Selbstmord aus gegebenem Anlass

Am 1. Mai 1912 ist in Zürich ein männliches Kind geboren worden, dem seine Eltern die Vornamen Eugen Gottlob gaben. Der Knabe war noch winzig, als die Familie nach Wangen bei Stuttgart umsiedelte. Was immerhin den Urgrund abliefert, dass des heutigen 100. Geburtstages von Eugen Gottlob Winkler, denn um den handelt es sich, wenigstens in der „Stuttgarter Zeitung“ gedacht wurde. Freilich auch mit Sätzen wie: „In Fachkreisen ist der Name Winkler zwar ein Begriff, auch in Kindlers Literatur-Lexikon findet man einen Eintrag über ihn. Doch für den Großteil der Bevölkerung dürfte er ein Unbekannter sein.“ Dem allein schon wegen seiner puren Existenz verdienstvollen Beitrag von Maira Schmidt ist zu entnehmen, dass auf dem Friedhof ein gewöhnlicher Stein auf Winkler verweist, nichts aber darauf, wer er war und auch am einstigen Wohnhaus der Familie in der Salacher Straße 5 fehlen Gedenktafel und Hinweis.

Dabei sollte es noch heute mehr als nur neugierig machen, wenn so überaus unterschiedliche Männer wie Hans Egon Holthusen (Jahrgang 1913), Walter Jens (Jahrgang 1923) und Durs Grünbein (Jahrgang 1962) diesen Winkler unabhängig von einander mit Superlativen bedenken, der mit nur 24 Jahren freiwillig aus dem Leben schied. Allein seine Sterbensgeschichte würde, wenn sie vermarktbarer eingeschätzt wäre, den Stoff für Boulevard-Stories abgeben. Da geht einer am eben von den Nationalsozialisten beschlagnahmten Wohnhaus von Thomas Mann in München vorbei, wird von einem Mann der Gestapo nach seinen Papieren gefragt, mehr passiert nicht. Der eine aber eilt nach Hause, mixt sich eine Überdosis Schlaftabletten zum tödlichen Trunk, legt sich nieder und wird, noch nicht tot, aber nicht mehr zu retten, mit einem Spiegel in der Hand gefunden, was andeutet, er habe sich beim Sterben so lange zugesehen, wie es eben ging.

Ein neunjähriges Mädchen hat ihn 1933 denunziert, weil er angeblich ein Wahlplakat abgerissen habe, zehn Tage Haft, ein Verfahren, das mit Freispruch mangels Beweisen endete, gaben, so die Deuter seines kurzen Lebens, offenbar den Ausschlag, dies nie wieder erleben zu wollen. Die politische Lesart seines Schicksals hat ihre Tücken, denn es gibt neben diesem einen Erlebnis im Jahr der „Machtergreifung“ viele Anzeichen dafür, dass Eugen Gottlob Winkler für den Suizid gewissermaßen prädisponiert war. Das lässt sich aus dem überschaubaren Werk wie aus seinen Briefen ableiten, es bedarf gar keiner übertriebenen Anrufung von Tiefenpsychologie. Könnte man aus heutiger Sicht in der 1947 im „Merkur“ zuerst veröffentlichten Studie von Hans Egon Holthusen, er nahm sie in seine berühmt gewordene und wiederholt aufgelegte Sammlung „Der unbehauste Mensch“ auf, ein „Geschmäckle“ finden, so steht der zehn Jahre jüngere Walter Jens unter deutlich geringerem Verdacht, auch wenn seine NSDAP-Zugehörigkeit mittlerweile publik geworden ist und angeblich sogar auf den Verlauf seiner Demenz gewirkt haben soll.

