Harald Gerlach: Der Pfahl

Dass Autoren ihren Werken bisweilen ein Motto voranstellen, ist weder Ausnahme noch Regel, es geschieht einfach. Wie Harald Gerlach es aber gemacht hat für sein Bühnenstück „Der Pfahl“, das er zudem „Eine deutsche Komödie“ nannte, fällt aus jeder Reihe, welche auch immer man nimmt. „Nein!“ steht da als einziges Wort mit einem Ausrufezeichen und als Quelle ist kein Werk angegeben, dem es entnommen ist, sondern ein Name und ein Ort „Bacunin in Locarno“. Es hilft kaum weiter, wenn man weiß, dass der russische Anarchist Bakunin sich im November 1869 in Locarno im Schweizer Tessin niederließ, dass er 1873 sich eine Villa in Minusio kaufte ganz in der Nähe und auch nahe der Grenze zu Italien. Wann und warum er dieses „Nein!“ gesprochen oder geschrieben hat, bleibt zwangsweise im Dunklen, weil es eben keinerlei Zusammenhang aufweist. Bakunin könnte auch zu einem Kellner in Locarno auf die Frage, ob er Milch in seinen Tee haben möchte, mit einem energischen „Nein!“ geantwortet haben. Einen Bezug zwischen ihm und dem Geschehen im Stück, das sich sogar auf den Tag genau datieren lässt, es ist der 6. Dezember 1527, gibt es nicht. Genauer: es gibt ihn nur im Kopf von Harald Gerlach, er ist dessen eigenes Konstrukt.

Am genannten 6. Dezember 1527 befindet sich der Wiedertäufer Hans Hut, eine historische Figur, dessen genaues Geburtsdatum unbekannt ist (vermutet wird 1490 als Geburtsjahr) in einer Zelle des Gefängnisses in Augsburg, wo er eine Haftstraße verbüßt. Er ist, so meint es wohl der Stücktitel, sowohl buchstäblich als auch im übertragenen Sinn an einen Pfahl gebunden. Zu Beginn des Stückes redet er mit einer Frau, die sich bald als seine Frau erweist, aber zu diesem Zeitpunkt nicht tatsächlich in seiner Zelle ist. Tatsächlich kommen der Bischof und der Schließer zu ihm, der Bischof hofft, den Inhaftierten in dieser oder jener Form zum Widerruf seiner Überzeugungen zu bringen, der Schließer hilft dem Täufer insgeheim, wo er kann, bringt ihm Nachrichten und auch Post. Wer mit Harald Gerlachs Werk vertrauter ist, weiß vielleicht, dass der einzige Band mit kurzen Geschichten, den er je veröffentlichte, „Vermutungen um einen Landstreicher“, mit der Geschichte „Nachtzeit“ eröffnet wird, in der just jener Hans Hut mit seiner Frau in seinem Häuschen sitzt und es herrscht Kälte zwischen beiden, weil er aus ihrer Sicht dabei ist, Frau und Kinder für seine Ideen im Stich zu lassen. Die Geschichte endet mit Ausblick auf seinen Tod im Kerker zu Augsburg.

In Harald Gerlachs Gedichtband „Mauerstücke“ (1978) gibt es ein vierzeiliges Gedicht mit dem Titel „Müntzer in Heldrungen“. Es sei hier komplett zitiert: „Ihr grinst, wenn unter / der Folter ich spreche? / Das Lachen des Siegers / bezeugt seine Schwäche.“ Müntzers Verhalten in Heldrungen kommt im Stück wie auch in der drei Seiten langen Geschichte vor. Man kann also folgern: der Stoffkomplex hat Gerlach intensiv beschäftigt und in sehr unterschiedlichen Formen zur Gestaltung gedrängt. Das Täuferthema und die Rhön spielen auch in der zweiten Geschichte des genannten Bandes, „Athanasius Truckenbrod“, ihre kleine Rolle, dort aber mit andere Namen. Im Stück wie in der Geschichte steht Hans Hut vor der Frage, ob Thomas Müntzer ein Verräter war, ob er Namen von Mitstreitern preisgab, möglicherweise auch seinen. Der historische Hut war Müntzer-Schüler, auch Teilnehmer der entscheidenden Schlacht bei Frankenhausen, konnte aber entkommen. Gerlach lässt in seinem Stück den toten Thomas Müntzer mit seinem Kopf unterm Arm auftreten (Müntzer ist tatsächlich mit dem Schwert enthauptet worden). Und er darf sich ganz im Sinne des zitierten Gedichts auch gegenüber dem Mann am Pfahl äußern, erklärend, nur eben deutlich ausführlicher.

