Tagebuch

1. April 2019

Luftkämpfe unter meinem Arbeitszimmerfenster: Beide Elstern verteidigen mit heftigem Gekecker ihr Nest, das offenbar auch einer deutlich größeren Krähe als bewohnbar erscheint. Die Krähe ist im Bewusstsein ihrer Überlegenheit hartnäckig, die Elstern sind es nicht minder. Es beginnt der letzte Arbeitsmonat für die Frau an meiner Seite. Morgen der letzte Schulausschuss nach einem vollen Vierteljahrhundert am Protokoll. Die Vorsitzenden kamen, gingen, starben, die Protokollantin blieb. Vor 25 Jahren speisten wir paradiesisch wie nie vorher und nie nachher in Italien in der Fabbrica Frattelli Menella, die wir eher zufällig fanden. Sprachen über unseren Ausflug nach Neapel und Herculaneum. Ich belichtete eine Werbung für „Ottica Ullrich“, den deutschen Augenoptiker. Hier heute Archivarbeit, nur ein kurzer Blick auf eine komplette Zeitungsseite zu Milan Kundera, der 90 Jahre alt ist und mich noch immer nicht wirklich interessiert. Anders als Urs Widmer, den ich mag.

31. März 2019

Abreise nach Umstellung auf Sommerzeit ist widerlich, denn es fehlt eine Stunde zum Auschecken. Die Temperatur ist stark abgesackt, der Himmel trübe. Wir fahren mit beiden Autos noch einmal ins nahe Markleeberg, genauer nach Markleeberg-Ost, wo wir vor knapp zwei Jahren schöne Tage verlebten und ich am Heimreise-Tag meine Tasche vergaß. Heute blieb nur mein Seepark-Prospekt im Auto des Sohnes, alles andere wurde zu Hause in gut gestaffelter Kleinarbeit ausgepackt und verstaut. Ich holte meine Zeitungen an der Tankstelle, die Post brachte die Nachbarin. Darunter ein Brief mit zwei Verlagsprospekten und einer Honorarabrechnung für verkaufte Bücher zu meinen Gunsten. Das angeblich empörende Rammstein-Video sehen wir in voller Länge, die selbstfahrende Erregungswelle brandet und natürlich ist es wie immer: Die Lampe geht an, Pawlows Hund bellt und speichelt. Ich kenne bessere Rammstein-Videos. Aber selbst Goethe schrieb nur einen „Faust“.

30. März 2019

Dieser Seepark Auenhain ist eine Überraschung, unser Korallenmöwe genanntes Haus hat eine eigene kleine Sauna, ein Haus mit Saunen und Pool ist 50 Meter entfernt. Das Wetter ist nahezu sommerlich, ein ausgedehnter Spaziergang gestern führte uns an einer großen grünen Fläche voller Graugänse vorbei. Heute sahen wir den Zoo Leipzig, in dem ich vor sehr vielen Jahren schon einmal und danach nie wieder war. Obwohl es Sonnabend ist, obwohl später RB Leipzig ein Spiel gegen Hertha BSC hat, finden wir einen guten Platz im Parkhaus direkt am Zoo, nur die Anfahrt ist extrem mühselig, weil die Ampelschaltung kaum mehr als zwei Fahrzeugen das Abbiegen nach links erlaubt. Wir beginnen mit dem Gondwanaland, wo nicht nur die Kinder am Ende in Schweiß gebadet froh sind, wieder an frischer Luft zu sein und Jacken zum Überziehen mitzuhaben. Nach gut fünf Stunden haben wir längst nicht alles gesehen, aber Hunger auf alles vom Holzkohlegrill.

29. März 2019

Während ich vor 25 Jahren mit Komplettfamilie die Amalfi-Küste bereiste mit Aufenthalt in Sorrent, Positano, Amalfi und Ravello mit dem dortigen Garten der Villa Rufolo, bereise ich heute mit dem Ilmenauer Teil der Familie die Seenlandschaft nahe Markleeberg, dort den Berliner Teil der Familie zu treffen, einige Würste und Brätel aus Thüringen kühl im Gepäck, dazu nach Hausrezept verfertigter Kartoffelsalat a la Oma. Ein Foto im Garten der Villa Rufolo zeigt mich mit Langbart und Sonnenbrille, ein Brillenetui in der Brusttasche. Ich hätte in einer Fake-Reportage gut den radikalisierten Hassprediger spielen können, wenn man mich gegen ein mittleres Entgelt in ein weißes Nachthemd gestreckt und mir ein DJ-Ötzi-Käpplein übergestülpt hätte. So aber war ich nur ein Rekonvaleszent fünf Monate nach einem Myocard-Infarkt, mit Überleben und Leben leidlich zufrieden. Eine Intarsientafel aus Sorrent hängt noch immer über unserem Sofa: drauf der Vesuv.

