Tagebuch

24. Februar 2019

Wie gehabt: 10.30 Uhr ab Berlin Hauptbahnhof, auf die Minute pünktlich 13.38 Uhr an in Ilmenau, Technologieterminal. Nach „Italienische Nacht“ gleich zum Quartier, Abschied in der Goethestraße hatten wir schon gestern. Zwei Becher Obst, wie gehabt, drei Zeitungen für unterwegs, darunter den sonntäglichen TAGESSPIEGEL, der just dem neuen Quartier rund um die Mercedes Benz Arena eine ganze Seite widmet. Eine ganze Seite bekommt auch James Baldwin, nicht sehr viel weniger Marion Brasch mit ihrem neuen Buch in alter Wohngegend. Es erscheint an meinem Geburtstag, an dem ich schon nicht mehr an Marion Brasch denken werde. Barbara Vinken durfte in der WELT eine ganze Seite über Karl Lagerfeld füllen, der keinen Stress kannte, nur Strass. Die Berliner Kleingruppenkarte für 19.90 Euro wandert in meine Lesezeichen-Sammlung, die sechs neuen Biersorten von Ambrosetti in die Etiketten-Sammlung. Abends Gelber Muskateller aus Langenlois.

23. Februar 2019

Eine Pilgerstätte war Alt-Stralau früher nicht, auch wenn dort ein gewisser Karl Marx anno 1837 eine Weile gewohnt hat, wie ich einem Schild in der Nähe zweier Denkmäler entnehme. Das waren die guten alten Zeiten mit Doktor-Club und Fern-Dissertation des Jung-Akademikers, der, wenn ich nachrechne, da wirklich maßlos jung war. Ein wenig erinnert der Ufergang der Halbinsel jenem in Venedig in Richtung Giardini und weiter, den man auch sehr gut bewandern kann, wenn keine Biennale stattfindet. Hier in Alt-Stralau ist jetzt Wohnen angesagt, auf dem Friedhof mit der kleinen Dorfkirche liegen die Herren Manfred Bofinger und Fred Rodrian erfreulichen Andenkens. Auf der Warschauer Brücke genießen wir eine der offenbar typischen Berliner Bau-Schildbürgerstreiche, wir müssen in Griffweite von Peter Pane einmal über Rom und New York diverse Treppen hinunter und hinauf, weil der Brückenzugang nicht benutzt werden darf. Nur 25 Minuten bis zur Schaubühne.

22. Februar 2019

Wie gehabt: 7.18 Uhr ab Ilmenau Pörlitzer Höhe, 10.29 Uhr auf die Minute pünktlich in Berlin Hauptbahnhof. Unterwegs die üblichen Stationen, unüblich nur kurz vor dem Ziel eine gigantische Schar von Kranichen auf zwei schon recht grünen Feldern. Nein, sie sind nicht mit Graugänsen zu verwechseln, denen es schlicht an der nötigen Beinlänge mangelt, auch ist der Gänseschnabel dem Kranichschnabel ungefähr so ähnlich wie ein Klassiker der Theaterliteratur der Inszenierung, die den Titel missbraucht, um eigenen Ambitionen von Intendanz und Regie in Ermangelung originaler Texte ein gewisses Vorschuss-Interesse zu sichern. In Berlin landet das Gepäck neben der Rezeption in dem dafür vorgesehenen Raum, es gibt eine Marke mit Nummer. Ich teste die Laufzeit aus der Wielandstraße zur Schaubühne, Rückweg über Dahlmannstraße und Stuttgarter Platz, Pressekarte und Programmheft wohlverstaut in der Tasche. Drei Mini-Stempel gibt es bei Langer & Blomqvist.

21. Februar 2019

Die Himbeeren, die ich mit der Kuchengabel aus ihrer Plastikschale hole, entstammen einem sicheren Herkunftsland: Marokko. Würde ich sie zurücksenden, wären sie dennoch von der Todesstrafe bedroht, was an ihrer Verderblichkeit liegt. Seit meinem ersten Jungdiabetiker-Kurs weiß ich um die Bekömmlichkeit der Him-, verglichen mit anderen Beeren, weshalb ich mich ihnen gegenüber von meiner unersättlichen Seite zeige. Kurt Eisner hielt am 3. Januar 1919 in der Sitzung des Provisorischen Nationalrats eine Rede zum Thema „Die Stellung der revolutionären Regierung zur Kunst und zu den Künstlern“. Sieben Wochen später war er tot. Erschossen am 21. Februar von Anton Graf Arco auf Valley. Auf ihn schossen Eisners Leibwächter ihrerseits, er überlebte schwer verletzt auch dank einer Notoperation durch Dr. Ferdinand Sauerbruch, den wir derzeit in der Serie „Charité“ von Ulrich Noethen gespielt erleben. Vor seinem Skalpell, sagt man, waren alle gleich.

