James Baldwin 90

Wenn ich mein nicht repräsentatives, aber durchaus ansehnliches Archiv zum Maßstab nehme, dann ist James Baldwin, der am 2. August 1924 in Harlem geboren wurde und am 1. Dezember 1987 im Süden Frankreichs starb, vollkommen vergessen. Ein einsames blaukariertes Arbeitsblock-Blatt ist vorn mit einen Gedenkartikel von Horst Ihde beklebt, erschienen am 20. Dezember 1987 im Sonntag, auf der Rückseite finde ich einen Leserbrief von Tom Pratsch aus Berlin, der am 10. Januar 1988 dem Sonntag ergänzende Informationen liefert, vor allem bezüglich der homosexuellen Seite Baldwins. Am 2. August 1989 gedachte die Tribüne des 65. Geburtstages von Baldwin, der anonyme kleine Zweispalter zeigt sich auf erschütternde Weise uninformiert, nennt sowohl den Essay „Am Fuße des Kreuzes“ als auch das Schauspiel „Blues für Mr. Charlie“ Romane, woraus zu folgern wäre, dass dieser Anonymus noch nicht einmal ein Nachschlagewerk zu Hilfe nahm für sein jämmerliches Artikelchen. Danach nichts mehr, jahraus, jahrein nichts mehr. Jedenfalls ist bei mir nichts mehr angekommen.

Greift man zu einer zu DDR-Zeiten in zwei Fassungen erschienenen Gesamtdarstellung „Literatur der USA im Überblick“, dann stehen einem schon nach wenigen Lektürezeilen die Haare zu Berge, die Herren Schönfelder und Wirzberger, über Jahre sattsam bekannte Nachwort- und Vorwort-Monopolisten für fast alles, was aus den USA kam, werfen dem „Negerschriftsteller“ Baldwin so ziemlich alles vor, was man einem Autoren vorwerfen kann, der nicht Kandidat des Zentralkomitees der SED ist oder wenigstens Mitglied der Kommunistischen Partei des USA mit Faible für Reden von Henry Winston. Selbst die mutige Stellungnahme für Angela Davis rettet kaum aus dem Dilemma, dass man keinen Blick für die Arbeiterklasse der Vereinigten Staaten und die mehrheitlich zu ihr gehörenden „Neger“ hatte. Wer nicht begriff, dass Rassenkampf Klassenkampf ist, der war akut vom Pessimismus bedroht, es fehlte in seinen Büchern die Zukunft als Perspektive und außerdem stand alles im Zeichen einer Überbetonung des Sexuellen.

In puritanischen Gegenden mag das eine verkaufsfördernde Charakteristik gewesen sein, so verkniffen aber war die DDR nicht einmal in den fünfziger Jahren, da stellt man sich in den Vereinigten Staaten noch heute anders an, und bis es im Altbundesgebiet in der Lederhose jodelte, vergingen auch ein paar Jahre. Schieben wir den Klassenkampf und das Sexuelle vorerst beiseite und wenden uns dem Essay „Ein Fremder im Dorf“ zu. Sein Erscheinungsjahr 1953 liefert die erste vollkommen subjektive Begründung für meine dann doch nicht ganz zufällige Wahl. Ich bin auch aus diesem Erscheinungsjahr und wenn ich lese, dass es darum geht, was ein Neger ohne Anführungszeichen in einem schweizerischen Dorf erlebt, dann bin ich umstandslos beim Erlebnis eines Ilmenauers ohne Anführungszeichen in Bellwald im deutschsprachigen Kleinteil des Wallis, der von seinem Balkon aus auf die unterhalb talwärts führende Straße blickte, als ein Neger mit Anführungszeichen, das Kraushaar weißblond gefärbt, im Vorbeiwandern laut „Gruezi!“ rief. Zudem war ja gestern auch in jenem Dorf Bundesfeier mit allem, was dazu gehört.

James Baldwin hat vermutlich nie in seiner Schweizer Zeit „Gruezi!“ gerufen, denn er hatte sich jahrelang (von 1948 bis 1957) in Frankreich aufgehalten, weil er es in seiner Heimat nicht aushalten konnte. Da landet man fast unweigerlich im frankophonen Teil der Schweiz. Er hatte für seinen Drang nach Europa allein aus dem Stall der amerikanischen Literatur zahlreiche Vorbilder und Vorgänger von Henry James bis Scott Fitzgerald und Hemingway, von Gertrude Stein bis Henry Miller. Ein ansehnlicher Teil seines frühen Werkes ist in Frankreich entstanden, aber eben auch in der Schweiz, wo er dem Essay zufolge so wenig Störungen ausgesetzt war, dass er die nötige Ruhe fand. Es soll Kritiker geben, die dies frühe Werk für das beste halten, was er in seinem nicht allzu langen Leben schrieb. Ich enthalte mich der Stimme, weil es hier ausschließlich um den Essay gehen soll, der in der Sammlung „Mein Kerker bebte“ enthalten ist, die der Verlag Volk und Welt Berlin in seine jedes nostalgische Lob verdienende Reihe Spektrum aufnahm (Nummer 54, zehn Nummern vorher, als 44, gab es schon die Erzählungen „Rückkehr aus der Wüste“).