28. März 2019

Wer aus der DDR, die keine mehr war, 1994 gen Neapel und Ischia fuhr, traf dort auf Wahlplakate mit sehr irritierenden Botschaften: „Vota PDS“ und vorher auch „Vota Comunista“. Wir spazierten von unserem Hotel gen Forio und als wir Forio halbwegs besichtigt hatten inklusive Citara-Strand, nahmen wir die Gegenrichtung nach St. Angelo. Dort sieht es aus wie auf der kitschigsten aller Kitschpostkarten, Himmel blau, Meer blau, Häuser weiß, Palmen wie Palmen. Wir liefen an diesem 28. März kurzärmlig, was uns als Ausländer kennzeichnete. An Eugéne Ionesco dachten wir nicht, dessen zehnter Todestag es war. In der auf dem letzten aller Löcher pfeifenden DDR war Anfang 1990 noch eben rasch „Die kahle Sängerin“ inszeniert worden, es half nichts, der Laden brach dennoch final zusammen und ich, eben noch ein aufstrebender Freiberufler, hatte nach Brot zu gehen. Das Brot hieß erst DIE NEUE und dann nach deren frühem Hingang die TAGESPOST.

27. März 2019

Auf den Fotos vom 27. März 1994 sehen wir ein wenig müde aus. Das Schiff von Pozzuoli nach Ischia war auf dem Oberdeck fast leer, wir passierten Procida und näherten uns Casamicciola. Unser Hotel „La Ginestra“ erreichten wir eher als unsere Koffer es taten, süditalienische Logistik war neu für uns. Wir überbrückten die Wartezeit mit einem kleinen Ausflug zur Sorceto-Bucht, ich belichtete Eidechsen mit grünem Kopf und grünem Rücken, die sich sonnten. Dass sich in der Bucht im noch kalten Meereswasser heiße Quellen finden ließen, entdeckten wir erst später. Den Thermal-Pool testeten wir, als das Gepäck mit Badehosen und Badeanzügen endlich zur Hand war. Unser Zimmer ohne Meerblick hat eine kleine Terrasse. Neben dem Hotel steht ein Haus wie ein vergessener Rohbau als Siedlungsbezirk für diverse Katzen. Diverse Hunde waren uns in Pozzuoli aufgefallen, die sich sehr dezent verhielten, um nicht verjagt zu werden, man nennt sie streunend.

26. März 2019

Es muss nicht immer gleich die Rote Armee einmarschieren, um einen Tag zum Tag der Befreiung zu machen. Mir reicht es für heute, von meinem Kieferchirurgen die Fäden gezogen bekommen zu haben. Ein derart neues Ess-Gefühl hatte ich lange nicht: ich konnte mit meiner ureigenen, in die Jahre gekommenen Zunge festere Nahrung am Gaumen zerquetschen, ohne dass mir die Anfänge verschiedener Lieder auf selbige springen wollten. Ein Fädchen wurde übersehen, wie ich den Informationen dieser Zunge entnahm, die sie ans Großhirn sendete. Ich sichtete es sogar listig versteckt an einer Stelle, wo auch ich keines vermutet hätte. Die vermissten Reiseunterlagen fanden sich dafür in einem Ablagekasten mit dem Aufkleber „Reisen“, der zirka sechzig Zentimeter Luftlinie von meinem linken Auge steht und gelb ist wie die Post. Das kenne ich von Edgar Allan Poe als das beste Versteck der Welt. Am 26. März 1994 bestiegen wir einen Bus Richtung Ischia.

25. März 2019

Es passiert mir immer wieder, dass ich etwas suche, ohne es schließlich zu finden. Gestern war es ein Passwort, das sich auch nicht erneuern ließ, weil die Erneuerung selbst wieder einen Zugang voraussetzte, den ich nicht fand. Auf der Suche nach Hilfe stellte ich fest, dass ich von einer Reise im vorigen Juli nirgends die geringste Quittung entdecken konnte, obwohl ich doch sonst jedes Finanzamt beschäme mit meiner Sammelleidenschaft. Bei der Gelegenheit wanderten andere Belege, die ich auf zwei kleinen Stapeln immer wieder von rechts nach links geschoben hatte, an ihrem finalen Bestimmungsort. Ich sortierte Zeitungsartikel, einer über Mark Zuckerberg irritierte mich mit dem Schluss-Satz „Das Ehepaar hat zwei kleine Töchter, Max und August.“ Es wird sicher nicht lange dauern, bis die ersten Milliardäre ihre Söhne Heidi und Priscilla nennen. Und etliche Gender-Professorinnen werden postorgastische Belastungsstörungen bekommen vor lauter Freude.

