Tagebuch

13. August 2023

Nix mit Mauer heute. Maxim Biller hat einen Roman über seine Mutter geschrieben. Das verrät mir ein Nachrichtenmagazin aus Hamburg. Ich habe nichts gegen Bücher über Mütter, es darf durchaus auch die eigene sein. Aber ein Roman? Gut, ich habe eben erst eine gewisse Grunddistanziertheit zum Roman als solchem bekannt, das macht mich verdächtig. Aber: Über Rada Biller las ich in der Vergangenheit schon dies und jenes, vor allem jenes, und jetzt denke ich: wenn schon, denn schon. Aber ein Roman? Laut Besprecher kommen in dem Roman wirkliche Personen vor, was schonmal nicht sonderlich überrascht. Nur haben die wirklichen Personen nicht ihre wirklichen Namen, denn sonst könnte es diesem Roman ergehen wie einem anderen von Biller, der ihn aus der vorhandenen Feuilleton-Berühmtheit vorübergehend in eine diese transzendierende Berühmtheit drückte. Richtig: „Ezra“ hieß das Opus. So genannte Schlüsselromane spekulieren auf Insider, eher eine Kleingruppe.

 

12. August 2023

Ich bin eine vernachlässigbare Größe. Einer von denen, an denen ohnehin nichts gelegen ist. Das wäre eine deprimierende Erkenntnis, wenn ich sie nicht direkt von Gotthold Ephraim Lessing auf mich bezogen hätte. Über Wielands „Agathon“ schrieb er: „Roman? Wir wollen ihm diesen Titel nur geben, vielleicht, dass es einige Leser mehr dadurch bekömmt. Die wenigen, die er darüber verlieren möchte, an denen ist ohnehin nichts gelegen.“ Ich gönne jedem Buch die Bezeichnung Roman, wenn es dadurch mehr Leser bekommt. Bei uns werden ganze Buchpreise ausschließlich für Romane vergeben. Der Zirkus führt alljährlich zu einer Longlist, aus der eine Shortlist wird, die wiederum das Rezensionsprogramm der Feuilletons fast übers Jahr ausfüllt. Eher würden zwei Kamele aufrecht auf ihren Hinterbeinen nebeneinander durch ein Nadelöhr gehen, als dass ich ein Buch läse, weil es ein Roman ist. Ich lese allenfalls mal einen Roman, obwohl er ein Roman ist.

11. August 2023

155 Millionen Zuschauer am ersten Wochenende, lese ich eben auf einer Wirtschaftsseite der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, hatte der Barbie-Film, „das ist der beste Kinostart ever, der beste von einer Frau produzierte Film ever und überhaupt“. Solche Sprache würde ich ever und überhaupt aus einer Zeitung verbannen oder ich würde im vorliegenden Falle verfügen, dass die Autorin vorher recherchiert, wie hoch der Anteil der Schleichwerbung am Kassenerfolg war. Ich habe in allen, in buchstäblich allen Zeitungen, die mir zuletzt in die Hände fielen, hochgradig rosafarbene Riesenartikel gefunden, die sich mit der komischen Puppe beschäftigten, von der wir im Osten verschont blieben, bis uns die deutsche Einheit überrollte und uns die Erinnerung an Flax und Krümel rauben wollte, an Meister Nadelöhr und Professor Flimmrich. Block Buster nennen sich seit langem solche Gelddruckmaschinen, Dolly Buster hat, heißt es, wenig damit zu tun.

10. August 2023

Wenn ein linkes Wochenblatt seiner aktuellen Ausgabe vier Druckseiten beilegt, die sich „Bündnis Bahn für alle“ nennen, dann muss man tapfer sein: nichts lesen, keinen Satz ernst nehmen, alles ist verlogen und natürlich in einem Maße selektiv, das kaum zu überbieten ist. Eben sah ich eine Reportage darüber, wie gruselig es mit der deutschen Verkehrsinfrastruktur aussieht: die Brücken haben es sogar bis ins Feuilleton geschafft. Nur ein ernster Wille, Wirksames zu tun, ist nirgends zu erkennen. Hier faselt man von beschleunigten Genehmigungen, während in Genua die Brücke, die eingestürzt war, schon wieder überquert werden kann. Man schaut tatenlos zu, wie Italien und Österreich den Brenner-Basistunnel seinem Ziel immer näher bringen, während auf deutscher Seite die üblichen Verdächtigen sich freuen, dass es noch zehn Jahre dauern kann, bis der erste Edelstahl-Spaten in die grüne deutsche Erde gestochen wird für folgende dreißig Jahre deutscher Bauzeit.