20. Februar 2019

Wenn ein Teil einer sich selbst gern „die Größte“ nennenden vermeintlichen Lokalzeitung mit den Titeln ihrer irreführend (bei allen Zeitungen freilich) „Bücher“ heißenden Teile konstant so etwas wie Etiketten-Schwindel betreibt, dann ist das vielleicht zu beklagen. Früher waren Ilmenauer mit zu viel Arnstadt in ihrer Zeitung jedenfalls unzufrieden (und umgekehrt), heute kommt die zweite  Seite fast ganzseitig mit Mühlhausen. Man muss tapfer sein. Immerhin, ich hatte mir am Vormittag den Missmut vertrieben mit Ulrich Roski auf YouTube, las etwas Karl Scheffler, etwas Gabriele Tergit, dachte anderthalb Sekunden an Sarah Kane, die vor 20 Jahren starb, an Brigitte Reimann, die es vor 46 Jahren tat. Und Christian Pfeiffer mit drei f ist weit weg von jeder Feuerzangenbowle heute 75 geworden. Er ist in die deutsche Dödel-Geschichte eingegangen mit seiner Nachttöpfchen-These zur Erklärung der DDR-Wesensart. Sein Denkprodukt Scheiße zu nennen, liegt auf der Hand.

19. Februar 2019

Wer einen Schwager hat, der ihm angelegentlich als kleine Beigabe zu einer gemeinsam bestellten Weinlieferung einen soliden Topf Kartoffelsuppe a la Oma Hilde liefert, mit Würstchen, mit dem frischen Sauerkraut, der wünsche sich und haargenau diesem Schwager ein langes Leben. Andere sind am 19. Februar gestorben: Umberto Eco, Harper Lee, Friedensreich Hundertwasser, Knut Hamsun, André Gide und natürlich als Ideengeber für das Sterben an diesem Tag: Georg Büchner. Mit den Geburten klappte es 1945 bei Thomas Brasch, zehn Jahre später bei Siri Hustvedt und vor vier Jahren mit einem Bürger männlichen Geschlechts, dessen Identität hier dem Datenschutz weiterhin unterliegt, den ich, so die Umstände es verfügen, bald aus einer Einrichtung abholen werde, die mit dem Kürzel KITA bezeichnet wird im gesamtdeutschen Sprachgebrauch. Mit Finsterbergen telefonierte ich heute, eine sehr freundliche Dame kannte gar meinen Cousin Bernd.

18. Februar 2019

Keine „Ratten“-Kritik in den Zeitungen, ich habe noch immer die Chance, als erster öffentlich zu sein, obwohl mich das kaum mehr interessiert. Tragikomödien nach Trauerfeiern sind keine gute Psychotherapie. Immerhin denke ich über Menschen nach, die Gerhart Hauptmann nicht mögen und sich dennoch Stücke von ihm anschauen. Meine Karl-Kraus-DVD mit vollständiger „Fackel“ in zwei Formaten zeigt nach langer Auszeit wieder einmal ihre Dienstbarkeit, sie liefert mir einen Text von Berthold Viertel aus dem Jahrgang 1911. Was wäre das früher für ein Aufwand gewesen. Die Fernsehzeitung kündigt einen Zweiteiler an, der in die DDR 1988 zurückführt. Dabei ist von einem Kreisparteileiter die Rede, den es in jener DDR nie gab. Wohl allen Drehbuchautoren, allen Textern und Redakteuren, die mangels Ahnung nie merken, wie miserabel manchmal Recherchen sind. 1988 regte sich auch niemand mehr auf über Westfernsehen, man baute Kabelanschlüsse. Wegen RTL.

17. Februar 2019

Bisweilen bekommt meine Tankstelle von einer Zeitung kein einziges Exemplar. Das Geheimnis hat sich mir noch nicht entschlüsselt, wie das funktioniert. Manchmal geht ganz Ilmenau leer aus, dann liegt es an der Logistik des Grossisten, erfuhr ich. Nachlieferungen sind schwierig, also eigentlich unmöglich. Gestern fand ich noch Zeitungen mit der farbigen Todesanzeige, innen das Prospekt eines Reiseveranstalters aus Finsterbergen. Wann war ich zuletzt dort? Als mein Onkel Werner noch lebte, der Bäcker, der von Mühlberg über Schwabhausen schließlich dort landete, um am Backofen zu sterben? Er züchtete Riesenschecken, so etwas haftet im Gedächtnis, denn nie vorher hatte ich Kind derart riesige Kaninchen gesehen. Die WELT von gestern, wegen eines Geburtstagskindes im Gästebett erst heute gelesen, vermeldet die Insolvenz von KNV. Was mein gar nicht so schlechtes Gewissen entlastet, den neuen Vertrag mit dem Buch-Großhändler nicht unterschrieben zu haben.