24. März 2019

Statt Tatort Fußball, statt Blamage ein Sieg. Ich bin mehr als 10.000 Schritte gegangen an diesem überraschend nebligen Sonntag. Meine Unterlagen vom gestrigen DJV-Landesverbandstag in Weimar sind im Ordner gelandet, diverse andere Dinge auch. Ich konnte mir abermals eine kleine Rede nicht verkneifen, darin die These, dass wir nicht allzu selbstverständlich davon ausgehen sollten, mit dem, was wir tun, quasi automatisch Qualität zu verkörpern, die dann auch noch bezahlt werden muss. Print-Medien auf Dauersparkurs stehen nicht mehr für Qualität, sie stehen für Abbau, für Notlösungen, Synergie im Verlagsgeschäft ist Verlust von Vielfalt, Verlust von Vielfalt bedeutet den Ausstieg derjenigen, die mehr als eine Zeitung lesen, die Multiplikatoren steigen aus. Für die Theater, selbst wenn sie sich nur noch an Romane halten oder aus zwei Hörspielen ein Spiel für die Bühne schustern, ist der Verbleib eines einzigen Print-Kritikers für ganze Landstriche verheerend.

23. März 2019

Vier Stunden Brecht am Stück auf ARTE und ich wüsste am Morgen danach nicht, ob mir auch nur ein einziger Moment überraschend oder gar neu vorgekommen wäre. Vielleicht ist mir die Biografie des Meisters einfach zu gegenwärtig, seit ich „Brecht in Augsburg“ las und die Erinnerungen an Brecht, die Arnolt Bronnen hinterließ. Ich weiß, wie sich Erwin Strittmatters Sicht auf Brecht im Lauf der Jahre mehr und mehr veränderte. Heinrich Breloer rächt sich dafür, indem er den Namen des Stückes von Strittmatter zwar erwähnt und Proben zeigt, die an den westdeutschen Heimatfilm erinnern, den Namen des Katzgraben-Schreibers selbst aber verschweigt. Vor 200 Jahren ermordete der Student Sand den Dichter August von Kotzebue, woran vorsorglich NEUES DEUTSCHLAND schon am Mittwoch erinnerte. Dass Goethe den Mörder kannte, bevor der ein Mörder wurde, habe ich bereits einmal erwähnt, man lese es in meiner Rubrik MEIN GOETHE, 28. August 2017, nach.

22. März 2019

Vor haargenau 200 Jahren starb in Weimar der Präsident des Staatsministeriums Christian Gottlob von Voigt, geadelt 1807, seit 1794 Geheimer Rat. Als stille Reminiszenz an diesen Tag wählte Johann Wolfgang von Goethe ihn für seinen eigenen Tod, wartete damit aber noch 13 Jahre. Voigts Gattin Johanna Viktoria, geborene Hufeland, verwitwete Michaelis, war bereits 1815 gestorben, Goethes Gattin Christiane Johanna Sophie 1816. Wir verdanken die Herausgabe des  Briefwechsels zwischen Goethe und Voigt, insgesamt 2327 Seiten umfassend, dem in Wernshausen (heute Ortsteil von Schmalkalden) geborenen Hans Tümmler, der 1933 flugs in die NSDAP und die SA eintrat, was weder im Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar noch in der drum herum liegenden DDR jemanden sonderlich störte. Die vier Bände erschienen zwischen 1949 und 1962 und sind heute um 100 Euro antiquarisch zu erwerben. Amtliche Briefwechsel muss man allerdings mögen.

21. März 2019

Als sollte meine gestrige These zum Thema linker Faktentreue umgehend bestätigt werden, legt die JUNGE WELT mit der Behauptung nach, Salman Rushdie habe als mittelmäßiger Graphomane den Literaturnobelpreis bekommen, sonst hätte nie jemand von ihm Notiz genommen. Schreibstümper diesen Falls ist Reinhard Lauterbach. Kann es sein, dass dieser Name verräterisch ist? Immerhin liegt auf einer Internet-Liste mit 34 Autoren, die den Literaturnobelpreis nicht bekamen, Rushdie abgeschlagen auf Platz 25. Auf der Liste der Autoren, von denen ich nie eine Zeile las, auf die ich aber neugierig bin trotz allem, liegt Rushdie auf Platz 649. Da sind aber die Autorinnen noch nicht eingerechnet, auch nicht diejenigen, die sich den Diversen innerhalb der Schreibzunft zuordnen. Beim Sortieren alter Zeitungsbeiträge stieß ich auf diese Unterzeile in der FAS vom 14. September 2014: „Ein Verbot von Beipackzetteln könnte jedes Jahr Tausende von Menschenleben retten“.


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