9. August 2023

Eben erst las ich in meinem alten Tagebuch aus dem Jahr 1997, wie wir uns in unserem Ferienhaus in Søgne im Sørlandet den Taschenkrebs und andere Leckereien munden ließen, am Vortag in Mandal auf dem Markt erworben. Natürlich war mir damals nicht bewusst, dass Gustav Vigeland in Mandal geboren wurde. Jetzt weiß ich es und ich habe heute vor einem Jahr den phantastischen Gustav-Vigeland-Skulpturenpark in Oslo gesehen. Die inquisitorische Frage, ob ich auch den „Schrei“ von Munch sah im phantastischen Munch-Museum, beantworte ich verneinend. Ich sah ihn nicht und es entringt sich mir kein Schrei darob. Das Museum als solches ist sehenswert und wer Zeit genug hat, den wahrlich stolzen Eintrittspreis nicht nur nutzen zu können, um wie ein Verrückter zum „Schrei“ zu rennen und dann schon wieder raus zu müssen, möge es tun. Wir setzten schnöde Preis und Leistung ins Verhältnis und verzichteten. Ach Oslo, du entschwandest.

8. August 2023

Viele Jahre war die sechsbändige DDR-Tucholsky-Ausgabe, herausgegeben von Roland Links unter Mitarbeit von Christa Links, die meistbenutzte unter meinen Büchern, ohne dass ich je einen Band systematisch von vorn bis hinten gelesen hätte. Roland und Christa Links leben nicht mehr. Ich kannte beide, weil ihr Sohn mein Freund war und ist. Christa sah ich zuletzt bei der Hochzeit ihres Sohnes Christoph mit Luise. Aus nachvollziehbaren Gründen also sandte ich aus Schweden eine Bildnachricht an meinen Freund, als ich am Grab von Kurt Tucholsky stand und kniete, ich legte nach jüdischem Brauch ein Steinchen auf die Grabplatte. Band IV der genannten Ausgabe hat einen heftig zerrissenen und mühsam reparierten Schutzumschlag, das frühe Opfer eines aus seinem Gitterbett nach den nahen Buchrücken grapschenden Kleinstkindes, das 1984 meinen Arbeitsplatz zu blockieren begonnen hatte. Schloss Gripsholm sah ich am 8. August 2022, vor einem Jahr also.

7. August 2023

Mein Handy, also mein Smartphone, das ich so nenne, erinnert mich mit einer gewissen Ausdauer fragend daran, was ich vor einem Jahr oder zweien tat. Dann sehe ich musikalisch begleitete Fotos von Stockholm etwa, wo ich tatsächlich war, am 7. August schon in Helsinki. Vor 32 Jahren aber, 1991, war ich mit Komplettfamilie in Budapest, wir wohnten vom 24. Juli bis 10. August in der Üllői ut 65-67 und konnten aus dem Fenster die arg hässliche Straße sehen, die in ihrer Länge an die Heerstraße in Berlin erinnert, die wir damals aber noch nicht kannten. Am 7. August 1991 war meine Vater-Rolle gefordert: eine glaubhafte Zeugin notierte, ich hätte drei Kerle angeschissen, die sich anmachend benahmen, Schachspieler, wenn ich mich recht erinnere, im flachen Warmwasser, die vorbei treibende Mädchen begrapschen wollten. Im Palatinus Bad auf der Margareteninsel, der Margit-sziget der Ungarn. In dem ich auch ohne Familie zwischen 1965 und 1976 mehrfach war.

6. April 2023

Verblüffend, wie viele Mittdreißiger, die die DDR nur in Windeln erlebten, heutzutage Spiegel-Seiten und andere West-Spalten mit ihrem Pseudowissen füllen dürfen und bei jeder Gelegenheit die Meinung transportieren, die in der jeweiligen Redaktion auch am liebsten vertreten wird. Meine alte Unart, Zeitungen nicht selten etliche Wochen später erst zu lesen, führt mir die Haudrauf-Kampagnen gegen Katja Hoyer vor Augen, die ein Jahr jünger ist als mein Sohn, der an die DDR nicht sehr viel mehr Erinnerungen hat als an Wespen in der Maracuja-Limonade aus Arnstadt. Und Arnstadt hat anders als Ilmenau zuletzt keine medienwirksame Schlägerbande vorzuweisen, die den Aufmerksamkeitshorizont durchstieß und die gute alte Universitätsstadt in falschen Verruf brachte. Trost für Ahnungslose aller Redakteursgehaltsstufen: ein sehr guter Freund, 1955 geboren in Halle mit Saale, hatte 2021 völlig vergessen, dass man in der DDR am Sonnabend in die Schule ging.

