Johann Gottfried Seume 250

Als der heute vor 250 Jahren geborene Johann Gottfried Seume das Vorwort für sein Buch „Mein Sommer 1805“ datierte, war der reichlich drei Jahre ältere Friedrich Schiller schon mehr als ein halbes Jahr tot. Ob er auf dieses Vorwort reagiert hätte und wenn ja, wie, bleibt spekulativ. Immerhin geht Seume den Klassiker, den er auch persönlich kennen gelernt hatte, hier in einer wichtigen Sache frontal an: „Gedankenfreiheit ist eine Erfindung der Despotie. Sie ist und wird weder gegeben noch zugestanden: jeder denkt, indem er ist, durch sein Wesen.“ Dies darf sich, wer aktuell oder retrospektiv feuchte Augen und Hände bekommt, wenn der jeweilige Posa-Darsteller in der jeweiligen „Don Carlos“-Inszenierung den König, in dessen Reich die Sonne nicht untergeht, bedrängt, ins Stammbuch schreiben. Als Goethe Anfang August 1810 im böhmischen Teplitz einrückte, war es noch keine zwei Monate her, dass der am 13. Juni dort verstorbene Seume dort auch zu Grabe getragen wurde. Notiz davon hat Goethe keine genommen, jedenfalls keine, die überliefert wurde, soweit ich es sehe.

Damit bleibt Christoph Martin Wieland tatsächlich der einzige aus Weimar, dem Seume wirklich etwas war und bedeutete. Wenige Tage nach dem diesjährigen Wieland-Jubiläum mag es deshalb nicht unerwähnt bleiben, dass sich Seume, Altersgefährte von Jean Paul, dessen Jubiläum auch bevorsteht, acht Monate jünger als Johann Gottlieb Fichte, dessen Todestag sich im kommenden Jahr genau an Seumes Geburtstag zum 200. Male jähren wird, gerade gegenüber dem ihm fast väterlichen Wieland besonders öffnete. Ein etliche Seiten umfassender Brief Seumes an Wieland, beide hatten sich wahrscheinlich, schreibt Peter Goldammer, im November 1801 erstmals persönlich getroffen, gibt mehr Persönliches preis als andere Quellen. Goldammer kommt übrigens das Verdienst zu, diesen Brief erstmals komplett und buchstabengetreu veröffentlicht zu haben (in: Impulse 4, Aufbau-Verlag 1982).

Seume erinnert sich unter anderem an ein Treffen mit Wieland bei Herzogin Anna Amalia in Tiefurt und er schreibt: „... die Erinnerung tritt wie ein Rosengebüsch aus einer Steppe hervor.“ Was Wieland als mindestens überraschendes Bild vielleicht erstaunte, bildete für Absender Seume ein eher nahe liegendes Vergleichsfeld. Denn im Gegensatz zu Wieland und den meisten anderen der bedeutenden Zeitgenossen hatte er tatsächliche Welterfahrung, wusste, was eine Steppe ist aus eigener Anschauung. Sein wenig freiwilliger Militärdienst als hessische Handelsware (Schiller hat aus dem Vorgang in „Kabale und Liebe“ Weltliteratur gemacht) in Nordamerika, sein sehr viel bereitwilligerer Dienst im weiten Russland vermittelten ihm mehr tatsächliche Weltanschauung im Wortsinne als alle Klassiker zusammen aufweisen konnten, deren realer Aktionsradius eng, enger, am engsten blieb. Das kurze Leben Seumes wartete mit Brachialerfahrungen aller Art auf von der schon genannten Zwangsrekrutierung über polnische Gefangenschaft bis zu schwerstem körperlichen Leid am Lebensende.

Vergessen ist er, nicht zuletzt weil die deutsche Biographien-Industrie in Jubiläumsnähe immer die Motoren anwirft, glücklicherweise nicht. Zunächst lieferte Eberhard Zänker 2005 die laut Verlag Faber & Faber Leipzig erste umfassende Biographie Seumes seit mehr als hundert Jahren. Dem Todesjubiläum 2010 ordnet sich direkt Dirk Sangmeisters „Seume und einige seiner Zeitgenossen“ (Ulenspiegel Verlag Erfurt) zu, das noch fast 200 Seiten mehr Umfang bietet. Und jetzt eben greifen alle Redaktionen, die sich dem runden Geburtstag widmen, auf Bruno Preisendörfer zurück. Sein „Der waghalsige Reisende. Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben“, Galiani Verlag Berlin, ist fast noch druckfrisch, während von den Vorgängern bereits keine Rede mehr ist. Der Vergleich der Titel verhilft vielleicht einem aufstrebenden Philologen zu einem akademischen Grad, bei Zänker fand ich neben den vielen informativen Fakten ärgerlich hausbackene Urteile, das mag seinen Nachfolgern Ansporn gewesen sein.