Dem ersten fiktiven Dialog mit Müntzer folgt ein zweiter, nun tritt der Bauernführer als Henker auf, kurz bevor Hans Hut in seiner eigenen Zelle verbrennt. Die historische Überlieferung geht von einer Selbsttötung aus. Die bei Gerlach im Stück jetzt zum zweiten Male auftretende, nun wohl reale, Frau verleugnet den Gatten, der verkohlte Tote sei nicht Hans Hut. Folgt man bis hier der natürlich verkürzten Darstellung dessen, was Gerlach auf einer Bühne gespielt sehen möchte, stellt sich zunächst auch die Frage, was an dem allen denn nun Komödie ist. Wer Komödie mit komisch in Verbindung bringt, was ja nicht sonderlich willkürlich wäre, wird herb enttäuscht vom Text: es gibt nicht einen komischen Satz, keine komische Szene, zum Lachen ist nichts. Das Ganze ist letztlich ein Debattenstück und umkreist argumentativ im Dialog Fragen, die weit über die Zeit von 1527, auch weit über einen konstruierten Bezug zwischen 1527 und dem russischen Anarchisten Bakunin und dem Anarchismus als Strömung hinausgehen. Das offenbart sich vor allem an Regietexten des Autors, die auf der Bühne nicht oder kaum zu spielen sind, wie Beispiele zeigen werden. Zuvor muss auf das Erscheinungsjahr des Buches verwiesen werden, in dem sich „Der Pfahl“ findet.

Es ist das Buch mit dem arg lapidaren Titel „Spiele“, erschienen 1983 im Aufbauverlag Berlin und Weimar innerhalb der Reihe Edition Neue Texte (ENT). „Der Pfahl“ bildet dort den Auftakt von acht Texten. 1983 aber war das große Lutherjahr der DDR und „Der Pfahl“ darf und sollte auch in diesem Zusammenhang gesehen werden. Der Name Luther fällt im Stück nur einmal und dann in einem deutlich negativen Sinne. Müntzer aber kannte in der DDR jedes Schulkind, er war in den, wie man es heute nennt, Gründungsmythen der DDR, der bekanntlich Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen galt, der Gute im Vergleich zum letztlich Bösen, zu Luther, der die Bauern verriet. Ich habe acht Jahre lang eine „Thomas-Müntzer-Schule“ besucht. Hätte uns jemand gesagt, unser Namenspatron hätte unter Folter Kameraden und Mitstreiter verraten, wäre das wohl als üble Verleumdung zurückgewiesen worden. Wir sind mit Geschichten über vorproletarische und proletarische Klassenkampf-Helden aufgewachsen, Verräter waren immer andere. Harald Gerlach geht es im Stück aber nicht etwa um Denunziation eines des bekanntesten dieser Helden, viel eher führt er sein Denken und Tun als womöglich sogar vorbildlich vor, schenkt ihm kluge Dialogsätze.

Dass die DDR in Form ihres offiziellen Literaturbetriebs mehr als nur irritiert war, zeigt die einzige Kritik zu „Spiele“, geschrieben von Christoph Funke (1934 - 2016), einem der bekanntesten Theaterkritiker der DDR, der eine Zeit lang auch stellvertretender Chefredakteur des Zentralorgans der Blockpartei LDPD, „Der Morgen“, war und nach 1990 unter anderem für den „Tagesspiegel“ arbeitete. In der NDL, der Zeitschrift des Schriftstellerverbandes, gab er eine an der Kernsubstanz von „Der Pfahl“ erschreckend vorbeigehende, peinlich verkürzende Inhaltsangabe, Kritik im Wortsinn meldete er lediglich an sexueller Drastik im Text (und weiteren des Bandes) an. Die Kritik aus dem Jahr 1984 (Juni-Heft) spricht freilich kaum über den Kritiker Funke, sondern darüber, was diese DDR auch ihren klugen Kritikern aufnötigte: irreführende Darstellungen, falsche Wertungen, Übersehen und Verschweigen. Denn hätte er beschrieben, was er gelesen (gespielt wurde das Stück zu DDR-Zeiten in der DDR nie, eine Uraufführung soll es 1985 in Frankreich gegeben haben), dann hätte die gut mit Spitzeln durchsetzte Chefredaktion der NDL das kaum durchgehen lassen. So ändert die Existenz dieser einen Kritik nicht den Befund: Das Buch „Spiele“ wurde totgeschwiegen.

Um so verblüffender ist, dass der Essay, den Ulf Heise für das Kritische Lexikon der Deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG) schrieb, ebenfalls kein Wort für die Bühnenwerke Harald Gerlachs, immerhin zwei Bände (der zweite war „Folgen der Lust. Neue Spiele“, 1990), übrig hat. Heise verschweigt gleichfalls das komplette essayistische Schaffen von Gerlach, was für ein Lexikon wie KLG eigentlich nur peinlich ist (immerhin erwähnt er mich zitierend, was meiner Eitelkeit schmeicheln müsste, mein Ärger überwiegt aber). Meinem Missmut kompletten Ausdruck zu geben, erwähne ich noch die Übersicht über die Sekundärliteratur zu Gerlach, die sich in „Harald Gerlach. Dichter und Theatermann“, 2007, Herausgeber Kai Agthe und Lothar Ehrlich, findet. Dort wurde die Kritik von Christoph Funke schlicht vergessen, nur eine russische ist verzeichnet (ich ebenfalls mit der schon genannten, obwohl ich zu DDR-Zeiten mehrfach zu Gerlach schrieb, das aber waren Zeitungskritiken, die Agthe und Ehrlich ausklammerten und die KLG-Leute gar nicht erst recherchierten, obwohl es sicher keine unüberwindlichen Hürden dafür gegeben hätte). Die „Kritik“-Reihe des Mitteldeutschen Verlages muss spätestens seit 1975 ja ein Archiv angelegt haben mit gerade den verstreuten Tageszeitungskritiken, die zwischen Rostock und Suhl erschienen.

Man las in der DDR, so ein verbreitetes Trivial-Klischee, zwischen den Zeilen. Das klingt ungewollt so, als ob man den Zeilen selbst weniger Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Hier bei Gerlach muss man überhaupt nicht zwischen den Zeilen lesen, man muss allenfalls bewundern, wie kunstvoll er, was er sagen wollte, in die Zeilen selbst packte. Manchmal sind es nur drei Worte Regietext: „Lang anhaltender Beifall.“ Mitten im Dialog des Täufers Hut mit seiner Frau in einer Augsburger Kerkerzelle 1527? Natürlich ist das ein Zitat. Ein Zitat der üblichen nervtötenden Protokoll-Berichte von SED-Tagungen und Großveranstaltungen. Noch heute bedauere ich die armen Journalisten-Darsteller, die diese vollidiotischen Formulierungen in ihre Berichte bauen mussten, denn der Beiball für die SED war variantenreich, keineswegs nur langanhaltend, es gab auch stürmischen Beifall, die Delegierten erhoben sich von ihren Plätzen, es gab langanhaltenden und stürmischen Beifall, minutenlange Ovationen. Drei Worte mittendrin bei Gerlach und wir sind mitten in der DDR, die wiederum mitten im Jahr 1527. Der Täufer Hut wird von Gerlach (für mich nicht nachvollziehbar) als Anarchist gedeutet. Nachzuvollziehen wäre freilich eine späte Haltung.

Bakunin sagte, aus seinen Gesprächen ist das überliefert, zehn Tage vor seinem Tod zu seinem Freund Adolf Reichel (30. August 1816 – 5. März 1896), einem Schweizer Dirigenten und Komponisten: „Die Völker aller Nationen haben heute den revolutionären Instinkt verloren. Sie sind zu sehr mit ihrer Lage zufrieden, und die Furcht, auch noch das zu verlieren, was sie haben, macht sie harmlos und träge.“ Auf deutschsprachige Literatur von und über Bakunin konnte Gerlach in größerer Auswahl zurückgreifen, wenn er sich den entsprechenden Zugriff verschaffte. DDR-eigene Ausgaben gab es meines Wissens keine. Bakunin war, wie schon beim Überfliegen seiner Biographie zu sehen ist, auch so etwas wie der Erfinder des europäischen Revolutionstourismus. Wo immer es zu glimmen schien, wollte er vor Ort sein, noch als er krank war. Und war auch vor Ort, wo immer es sich ermöglichen ließ. Hans Hut in der Fassung von Harald Gerlach ist ein Redner, Rhetor, der auf Wirkung und Beifall aus ist, er ist, nach dem Willen von Gerlach, auch etwas wie ein Fundamentalist, der, mindestens im übertragenen Sinne, selbst über die Leichen seiner eigenen Familie geht. Im Kontrast zu ihm ist der schon tote Thomas Müntzer der Realist.