5. August 2023

Die Literarische Welt, die sich seit längerem auf den ersten Sonnabend im Monat zurückgezogen hat, widmet heute Herta Müller mehr als eine ganze Seite, weil sie am 17. August 70 Jahre alt wird. Wenn der Geburtstag da ist, werde ich kein schlechtes Gewissen haben, ihn zu ignorieren. Sie hat mir einfach zu oft Werbung für den dicken Chinesen gemacht, der gern gestapelte alte Stühle als Kunst verkaufte. Was mich ärgert, ist, dass ich zu Götz R. Richter nicht kam, dessen Geburtstag am 1. August war, der 100. sogar, nur lebt er anders als Henry Kissinger eben nicht mehr und ich bin auch mit Hans Ostwald noch immer nicht fertig. Als ich zuletzt über Richter schrieb, gab es nette Reaktionen. Jetzt müsste ich über mein schmerzendes und geschwollenes Knie schreiben, meine verstauchte rechte Hand und meine geprellten Rippen, aber wer schreibt schon gern über die eigene Tollpatschigkeit. Im übrigen steht mir vom Jahrgang 1953 einer klar am nächsten: das bin ich selbst.

4. August 2023

Die Zahl der Rechtschreibreformer, die sich über meine Känguruhs beschwerten, hielt sich im niedrigen zwölfstelligen Bereich. Als gäbe es nicht andere Kampfplätze für den Frieden. Zum Beispiel das Wahrzeichen. Hier in Ilmenau könnte man dies und jenes anführen: den Hausberg Kickelhahn, die tanzenden Ziegen, mit etwas besserem Willen selbst den Apothekerbrunnen. Wobei unter Wahrzeichen-Puristen gilt: pro Stadt ein Wahrzeichen, der Rest ist Inflation. Nun lese ich auf einer Seite Anzeigen-Sonderveröffentlichung, das sind die Seiten in großen Zeitungen, die so tun, als wären sie Journalismus und das gleich mit der Kopfzeile abwehren, vom Budapester ikonischen Wahrzeichen Fischerbastei. Ich kenne die Fischerbastei seit meinem ersten Budapest-Besuch 1965, da lagen die jetzt die Rentenkasse killenden Baby-Boomer noch in den Windeln oder kackten ohne in die Hose. Ich weiß auch, was ikonisch ist, glaube ich. Die Halászbástya jedenfalls sicher nicht.

3. August 2023

Wenn ich Horst Bredekamp, 76, wäre, würde ich mich auch dagegen verwahren, eine Expertin zu sein, egal wofür. Dennoch nennt DFB-Autorennationalspielerin Falko Hennig, 1969 geboren, ihn vorerst so, weil sie in gleichem Atemzug ihre Mutter, Jahrgang 1938, ins Spiel bringt, die ebenfalls keine Expertin sein will. Abgesehen davon, dass es schweinelustig ist, am Tag des Ausscheidens der deutschen Frauenauswahl bei der WM in Dingsbums, also da unten bei den Koalas und Känguruhs, dreispaltig hoch sich freuende deutsche Spielerinnen zu sehen. Blöd, wenn man Wochenzeitung ist und zusätzlich die Genderei mittlerweile soweit treibt, dass die störenden Sonderzeichen gleich ganz weggelassen werden. Horst Bredekamp ist, um die wenigen Milliarden, die ihn nicht kennen, mit Hilfswissen zu dopen, ein Kunsthistoriker und Bildwissenschaftler. Möglicherweise fördert die berufliche Fixierung auf Statik (Bild) Interesse an Dynamik (Frauenfußball) mehr als zu vermuten.

2. August 2023

Das Auswärtige Amt, das streng genommen ein inwärtiges ist, eben nur für Außen zuständig, hat eine Reisewarnung für Niger ausgesprochen. Das sprach mir aus dem Herzen und ließ einen kleinen Stein von selbigem fallen. Endlich kann ich ruhigen Gewissens alle meine bezüglichen Reisepläne fallen lassen, es waren genau genommen nicht sehr viele, noch genauer war es kein einziger. Ich wollte nie nach Niger, auch nach Nigeria nicht und ich bin mir nicht einmal sicher, ob diese Länder überhaupt noch so heißen dürfen, wo bei uns schon die Mohrenstraßen entmohrt werden. Kann ja sein, dass einst Legastheniker diese Ländernamen verteilten und so ein einfaches kleines g vergaßen in all ihrer Unbefangenheit. Wenn ich freilich von Niger aus die Welt zu betrachten hätte, würde ich Länder, in denen Billig-Märkte den Klimawandel im Würstchen-Preis abbilden, als vom gelinden Wahnsinn befallen ansehen, mein Kopfschütteln würde die obere Halbwirbelsäule akut gefährden.


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