Hermann Conradi, Schöpfer Hüpfebeins

Die Skandale von vorgestern entlocken uns heute kaum noch ein müdes Lächeln, meistens jedenfalls. Der Prozess, der 1890 gegen einige Schriftsteller geführt wurde, deren Namen heute kaum noch jemand kennt, reagierte auf einen solchen Skandal. Er ist in die Geschichte als so genannter Realisten-Prozess eingegangen. Es ging um den Vorwurf der Verbreitung von Unmoral und die Missachtung „heiligster Prinzipien“. Einer der Angeklagten freilich, der Hoffnungen in das Verfahren gesetzt hatte, Hoffnungen auf Ruhm nämlich, konnte den Gerichtssaal nicht mehr zum Tribunal machen, wie es ihm vielleicht vorschwebte. Er starb, nicht 28 Jahre alt und damit in genau dem Lebensjahr, das hundert Jahre später in der musikalischen Pop-Kultur Mythenbildungen hervorbrachte, weil Janis Joplin, Jimi Hendrix und Kurt Cobain, um drei zu nennen, in diesem Alter aus dem Leben schieden, einem seltsamen Gesetz der Serie folgend.

Als 1890 jedoch Hermann Conradi starb, galt früher Tod in Not und Armut eher als übliches Dichterschicksal mit langer trauriger Tradition in Deutschland. Conradi seinerseits hat einem seiner Vorgänger einen langen Aufsatz gewidmet: Daniel Leßmann (1794 – 1831). Hartnäckig hielt sich das Gerücht, er habe sich seinen Tod selbst gegeben wie eben Leßmann. Es war dann aber doch ein langjähriges Lungenleiden, dem er erlag und zwar in Würzburg, wo sich auf dem Hauptfriedhof heute noch seine Grabstätte findet. Für kurze Zeit schien nach dem frühen Tod Conradis Ruhm tatsächlich beinahe grenzenlos. 1911 erschien eine dreibändige Werkausgabe bei Georg Müller in München, für die man im Augenblick je nach Antiquariat zwischen 98 und 217 Euro hinblättern muss. Die einzige spätere Ausgabe, die nennenswert und vielfach leicht greifbar ist, hat der Gustav-Kiepenheuer-Verlag innerhalb seiner Bücherei als Band 47 herausgebracht, das war 1983 in der DDR. Diese Ausgabe verzichtet allerdings auf die erzählerischen Texte ebenso wie auf die Lyrik, sie sammelt „Schriften“, darunter die 1889 separat gedruckte zeitpsychologische Betrachtung „Wilhelm II. und die junge Generation“.

1906, als der sonst eher als „Alraune“-Autor beleumundete Hanns Heinz Ewers im Berliner Globus-Verlag ein Buch erscheinen ließ mit dem Titel „Führer durch die moderne Literatur. 300 Würdigungen der hervorragendsten Schriftsteller unserer Zeit“, stand Hermann Conradi zwischen Michael Georg Conrad und Louis Couperus, einem Vordenker des deutschen Naturalismus und einem Niederländer. Der Text über ihn endet mit dem Fazit:  „Unter den Vorkämpfern für die sogenannte literarische Revolution Deutschlands steht somit der Name Hermann Conradi an erster Stelle.“ Weil Ewers damals drei Mitarbeiter hatte, deren Nachruhm deutlich stärker  wirkte, hat sich ein kleiner Verlag in Hannover, der Revonnah Verlag, entschlossen, 2006 einen Neudruck zu veranstalten. Ich gehöre zu seinen dankbaren Nutzern. Die drei hießen, um das nicht zu verschweigen: Victor Hadwiger, Erich Mühsam und René Schickele.

Weil der Verlag darauf verweist, das Buch am exakt 78. Todestag von Stanislaw Przybyszewski gedruckt zu haben, das war demnach der 23. November 2005, soll dieser polnische Autor auch umgehend zu Wort kommen. Ihm der Igel Verlag Paderborn eine achtbändige Studienausgabe widmete. Pzybyszewski, der Jahre in Deutschland verbrachte und mit der Avantgarde der damaligen Literatur in Kontakt kam, traf drei Wochen vor dessen Tod auf Hermann Conradi, in einer Kneipe, beide hatten dann den gleichen Heimweg: „Er schwankte von einer Kante des Gehsteigs zur anderen, drückte den riesigen Kalabreser tief in die Stirn und rezitierte lauthals sein unendlich trauriges Gedicht „Da nun die Nächte kamen...“ Für den Polen galt es, als er seine Erinnerungen schrieb, als ausgemacht, dass aus der ganzen wilden Zeit nur zwei Romane überdauern könnten, Carl Bleibtreus „Größenwahn“ und Hermann Conradis „Adam Mensch“. In beiden Fällen hat sich Prybyszewski geirrt. Seine Erinnerungen an Berlin und Krakau, 1985 unter dem Titel „Ferne komm ich her“ im schon genannten Gustav-Kiepenheuer-Verlag erschienen, sind dafür immer noch eine feine zeitgeschichtliche Quelle.