Jens beendete seinen Beitrag zu Eugen Gottlob Winkler in seinem ebenfalls weit verbreiteten und exemplarischen Buch „Statt einer Literaturgeschichte“ so: „Als Eugen Gottlob Winkler starb, hatte er 100 Seiten geschrieben  ... , die Bestand haben werden. 100 Seiten unvergeßlicher Prosa ... wie viel für einen Fünfundzwanzigjährigen!“ Wobei sich sicher trefflich streiten lässt, ob tatsächlich „Im Gewächshaus“ jene Prosa darstellt, die fünf Sterne verdient. Denn hier muss sich der Leser doch ziemlich quälen, um zu verstehen, was der junge Autor mit seinen in der Tat um höchste Prägnanz ringenden Be- und Umschreibungen eigentlich meinen könnte. Das passt zwar in jene Tradition deutscher akademischer Literaturwahrnehmung, die Qualität im reziproken Verhältnis zu Verständlichkeit vermutet, würde aber, als Erstlektüre zum Einstieg in der Kleinuniversum Winkler, wohl eher abschrecken als anlocken. Da ist die substantiell fast herkömmliche und dennoch auf rasante Weise unter die Haut gehende Geschichte vom Kind, das so lange wegen angeblichen Lügens bedroht, beschimpft und bestraft wird, bis es die unbegangene Tat zugibt, eher geeignet. Und so passt es, wenn Durs Grünbein in seiner mittlerweile auch schon wieder fast zwanzig Jahre alten Sammlung „Die Erkundung der Linie“ (Reclam Leipzig 1993) Winklers „Missetat“ an den Anfang setzt und „Im Gewächshaus“ an die zweite Stelle.

Das deutsche Literaturarchiv Marbach bewahrt in sieben Kästen Winkler-Bestände und wer sich auf die Spuren des 1936 aus dem Leben Geschiedenen begeben will, kann am 24. Juni eine vom Kulturamt der Landeshauptstadt Stuttgart geförderte literarische Führung nutzen, um mehr zu erfahren über den seltsamen Mann, der schon mit 21 Jahren zum Dr. phil. promovierte mit einer Arbeit über Klassiker-Inszenierungen auf französischen Bühnen. Durchsucht man potentielle Nachschlagewerke hierzulande nach Winkler, dann findet man erstaunt in dem immerhin zur Reihe „Rowohlts Deutsche Enzyklopädie“ gehörenden Band „Dichtung in finsteren Zeiten“ von Ralf Schnell den Namen Winkler nicht ein einziges Mal. Die Stuttgarter Reclam-Sammlung „Literatur im Dritten Reich“ führt Winkler immerhin im Personenverzeichnis und hat einen Auszug aus seiner Besprechung von Elisabeth-Langgässer-Gedichten parat. Lieblos ist der Lexikon-Beitrag in „Literatur in Nazi-Deutschland“ auch in der erweiterten Neuausgabe.

Die Sammlung des Büchner-Preisträgers Grünbein dagegen, inklusive des mehr als nur lesenswerten Nachwortes, sei Interessierten ans Herz gelegt. Hier finden sich die frappierenden Aufsätze, nur zwei zu nennen, über den späten Hölderlin und August von Platen. Hier lassen sich, was niemanden überraschen sollte und doch immer wieder überrascht, gnadenlos hellsichtige Sätze finden, die pro domo gelesen werden müssen und zugleich zeigen, dass Hellsicht einen Autor keineswegs davon abhält, das für sich Erkannte auch zur Maxime eigenen Handelns zu machen. Wer mag, kann sich des Themas Schwermut besonders annehmen. Allein die Schilderung des Kindes in „Missetat“ führt vor, wenn wir davon ausgehen, dass ein 24 Jahre alter Autor außer seiner eigenen kaum andere Kindheiten wirklich intim kennt, wie alles schon angelegt ist, was letztlich „nur“ eines äußeren Trittes, wie den der Gestapo in München, braucht, um in die vermeintliche Katastrophe zu münden, die dem Betroffenen vermutlich Erlösung hieß.

„Die großen Schwaben sind meistens außer Landes gegangen, da der Sinn für Größe im Volke wenig entwickelt ist.“ Schrieb Eugen Gottlob Winkler nicht nur bezüglich Hölderlins. „Die Schwermut vermag weder Wasser zu schöpfen noch Trauben zu greifen.“ mit Blick auf den mythischen Tantalus und seine Qualen. Und auch dies: „Mancher ist Dichter, weil er das Leben nicht kennt.“ Den beiden in der Stuttgarter Zeitung vorgestellten Winkler-Enthusiasten  Beate Schwarz und Jörg Kleinbeck sei aus der thüringischen Ferne ein Gruß gewidmet. Es ist keineswegs nötig, diesen Eugen Gottlob Winkler zum Goethe oder Schiller zu machen, es reicht, wenn er als Winkler in seinem Bestand geschützt, gepflegt und bekannter gemacht wird. Mehr geht kaum.


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