Gemessen am Verriss der offiziellen Wirzberger/Schönfelder-Literaturgeschichte hat die kleine DDR überhaupt erstaunlich emsig James Baldwin publiziert, denn wie überbetont das Sexuelle auch immer war und das Homosexuelle gleich mit, immerhin mochte man dem möglicherweise eine kleine Sehnsucht nicht ganz unterdrücken könnenden Leser aus allererster Hand vorführen, wie dorten der Rassismus tobte und in der Tat, er tobte. Es gab die Romane „Eine andere Welt“ in der Taschenbibliothek der Weltliteratur, „Giovannis Zimmer“ bei Reclam, also beide in großen Auflagen, „Beale Street Blues“ als Hardcover und später noch als Romanzeitung 383, „Gehe hin und verkünde es vom Berge“, dazu „Amen Corner“ und „Keinen Namen auf der Gasse“ in einem Band vereint, das war schon ansehnlich. Und dank der DDR-Üblichkeit, dem eigenen Urteil der Leser möglichst einen stabilen Kanal zu graben, gab es fast immer Nachworte mit mehr oder minder viel Information in mehr oder minder großer Qualität. Herausgehoben sei Bernhard Scheller mit „13 Stichwörter statt eines Nachwortes“ in „Giovannis Zimmer“.

Was an „Ein Fremder im Dorf“ zuerst auffällt, ist die Unaufgeregtheit. Wer deutsche Entrüstungs- und Betroffenheitsrhetorik gewöhnt ist, die um so lauter schallt, je weniger die Entrüsteten und Betroffenen selbst betroffen sind, der ist verblüfft. Das soll der selbe Schriftsteller sein, der in einer Geschichte wie „Des Menschen nackte Haut“ die grausigsten Details an tobendem Rassismus nicht aussparte? Er ist es. Er geht sein Thema in einer Weise an, die keine Bitterkeit verschweigt und dennoch oder gerade deswegen zu sehr nüchternen und bisweilen auch ernüchternden Aussagen gelangt. Schnell ist die Schweiz mit ihrem Dorf nur noch der Anlass, denn es geht eben nicht um ernster grundierte Folklore. Es geht um die Fixierung dessen, was den schwarzen Nordamerikaner von den Schwarzen in anderen Ländern Amerikas und natürlich von denen in Afrika unterscheidet. „Unter den schwarzen Menschen in der Welt steht er insofern einmalig da, als ihm seine Vergangenheit mit einem Schlage geraubt wurde, was beinahe wörtlich zu nehmen ist.“

James Baldwin zeigt Verständnis für den weißen Rassismus und demonstriert zugleich und in einem, dass alles verstehen eben nicht alles verzeihen heißt. „Im Mittelpunkt des amerikanischen Negerproblems steht die Notwendigkeit, daß der amerikanische Weiße eine Lebensform finden muß, die es ihm ermöglicht, mit dem Neger zusammen zu leben, damit er mit sich selber leben kann.“ Vielleicht ist es naiv von mir, aber ich finde die fast nebenher geäußerte Ansicht Baldwins, die US-amerikanische Unverfrorenheit und Brutalität der Idee von der Überlegenheit der weißen Rasse hätten genau damit zu tun, dass sie aus einer unausweichlichen und direkten Konfrontation von Schwarz und Weiß herauswachsen, ziemlich bestechend. „Die Amerikaner sind allen anderen Weißen in der Welt so unähnlich wie nur möglich.“ Das eine steht komplementär zum anderen. „Amerikaner unterscheiden sich von anderen Menschen unter anderem dadurch, daß kein anderes Volk jemals so eng mit dem Leben schwarzer Menschen verknüpft war und umgekehrt.“

Und wie weit über das Problem hinaus reicht schließlich diese Einsicht, lange vor dem überschätzten Gorbatschow niedergelegt: „Menschen, die ihre Augen vor der Wirklichkeit verschließen, beschwören einfach ihren eigenen Untergang herauf, und jeder, der darauf besteht, in einem Zustand der Unbefangenheit weiterzuleben, lange nachdem diese Unbefangenheit überholt ist, verwandelt sich in ein Ungeheuer.“ Die Kinder im schweizerischen Dorf sind damit nicht gemeint. Wenn sie hinter Baldwin herlaufen und „Neger, Neger!“ rufen, dann hat das für ihn sogar den „Charme echter Verwunderung“. Es gibt im Dorf eine heiße Quelle, die Touristen anlockt: „Ein beunruhigend großer Teil dieser Touristen sind Krüppel oder Halbkrüppel.“ Ist die Wortwahl entschuldigt, weil sie die eines Schwarzen ist, der sich selbst Neger nennt? Diskriminierung ist auf alle Fälle sein Geschäft nicht: „Es liegt oft etwas Schönes, aber immer etwas Erschreckendes im Anblick eines Menschen, der eine seiner körperlichen Funktionen eingebüßt hat, die ihm bis dahin selbstverständlich war, und der nun darum kämpft, sie wiederzugewinnen.“ Baldwin hat immer noch recht, wenn er sagt: „... es ist eine der Ironien, die mit der Rassenfrage zusammenhängen, daß die Vorstellung, die sich der Weiße vom Schwarzen macht, dem Schwarzen zeigt, wer der Weiße wirklich ist.“


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