Das Werk, dem ich vor nunmehr zehn Jahren spontane Begeisterung für den mir bis dahin nur namentlich bekannten Conradi verdanke, trägt einen etwas umständlichen Titel. Es heißt: „Warum Herr Pastor Hüpfebein heiraten mußte. Eine höchst lobesame und feinmanierliche Geschichte“. Knapp zehn Druckseiten umfasst sie und erzählt, wie der Titel ankündigt, von einem Pastor. Der hat Probleme mit seinem Geschlechtsleben und vollzieht die bescheidenen Versuche, darein Ordnung zu bringen, bei Damen des horizontalen Gewerbes. Dabei zieht er sich einen höchst weltlichen Tripper zu und der ihn deshalb behandelnde Arzt nimmt wohl seine Honorarrechnung, nicht aber die ärztliche Schweigepflicht sonderlich ernst. Als die Nachricht vom Leiden seines Pastors zum Superintendenten dringt, erweist der sich als geradezu vorbildlicher Erzschelm. Er ruft nicht etwa Gottes Strafgericht auf den Sünder herab, sondern nötigt diesem sein Töchterlein auf, welches eben akut Gefahr läuft, ein spätes Mädchen zu werden. Und das späte Mädchen schenkt dem Pastor Hüpfebein brav Pastorenkind um Pastorenkind. Was der Erzähler mit dem Satz kommentiert: „Aber Dorfkantoren pflegen in der Regel ebenso fruchtbar zu sein wie Kaninchen.“

Das nun aber war, selbst einem phantasiearmen Gemüt leicht vorstellbar, nicht die Art von Literatur, die in der Kanzelpredigt, der Sonntagsschule oder auf dem Gymnasium zum Zwecke höherer Bildung empfohlen werden konnte zu Zeiten Kaiser Wilhelm II. Da musste die Justiz ran, da ging sie auch ran, siehe oben. Doch während Kläger und Richter längst vergessen sind, hat sich der Gegenstand der Empörung lebendig gehalten, wogegen das Vergessen nicht spricht, welches die skandalisierten Autoren betraf. Wobei für mich ohne gilt: Hätte Conradi nur diese paar Seiten geschrieben, wären sie es wert, in gewissen Abständen immer wieder einmal neu beworben zu werden. Conradi hat natürlich auch sehr engagierte Lyrik verfasst, die einen bisweilen seltsamen Messianismus verströmen. Er hat mit „Karl“, der Szene aus einem Kinderleben, eine unsentimentale, unpathetische Momentaufnahme aus tiefer Armut niedergeschrieben. Die Studie dieses Arbeiter-Vaters, die so gar keinen heroischen Klassenkämpfer darstellt, der in seiner Freizeit Broschüren von Lasalle oder gar Marx und Engels liest, sondern Schundromane, geht unter die Haut. Da ist einer hilflos, da ist einer überfordert wie nur irgendein Vater. Da lässt einer in sich Aggressionen gegen die eigene Frau zu, weil die nicht kommt und dem sterbenden Kind hilft, dem der Vater nicht helfen kann, weil er ein pflichtbewusster Arbeiter ist, der eher das Kind sterben lässt, als seinen Arbeitsplatz zu verlassen.

Zu den Leistungen Hermann Conradis in seinem kurzen Leben gehört auch der leider vergebliche Versuch, Daniel Leßmann dem Vergessen zu entreißen. Conradi gab dessen „Wanderbuch eines Schwermüthigen“ neu heraus, das war auch Anlass für den oben bereits genannten Essay. Der demonstriert eine nicht nur erstaunliche Kenntnis von Literaturgeschichte, verbunden mit der Fähigkeit, sie prägnant in Kurzformeln zu fixieren. Der hat auch die mir wichtige Nebenwirkung zu zeigen, dass es nicht erst heute nichts hilft, wenn verständige Menschen auf gute Literatur verweisen, die dem Vergessen anheimfiel, ohne das verdient zu haben. Leßmann, ein Jude, den angeblich Goethe und Heine schätzten, ich habe es nicht überprüft, fehlt heute selbst in sonst vorbildlichen Darstellungen deutsch-jüdischer Literaturgeschichte und entsprechenden Lexika. Heute ist Hermann Conradis 150. Geburtstag. Eine gute Gelegenheit für einen vergeblichen Versuch.


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