Thomas Müntzer und die Frau verkörpern in „Der Pfahl“ das Menschliche im Menschen, auf seine Weise tut das auch der Schließer. Hut aber sagt zur Frau: „Das Volk? Es will zu dem verführt sein, was als Ziel es nicht begreift: zu seinem Glück.“ Und die Frau entgegnet: „Das Volk braucht keinen, der ihm sagt, was sein Bedürfnis sein soll.“ Das war für die DDR eine heiße Aussage, ist aber heute, da die Welt noch immer oder wieder voll ist von Beglückern, die wissen, was andere wollen müssen zu ihren Glück, kaum weniger aktuell. Der Schließer sagt zu Hut: „Es gibt freilich noch eine zweite Wahrheit. Die heißt: ich kann nicht bloß von Idealen leben.“ Im Roman „Gehversuche“ (1985) findet sich der Satz: „Wer von der Hoffnung lebt, sagt Bruder Ludwig, wird nicht dick.“ Meine mit der guten alten Schreibmaschine am 23. Juli 1988 gemachten Zitat-Auszüge aus dem Roman zeigen mir: das war eine Endzeit-Diagnose für ein Land und sein System voller Text in, nicht zwischen den Zeilen. Müntzer sagt, bevor er anderes sagt: „Der Zweck, in solcher Lage, heiligt die Mittel.“ Und Hut antwortet: „Ich such die Fehler, Thomas, nicht die Schuld.“ Dann aber wieder solch ein Regiesatz: „die Anarchie vermag nicht über sich selbst zu grinsen“. Wie spielt man das wohl?

Man könnte es allgemeiner sagen: Jeder Fundamentalismus ist frei von jedem Humor. Von Haus aus also unerträglich. Müntzer: „Aufstände lohnen nur auf dem Papier.“ Müntzer: „und gewonnen nur die Erkenntnis, wie Menschen, durch Gebrauch von Macht entmenscht, bestialischer als jede Bestie sich aufführen.“ Müntzer meint den Bauernschlächter Mansfeld, Gerlach reicht er als Beispiel des Allgemeinen. Und abermals Müntzer: „Das Amt der Toten ist es, deutsche Anarchisten vor dem Ärgsten zu bewahren: vor dem Handeln.“ Hut spricht wenig später, was nun wirklich sehr direkt an Bakunin, siehe oben, erinnert: „Vergangenheit, der Klotz am Bein des Aufruhrs! Wir wolln die Welt verändern, täglich – doch um vier ist Feierabend.“ Genau deshalb gibt es immer wieder Menschen, die glauben, revolutionäre Situationen allein oder in kleinsten Gruppen herbeiführen zu müssen, für sie wurde das beschönigende, weil die innewohnende Menschenverachtung dessen ausklammernde, Wort von der revolutionären Ungeduld erfunden. Der Schließer fragte den Hut am Pfahl: „Wer gibt euch das Recht, Leute mit großen Worten zu verführen?“ Und Hans Hut spricht zu Müntzer, der als Henker zurückkam: „In diesem Land der toten Rebellen geschehen die Aufstände unter der Erde.“

Ich stelle dagegen, was Kritiker Funke 1984 drucken ließ: „Der Anarchist und Wiedertäufer Hut erlebt die Niederlage der revolutionären Bewegungen der Bauern im Kerker, zwingt den Dialog mit dem toten Müntzer herbei, steht zwischen Trotz, der das Scheitern der Utopie von der Gleichheit nicht wahrhaben will, und nüchterner Einsicht, die durch den Freitod revolutionäre Zukunft sichert („Der Pfahl“).“ Und das ist schon alles. Alles andere sind allgemeine Sätze über Schwierigkeiten, Stücke von Gerlach auf Bühnen zu bringen, über eher intellektuelle als sinnliche Fähigkeiten des Dramatikers Gerlach. „Nicht die Theaterleuten und Zuschauern noch immer gewohntere Geschichte wird geliefert, sondern der poetisch und historisch höchst anspruchsvolle Aufbau von These und Gegenthese.“ Das gibt nur scheinbar den Ball an Theaterleute und Zuschauer weiter. Man muss nur Theatertexte von Heiner Müller aus den achtziger Jahren anschauen, um zu sehen, was auf die Bühne gebracht werden kann, wenn es gewollt wird. Vielleicht ist es nicht die schlechteste Idee, den Blick auf „Der Pfahl“ mit Worten enden zu lassen, die Harald Gerlach in den Mund des Bischofs legte: „Verfluchtes Land, das statt auf Männer auf Mythen baut.“ Verfluchte DDR, könnte das gemeint haben, Land, das auf Thälmann-Mythen baute, auf Müntzer-Mythen, Oktoberrevolutions-Mythen. Dann wäre es auch in Abwesenheit der DDR nicht von vorgestern, so seltsam das klingt.


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