Lear, nicht König, nur Edward

Hätte mir Zweitausendeins aus Frankfurt am Main vor Zeiten nicht als „Dankeschön für Ihre Bestellung“ ein Büchlein geschickt, was in der Erinnerung haftet, weil es selten genug vorkommt, nur Bärendienst München pflegt solche kundenfreundlichen Gewohnheiten noch weiter, während bei den Alternativen dann doch der reine Markt den Sieg davon trug, dann wäre mir dieser Name unbekannt geblieben: Theo Stemmler. Das Büchlein war nämlich von Theo Stemmler, es trug den Titel „Vom Tennis“ und war damit dazu verurteilt, von mir nie gelesen zu werden. Mein Interesse für Tennis hat selbst in den besten Zeiten keine deutlich von Null unterschiedenen Werte erreicht, also hielt mich nur meine altbürgerliche Abneigung gegen Bücher-Wegwürfe davon ab, es aus meinem Besitz irreversibel zu entlassen.

Jetzt aber ist mir der Name Stemmler erneut über den Weg gelaufen, ich habe die üblichen Internet-Schnell-Recherchen hinter mich gebracht und erfahren, dass dies ein leibhaftiger Professor ist, der heute noch eine e-mail-Anschrift der Mannheimer Uni besitzt und im ruhmreichen Jahr 1936 geboren wurde. Dieser Stemmler hat, was ich tapfer finde, Limericks von Edward Lear übersetzt. Ich finde es tapfer, weil kein Geringerer als Hans Magnus Enzensberger das auch schon versucht hat, der nannte seine Exerzitien Schmuggel und die versammelte Schmuggelware trägt in der ersten Auflage des Insel-Verlags Leipzig den dezenten Hinweis „Der Vertrieb außerhalb der DDR ist nicht gestattet“. Ich weiß nicht, ob vom Europäische Gerichtshof die Frage schon endgültig entschieden ist, inwieweit mit dem Ende der DDR das Buch somit allgemeinem Vertriebsverbot unterliegt.

Wenn ich also vorsichtig auf „Edward Lears Kompletter Nonsens. Ins Deutsche geschmuggelt von Hans Magnus Enzensberger“ aufmerksam mache, dann will ich, erkläre ich vorsorglich an Eides statt, kein mögliches Vertriebsverbot subversiv aufweichen, sondern nur auf Edward aufmerksam machen, denn dessen 200. Geburtstag ist heute. Enzensberger nutzte, als er den Übertragungen ein Nachwort folgen ließ, es geschah im Februar 1977 und zwar in Venedig, die ungemein günstige Stunde für einen Rundumschlag, der freilich in diesem Nachwort noch nicht jene Reichweite erzielte, die HME nunmehr im SPIEGEL für sich verbuchen darf. Zitat: „Seit ungefähr zweihundert Jahren hegt in Europa eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, die der sogenannten Erwachsenen, die abergläubische Vorstellung, es gebe so etwas wie eine Kinderliteratur. Das ist natürlich, wie alle Kinder wissen, ein ausgemachter Blödsinn.“

Man kann mit ausgemachtem Blödsinn enorm Kohle scheffeln, wenn man nicht gerade Edward Lear heißt. Der war das zwanzigste von 21 Kindern eines Börsenmaklers, heute wäre das immer noch eine gewisse Sicherheit, nicht zu den bildungsfernen Schichten abgedrängt zu werden und er war ein unglückliches Kind. Er war ein geschlagenes Kind. Es ist freilich ein altbackenes Gerücht, dass die Erziehung, die ihm seine 21 jahre ältere Schwester angedeihen ließ, dazu führte, seine sexuellen Interessen vom weiblichen Geschlecht und seinen Teilen abzuwenden. Man hatte damals noch ein schlechtes Gewissen, wenn man schwul war und wurde keineswegs Regierender Bürgermeister. Ob Lear eine solche Entwicklung auf gut englisch progress genannt hätte, kann hier nicht erörtert werden. Noch einmal Enzensberger: „Für Kinder aber ist es immer vorteilhaft, wenn ihre Erzieher sich allen möglichen Illusionen hingeben.“ Auch für die Erzieher hat das Reiz, sie müssten sonst allzu oft aus dem Lehrerzimmerfenster springen.

Edward Lear hat bis 1888 gelebt, starb am 29. Januar in San Remo, was nicht die schlechteste Gegend zum Sterben ist, wenn man aus England kommt. Vor allem aber hat er gezeichnet, gemalt, geschrieben, er war ein Pionier und Meister des Limericks, ohne zu erfahren, dass, was er da reimte, diesen Namen trug. Wir kommen damit auf Umwegen zurück zu Theo Stemmler, denn das Übertragen eines Limericks in deutsche Reime erfordert mindestens das Ausweichen auf andere Ortsnamen. Aus Whitehaven wird bei Stemmler Süd-Schwaben, während Enzensberger den Raben in eine Krähe verwandelt und den Tänzer nach Rügen umsiedelt. Womit schon bewiesen ist, dass der Emeritus so mutig gar nicht war, wie oben behauptet, denn er ergriff eine sich anbietende Möglichkeit und die Möglichkeit wand sich nicht lange unter dem Zugriff.

Es gibt die geradezu umwerfende Geschichte von den sieben Elternpaaren mit ihren insgesamt 49 Kindern, welche in die Welt hinaus ziehen. Sie umfasst vierzehn Kapitel und trägt die geschmuggelte Überschrift „Die Geschichte der Sieben Familien vom Pippel-Poppel-See“. Alle 49 Kinder verlieren in der Welt draußen ihr mehr oder minder fürwitziges, beratungs- und belehrungsresistentes Leben, was die Eltern keineswegs zu neuen Zeugungsakten animiert, sondern zu einem kollektiven Selbstmord. Vielleicht haben schwule Epileptiker des neunzehnten Jahrhunderts einen solchen Humor notwendigerweise. Edward Lear hatte ihn. Er fand sich selbst mindestens so hässlich wie Franz Moor sich sah, um seinen Aggressionen eine Basis zu geben. In Wirklichkeit war Lear ein durchaus ansehnlicher Mann, der eben eine Erklärung brauchte, warum er dort nicht gefiel, wo er gefallen wollte.

Das Buch, für das ich seinerzeit 8,80 Mark der DDR auf den Ladentisch am Ilmenauer Apothekerbrunnen legte, stand lange bei Enzensberger in meinen Regalen. Jetzt aber steckt es zwischen Charles Dickens und Charlotte Bronté. Ich messe dem keine tiefere Bedeutung bei. Lear teil das Schicksal aller meiner Bücher. Sie stehen nach dem Geburtsjahr ihrer Verfasser.


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