Ernst Balcke unter Eis

Man könnte von der Ungerechtigkeit der Welt reden, wäre die Welt für derlei Reden nicht taub. Man könnte der Welt gar Unzuständigkeit für derlei Reden zubilligen, denn wohin sollte es führen, wenn sie für jedes Unfallopfer der fahrlässigen Tötung oder auch nur der unterlassenen Hilfeleistung anklagbar wäre. Als also im 16. Januar 1912 (vgl. mein Text ERTRUNKEN IN DER HAVEL in dieser Rubrik) die beiden Freunde Georg Heym und Ernst Balcke beim exzessiven und gefahrverachtenden Eislaufen auf der Havel einbrachen und nach einigem Geschrei, das zwar gehört wurde, aber keine rettenden Hilfe auslöste, schließlich ertranken, hatte die Welt ihre Hand nicht im Spiel. Die „Berliner Zeitung“ vom Folgetag war noch hinreichend realistisch, mangels wirklich erhellender Zeugenschaft ihren Spekulationen keine sehr bestimmte Richtung zu geben. Immerhin vermeldete sie sogar die Anschrift, unter der die Toten als wohnhaft registriert waren, der Datenschutzbeauftragte Berlins würde heute wohl sofort sein alternatives Fahrrad besteigen und zwecks Protest persönlich in die Redaktion rollen.

Während Georg Heym am 20. Januar 1912 gegen 14.30 Uhr gefunden wird, dauerte es bei Ernst Balcke etliche Tage länger, genau bis zum 6. Februar. Während Georg Heym beim Zeitpunkt seines Todes immerhin schon eine kleine Berühmtheit war mit dem eigenen Band „Der ewige Tag“, kannten Ernst Balcke nur seine Freunde und sein nächster Bekanntenkreis. Vielleicht ist das die einfache und deshalb nie bedachte Begründung für die Darstellung des Geschehens, die behauptet, Georg Heym habe den eingebrochenen Freund Balcke retten wollen und sei bei dem Versuch dann schließlich mit blutigen Fingern selbst ertrunken. Vielleicht war es ja aber umgekehrt: vielleicht ist der deutlich kräftigere, deutlich schwerere Heym zuerst eingebrochen und Balcke wollte ihn retten? Zum hundertsten Todestag Heyms schrieb etwa Klaus Dieter Schönewerck mit größter Selbstverständlichkeit dem berühmteren und zweifellos auch um Potenzen besseren Dichter Heym den Ruhm des vermutlichen Rettungsversuches ins Stammbuch. Und das schreibt sich bis heute fort in Ost und West. De facto aber gibt es dafür ebensowenig einen sicheren Beleg wie für meine erwogene Möglichkeit.

Wer sich heute, am 125. Geburtstag von Ernst Balcke, umtut, was es zu finden gibt über den Mann, stößt fast umgehend auf das Problem: mangels kritischer Masse gibt es fast nichts zu ihm. Die einschlägigen Lyrikanthologien zum Expressionismus ebenso wie zahlreiche Darstellungen dieser gar nicht so klar zu definierenden Epoche der deutschsprachigen Literaturgeschichte klammern den Namen Ernst Balcke einfach aus. Wenn es ihn gibt, dann immer nur im Zusammenhang mit Heym, immer nur als Freund Heyms. Der ihm, das sei keineswegs verschwiegen, in „Der ewige Tag“ eines seiner Gedichte gewidmet hat, nur Jakob van Hoddis erfuhr in diesem Band die gleiche Ehre. Und schon im frühen Heym-Tagebuch, unter dem 15. Mai 1905, steht über Balcke: „Er ist der einzige Mensch, der hinter der äußeren Schaale meines kindischen Wesens, das Höhere herausfühlt. Auch ist er gut und ist auch ein Ringender zur Schönheit.“

Kennengelernt hat Heym Balcke 1904 im Tennisklub Blau-Weiß, man stammte aus gutem Hause und spielte also keineswegs Straßenfußball. Später unternahm man gemeinsam Reisen. Vieles wäre aus dem Leben beider leichter darstellbar, manches überhaupt erklärbar, könnte man beider Briefe heranziehen, doch ist der Briefwechsel Heym-Balcke verschollen. In der Hochzeit der (west-)deutschen Expressionismus-Renaissance war der aufgefundene Heym-Nachlass dem Nachrichten-Magazin DER SPIEGEL immerhin einen sechsseitigen Beitrag wert, man stößt auf ihn rasch, wenn man die GOOGLE-Suche zu „Ernst Balcke“ einleitet. Man stößt dort auch, leider und/oder zum Glück, auf all die Netz-Eitelkeiten, auf alle Phänomene, die bei einem Minister Plagiat heißen, beim normalen Piratenpartei-Wähler wohl freundlicher formieren, man zitiert tapfer ohne Kennzeichnung des Zitats. Allein der dürftige Wikipedia-Eintrag erscheint in anderen Portalen mehrfach wortwörtlich ohne Quellenangabe.

Man trifft auf Menschen, die zum Abitur über Heym schreiben mussten und der Welt das nicht nur voller Selbstbewusstsein kundtun, sondern schon sechs Jahre danach die Ein-Mann-Bewertungsjury spielen für die Äußerungen des deutschsprachigen Edel-Feuilletons zu Heyms Todestag. Man trifft auf Menschen, die eine Magisterarbeit zu Ernst Balcke verfassten mit dem Ziel seiner Ehrenrettung und der gleichen Welt mitteilen, dass es nichts Rettbares zu finden gab, die Gedichte Balckes seien einfach nicht gut genug. Das freilich wäre heute kein Grund, da jeder alles veröffentlichen kann und kein Verleger mehr einem Dichter rät, sich mit seinem Plunder doch besser nicht öffentlich lächerlich zu machen. Heute kassieren Verleger dafür, Plunder ungeprüft zu Büchern zu machen. Aber es laufen ja auch ehemalige drogensüchtige Kleinkriminelle herum, die in der Haft Malstunden hatten und sich nun mangels einer besseren Berufsbezeichnung Künstler nennen und in kleinen „linken“, weil alternativen Galerien ausstellen.

Man trifft auch auf einen kleinen Berliner Verlag, der eine Anthologie vergessener Dichter der Moderne im Netz ankündigt und erste Beispiele öffentlich macht. Immer taucht unter den Texten, drei sind es nur, von Ernst Balcke die Jahreszahl 1914 auf. Vermutlich ist das die Jahreszahl der ersten Drucklegung im Verlag Reuss & Pollack, denn überarbeitet hat Balcke seine Gedichte aus den Jahren 1909 und 1910 mit Sicherheit nicht mehr im Kriegsjahr 14, weil er da eben schon gut zwei Jahre mausetot war. Immerhin, um auf die Ungerechtigkeit der Welt zurückzukommen, ist dies geschehen: Georg Heyms Grab auf dem Friedhof der Luisengemeinde Westend am Fürstenbrunner Weg ist 1942 eingeebnet worden, Ernst Balckes Grab dagegen kann man in Berlin-Kreuzberg heute noch besichtigen, die Grabmal-Nummer steht im weltweiten Netz. Vielleicht hat ganz weit oben einer untrüglich gesehen, wer 1912 wen retten wollte aus dem Eis und dann entschieden, welches Grab bestehen bleiben muss. Das wäre die Fußnote zur Magisterarbeit, die Ehrenrettung eben.


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