Das erwähnte Vorwort zu „Mein Sommer 1805“ enthält eine hübsche Philosophie des Fußwanderns, die fast kurioserweise in Zeiten, da DER MENSCH geneigt ist, mit seinem Automobil womöglich bis vor seine Schlafzimmertür zu fahren, mehr Aktualität zu besitzen scheint als seinerzeit 1806. „Ich halte den Gang für das Ehrenvolleste und Selbständigste in dem Manne und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Man kann fast überall bloß deswegen nicht recht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zuviel fährt. Wer zuviel in dem Wagen sitzt, mit dem kann es nicht ordentlich gehen. ... Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.“ Vermutlich wird in späteren Ausgaben diese Stelle umgeschrieben werden müssen, denn wenn alle Neger und Zigeuner aus der Weltliteratur getilgt sind, kann alle Energie darauf verwendet werden, den Machismo aus den Texten zu exorzieren. Denn vollkommen selbstverständlich gilt das vom Gehen Gesagte auch für Frauen und Mädchen. Ob Seumes Einseitigkeit damit zusammen hängt, dass er zwei große unglücklichen Lieben hinter sich zu bringen hatte, eine zu Wilhelmine Röder, eine zu Johanna Loth, darf vorsichtig als Forschungsdesiderat notiert werden.

Zu meinen schreibtischnahen Seume-Beständen gehört ein Büchlein mit dem Titel „Apokryphen“, es hat ein arg langes Nachwort von Werner Kraft und ist in einer mir erst einmal sympathischen „Bibliothek des skeptischen Denkens“ erschienen (Verlag Johannes G. Hoof). Als ich in meinem unergründlichen Archiv meinen 25 Jahre alten ersten und einzigen Seume-Artikel herauskramte (heute in die Rubrik ALTE SACHEN gestellt), sah ich rasch, wie ich der doch ergänzungsbedürftigen Seume-Lesart der damaligen Zeit nicht ganz entwichen bin. Der Text bleibt Dokument, auch wenn ich der dazumal mit Vorliebe kolportierten Auffassung, die auch mit dem schon zitierten Vorwort argumentierte, dass nur politische Literatur gute Literatur sei, jetzt widersprechen müsste. Interessant ist immerhin, dass gegen Ende der DDR Bärbel Raschke sich die Mühe machte, für Seume selbst die Allgemeingültigkeit dieser These in Frage zu stellen (siehe Impulse 12, Aufbau-Verlag 1989). Heute neige ich dazu, das als Indikator einer von vielen Erosionserscheinungen des nämlichen Staatswesens zu deuten.

In den „Apokryphen“ jedenfalls stehen auf jeder einzelnen Seite mehr kluge Sätze als ganze Tageszeitungsrubriken mit dem Aphorismus des Tages oder wie auch immer sie heißen mögen, im Monat dem Leser vorsetzen. Mir gefällt beispielsweise: „Faulheit ist Dummheit des Körpers, und Dummheit Faulheit des Geistes.“ Oder: „So verstümmelt ist oft die menschliche Natur, daß Tyrannen ihre Wohltäter werden müssen.“ Oder: „Niemand ist vor den andern ausgezeichnet groß, wo die andern nicht sehr klein sind.“ Besonders häufig kreisen Seumes Überlegungen und Formulierungen um das Phänomen der Privilegien. Immer wieder geißelt er sie, immer wieder sind sie ihm der Urgrund aller aktuellen und künftigen Weltübel. Diese Notizen sind in den Jahren 1806 und 1807 entstanden und nehmen manches auf, was schon aus „Mein Sommer 1805“ bekannt klingt. Nur jetzt prägnanter, apodiktischer aufgeschrieben.

Wieland, um ihn noch einmal zu Wort kommen zu lassen mit einem seiner gern zitierten Superlative, schrieb nach Seumes Ende: „... sein Tod ist ein zwar unerkannter, aber eben darum desto größerer Verlust für die Menschheit. Jahrhunderte können vergehen, bis Natur und Schicksal sich vereinigen, wieder einen Mann wie Er hervorzubringen.“ Auch über Kleist hat Wieland wenige Jahre zuvor ähnlich euphorisch geschrieben. Das damalige Urteil gilt heute als Beleg für die ungeheure Weitsicht Wielands. Sollte er angesichts Johann Gottfried Seumes so vollkommen daneben gelegen haben? Die Frage mag stehen bleiben bis zum nächsten Jubiläum.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround