel seien vielleicht der wertvollste Besitz, der gerettet werden muss. „derfreitag“, Jakob Augsteins Wochenblatt, das ich bisweilen gern ein wenig schmähe, hat in seiner jüngsten Ausgabe, die ich mir verspätet vornehme, gleich mehrere hypergute Artikel zum Thema Ukraine, einer dabei auch vom großen Häuptling selber auf der Titelseite. Wunderbar, dass nicht alle gerade auf dem Klo saßen, als der Herr Hirn regnen ließ.

1. April 2022

Vor 25 Jahren notierte ich mir an meinem eigentlich freien Tag die Neuigkeiten, die sich für meine Doppel-Redaktion, der ich seit dem Jahresbeginn vorstand, inzwischen ergeben haben. Der schon absehbare Tod meiner „Außenstelle“ in Arnstadt sandte seine Hiobsbotschafter voraus, ich musste selbst anreisen und mir dies und jenes anhören. Es gibt Chefetagen, die haben ein sehr gespaltenes Verhältnis zu Aprilscherzen und noch dussliger gewählten Terminen für Tiefschläge. Ich arbeite emsig an meinem Beitrag zum morgigen 70. Todestag von Franz Molnár, grub sogar meine alte Theaterkritik wieder aus, für die ich seinerzeit schon allerlei las und auswertete, auf das ich jetzt dankbar zurückgreifen kann. Wen der Erfolg begleitet, auch und vor allem der finanzielle, der hat bei aller Mit- und Nachwelt schlechte Karten. Ich werde auf diesem Umweg in manche Ungarn-Erinnerungen gelockt und stoße auch auf abenteuerliches Unwissen in manchen Schlauköpfen.

31. März 2022

Weißt du auch, was heute für ein Tag ist? Mit schöner Regelmäßigkeit fragte mich das am 31. März meine Mutter. Und pflichtgemäß wissend antwortete ich: Euer Hochzeitstag. Es wäre heute der 72. gewesen, was dann doch kaum vorstellbar ist. Obwohl es natürlich solche Paare im wirklichen Leben gibt: er fast 102, sie fast 94. Immer wenn ich lese, dass jemand etwas sein ganzes Leben lang nicht vergessen wird, bis ich skeptisch. Bei vielen ist noch ein solides Stück Leben übrig, aber sie wissen schon nicht einmal mehr, wer die Frau ist, die ihnen die Schnabeltasse am Bett reicht, was alles andere als lustig ist. Den 50. Hochzeitstag feierten wir seinerzeit im deutschsprachigen Teil Belgiens nach mit Ausflügen nach La Roche, Bastogne, Stavelot und Spa. In Malmedy verweigerte mein Vater den weiteren Gang zu Fuß, setzte sich auf eine Bank und meinte, er werde warten, bis wir ihn wieder abholen. Meine Mutter setzte sich neben ihn. So ist das mit den alten Paaren eben.

30. März 2022

Sage einer was gegen diese Wetterpropheten. Ich kann am Morgen schon das beschneite Ilmenau vom Balkon aus belichten und dieses erfrischende Foto versenden. Mein Mitleid gilt den guten alten Laufenten, die ich seit Jahren bei ihrem emsigen Treiben beobachte, wobei ich weiß, dass Enten keine kalten Füße bekommen. Sonst würden ja auch auf allen Teichen nur niesende Enten umherrudern. Meine Warn-App teilt mir in bekannter Manier freundlich mit, dass ich eine Risiko-Begegnung hatte am 26. Februar, während die mich begleitende Gattin keinerlei solche erlebte, was mich leicht irritiert. Aber es kann natürlich sein, dass wir im Hotelrestaurant an unterschiedlichen Menschen mit vollen (oder leeren) Tellern vorbeigelaufen sind. An Symptomen mangelt es mir, ich vermisse sie freilich nicht. In der Bildbiographie „Einen Handkuss der Gnädigsten“ lese ich heute das Kapitel „Roda Roda und der Film“, sehe den Meister beim Rollenstudium in der Badewanne.

29. März 2022

Mein neuer profitabler Fitness-Tracker zeigt mir heute zum vierzehnten Mal in Folge 10.000 Schritte an, was meine AOK-App veranlasst, mir als „Beginner“ Punkte und Euro gutzuschreiben. Es war zunächst gar nicht so einfach, alles richtig und funktionierend zu installieren, nun aber muss ich nur meinen gegen Falschschreibung allergischen Zugangs-Code hintippen und schon sehe ich den rollenden, beinahe hätte ich: Rubel gesagt, also den Dings, den die Russen nicht mehr wollen. Die Propheten des Wetters prophezeien Kälte und Winter, was mich an jenes wunderschöne Jahr erinnert, da ich nach Spanien wollte und mit all meinen Kollegen den Flieger nach Barcelona verpasste. Auch vor 25 Jahren auf Ischia war das Wetter an diesem letzten kompletten Urlaubstag scheußlich, in Ischia Porto erwischten wir eine enttäuschende Bewirtung, zahlten aber zuletzt nur 58.000 Lire. Wir haben die neuen Reiseunterlagen für Belgien, die Restzahlung ist morgen fällig.

28. März 2022

Zu meinen medial verursachten Verunsicherungen gehört der Umstand, dass ich ständig Ruinen serviert bekomme im Fernsehen, vor denen sich Menschen nach rechts oder links bewegen, manche mit einem Einkaufswagen aus einem nicht sichtbaren Supermarkt. Ich höre von Menschen, die tagelang in Kellern saßen und nichts zu essen und zu trinken hatten. Ich weiß, dass das gelogen sein muss, weil tagelang nichts essen geht, tagelang nichts trinken aber nicht. Wen interessiert angesichts der Bilder und der immer lauter werdenden Fragen, wann wir endlich in diesen Krieg eingreifen, ohne dass es aussieht, als würden wir eingreifen, dass vor just 200 Jahren zu Gotha ein gewisser Rudolph Zacharias Becker starb, dem die Welt das „Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute“ verdankt. Außerdem könnten wir am 9. April seines 270. Geburtstages gedenken, aber da wird der Krieg immer noch nicht zu Ende sein und die Not nicht nur unter den Bauersleuten sehr groß.

27. März 2022

Seltsamerweise fragt die Frau an der Rezeption wieder, ob ich die Rechnung wünsche, die ich schon habe, weil ich sie beim Einchecken sogleich beglich. Immerhin sind wir willens, auch die nächsten Touren gen Berlin wieder mit dem Hotel zu verknüpfen, welches Frühstück inklusive bietet und nicht einen Sonderzusatzpreis, mit dem man in Mittelafrika ein halbes Dorf eine Woche solide ernähren könnte. Wir fahren wie immer ab Hauptbahnhof, der Zug ist wie immer pünktlich, die Ruhezone nützt uns freilich nicht viel, weil ein westdeutschen Dialekt sprechender Bürger männlichen Geschlechts seine Verlautbarungen an die mit ihm reisenden Damen mittleren Alters ostdeutscher Herkunft wie einen Probedurchlauf für eine Kasernenhof-Ansprache exekutiert. Eine der Damen hängt leuchtenden Auges an seinen Lautsprecher-Lippen und ich erfahre von der Frau an meiner Seite, dass just dieser Mann am Morgen schon im Hotel beim Frühstück heftig nervte.


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