16. Februar 2019

Als anno 1967 neun Delegierte der Polytechnischen Oberschule Gehren mit Namen „Thomas Müntzer“ zur Erweiterten Oberschule in Ilmenau gingen, gab es weder eine Frauenquote, noch wurde auch nur an eine solche gedacht. So gingen denn sieben Jungen und nur zwei Mädchen aus der Dimitroff-Straße in Gehren für vier Jahre zur Goetheschule in der Herderstraße. Vier der sieben Jungen leben nicht mehr, den vierten, meinen Freund Frank Müller, haben wir gestern verabschiedet für immer. Fast 14 Jahre sind vergangen seit der Trauerfeier für Reinhard Escher, ebenfalls in Gehren. Und ich denke natürlich auch an Werner Dreßel und Jürgen Minner. „Es werden immer mehr Gräber, die wir beim nächsten Klassentreffen besuchen müssen“, sagte jemand von denen, die im vorigen Jahr nur meine Gehrener Rede als Videobotschaft zu hören bekamen. Nur zwei Jahre trennen uns noch vom Jubiläum 50 Jahre Abitur. Frank wird nicht mehr dabei sein, leb wohl, Alter.

15. Februar 2019

Wenn ein Kritiker in einer Besprechung seinen Lesern mitteilt, dass der Polier John in Gerhart Hauptmanns „Die Ratten“ Arbeit als Mauer in Hamburg gefunden habe, dann meint er keineswegs, John stehe in Altona auf der Bühne im „Sommernachtstraum“, er hat einfach nur ein R vergessen und das eingesparte Korrektorat konnte dies nicht feststellen. Selbiger Kritiker wusste auch, dass das polnische Dienstmädchen im Drama ein Kind von einem verlassenen Liebhaber bekommt, was auch ein vorhandenes Korrektorat wohl kaum korrigiert hätte, es hätte allenfalls den Text kennen müssen. Denn nicht etwa der Liebhaber wurde verlassen, sondern eben das Dienstmädchen von ihm. Wegen einer anderen. Lessing, dessen 238. Todestag heute verstreicht, hätte dem Kritiker vielleicht einen Berufswechsel empfohlen, bei allem Verständnis dafür, dass es schön ist, mit zwei Pressekarten in der Tasche im Theater sitzen zu dürfen, ohne dies als Verpflichtung zu empfinden.

14. Februar 2019

Am 14. Februar 1989 rief Irans Ayatollah Chomeini dazu auf, den Schriftsteller Salman Rushdie zu ermorden. Rushdie musste seine zahlreichen Interviews danach an völlig geheimen Orten geben, die jeweils nur die Interviewer kannten. Ob er seine nachfolgenden Bücher in abgedunkelten Zimmern schrieb, damit kein Licht nach außen drang, ist nicht überliefert. Wie der italienische Ayatollah hieß, der Roberto Saviano zum Tode verurteilte, weiß ich nicht, lese allerdings Savianos zahlreiche Beiträge in der ZEIT seither nicht mit wachsendem Interesse, sondern eher selten, zumal die in Venedig schreibende Investigativ-Autorin Petra Reski ja mittlerweile ebenfalls vom Tod bedroht ist. Meine Lieblings-Plastik-Tüte, die seit Jahren jeden Donnerstag das mittlere Wunder vollbrachte, drei Zeitungen quer aufzunehmen inklusive der inliegenden Werbung, ist heute irgendwo auf dem Weg aus meinem Rucksack verloren gegangen. Mangels Gewicht erzeugte sie wenig Verlustgefühl.

13. Februar 2019

Als ich mit Hilfe meines Trittstühlchens aus der obersten Russland-Reihe meinen einzigen und dazu noch sehr schmalen Band Iwan Krylow holte, ahnte ich nicht, dass dies Büchlein mit seinen genau 100 Fabeln seit ewigen Zeiten das einzige ist, das ein deutscher Verlag von dem Mann druckte, den man modisch als eine Art russischen Gellert sehen könnte, was er natürlich nicht war. Aber man nennt ja auch Tomas Espedal den norwegischen Camus, was er natürlich nicht ist. Der Diplom-Physiker Manfred Orlick hat, was seltsam genug anmutet, als einziger heute einen Gedenkbeitrag zum 250. Geburtstag Krylows publiziert. Er bezeichnet die Übersetzung von Ferdinand Löwe (1809 – 1889) als die „noch heute gültige“, was die Frage aufwirft, ob es denn überhaupt andere damit konkurrierende Übertragungen gibt. „Wenn einer nicht versteht zu denken, / Der Platz, den man ihm gab, macht ihn nicht klug.“ („Der Parnass“). Das sieht die Landtagsverwaltung auf alle Fälle anders.


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