Tagebuch

11. Januar 2019

Nicht weniger als 87 Straßen in Groß-Ilmenau müssen umbenannt werden, es entschärft auf diesem Wege vier Talstraßen und drei Friedensstraßen. Ich bin ein Betroffener. Denn ich lebte in zwei Friedensstraßen und einer Talstraße. Die Gehrener Friedensstraße bleibt erhalten, in deren Nummer 3 ich meine ersten sechs Lebensjahre verbrachte, die Gehrener Talstraße, in der ich zwanzig Jahre lang mein erstes und einziges eigenes Kinderzimmer hatte, verliert ihren Namen und wird wohl frühestens in zweihundert Jahren in Eckhard-Ullrich-Straße umbenannt. Die Friedensstraße in Pennewitz erlebte mich fünf Jahre als ungemeldeten Untermieter, davon anderthalb Jahre als jungen Vater. Die Pennewitzer Talstraße bewandere ich nur aller Jubeljahre von Dörnfeld her kommend während eines Großfamilien-Treffens, sie wird ihren nahe liegenden Namen ebenfalls verlieren. Die Ilmenauer Talstraße ist mir gleichgültig, seit ich von der Gehrener zu Kopernikus und Kepler zog.

10. Januar 2019

Heinrich Lautensack, der merkwürdige Dichter aus Vilshofen, ist am bekanntesten geblieben mit seinem körperlichen Zusammenbruch bei der Beerdigung von Frank Wedekind, die zu filmen er gekommen war. Am 10. Januar 1919 starb Lautensack in der Heilanstalt Eberswalde. Paralyse ist der Begriff, mit dem sein Sterben in Verbindung gebracht wird. Der zugleich auch den anderen in den Hintergrund treten lässt, der die Ursachen der Paralyse bezeichnet: Syphilis. Lautensack lesen heißt begreifen lernen, wie weit hundert kurze Jahre eine ganze Zeit entfernen können. Eberswalde,  ohne diesen Todestag hätte ich wohl nie wieder daran gedacht, war Wirkungsstätte einer Frau, von der ich nur noch weiß, dass sie Großmutter eines Gehrener Nachbarskindes war und in der Pflege von Schwerstbehinderten arbeitete. Schon Andeutungen darüber reichten aus, uns einen Beruf wie diesen für vollkommen undenkbar zu halten. Woher die Kraft vor dem täglichen schreienden Elend?

9. Januar 2019

Als ich 1974 mein erstes Rock-Lexikon in den Händen hielt (rororo Handbuch 6177), las ich über ihn: „als Sohn des Personalchefs einer Industriefirma in Heston geboren“, er hatte also seinen 30. Geburtstag eben frisch hinter sich, denn der fiel auf den 9. Januar 1974. Woraus folgt: James Patrick „Jimmy“ Page wird heute 75 Jahre alt. Das ist für mich viel unfassbarer, als würde Heiner Müller 90, denn auch der ist an einem 9. Januar geboren, hat aber das Zigarrenrauchen nicht so lange überlebt. Page dagegen, der Eric Clapton und Jeff Beck bei den Yardbirds beerbte, dann mit Robert Plant, John Paul Jones und John Bonham Led Zeppelin bildete, ist eine lebende Rock-Legende. Ich sehe ihn immer noch gern auf YouTube, aktuell am liebsten in einer späten „Kashmir“-Aufnahme mit Robert Plant, der im Vorjahr die 70 erreichte. Das alles mitten im ersten Schneetreiben des neuen Jahres, der Schneeschieber gibt den Geist auf, bevor der Parkplatz vollständig geräumt ist.

8. Januar 2019

Mein Reclam-Buch „Die Lebensmaschinerie“ enthält hinten die Notiz „550. RUB 18. 11. 80“, was heißen will: als 550. Reclam-Buch am 18. November 1980 gekauft. Das ist eine von Elke Erb komponierte und mit Nachwort versehene Sammlung aus diversen Büchern Peter Altenbergs. Unter dem Titel „Diogenes in Wien“ hatte erst 1979 der Verlag Volk und Welt Berlin seine zweibändige Auswahl veranstaltet, die aus dem ersten Buch „Wie ich es sehe“ mehr enthielt, aus Platzgründen natürlich. „Wie ich es sehe“ brachte Altenberg 1896 Zuspruch vor allem aus der schreibenden Zunft von Karl Kraus bis Gerhart Hauptmann und legte den Grundstein für etwas, was man heute nur zu gern Kult nennt. In der Sammlung Janowitz des Wallstein Verlags Göttingen gab es dazu 2009 eine gediegene Dokumentation: „Die Selbsterfindung eines Dichters“. Altenberg starb am 8. Januar 1919 in seiner Geburtsstadt Wien. Der freundliche neue Hermes-Bote ist ein Hintergründler mit Wurzeln.

7. Januar 2019

Die Dame mit der grauen Strickmütze, den braunen Stiefeln und der schwarzen Jacke, die sehr regelmäßig, sehr dreist und vor allem rücksichtslos unseren Mietparkplatz zu zwei Dritteln oder wahlweise, wie heute, auch nur zur Hälfte benutzt, um ein rosa verkleidetes Kleinstkind aus dem Kindergarten zu holen, das sie dann rechts hinten in einem protzigen schwarzen BMW, Endziffer des Kennzeichens 888, verstaut, muss eine Dame sonnigen Gemütes sein. Sie parkt dort und so keineswegs nur, wenn alles besetzt ist, die Lieblingsausrede vieler anderer Falschparker, sie parkt stets und ständig da, weil es der ihr bequemste Platz ist. Vernünftig einparken wie andere kann sie vorwärts nicht, dazu ist das Gefährt zu groß, oder es würde zu lange dauern. Deshalb behindert sie  gleich noch den fließenden Verkehr mit, zwingt ihm Slalomfahrten auf. Immerhin wendet sie, wenn sie schließlich abrauscht mit mildem Schwung und großem Bogen, nicht erst in der Wendeschleife.

6. Januar 2019

Manche denken heute an jene uralten Zeiten, als herrenlose Könige in Kleingruppen beritten durch die Wüste zogen. Nicht einmal Brecht fragte, ob sie nicht wenigstens einen Koch bei sich hatten. Er setzte es wohl voraus. Durch die Nachrichten geistern Forderungen nach 20 Euro Stundenlohn. Ich gedenke seliger Zeiten, als mir allen Ernstes ein Blatt 15 Euro Pauschale für einen Gerichtsbericht anbieten wollte. Man nannte das damals Stärkung des Lokalen. Heute ist am Lokalen kaum noch etwas zu stärken. Immerhin beantworte ich mir, wenn ich in den Spiegel schaue, die Frage, ob ich, wenn ich jetzt Lokaljournalist mit wenig oder keiner Lokalkenntnis wäre, einen Erfahrungsträger wie mich fragen würde, mit einem klaren Nein. Immerhin führt mich dieser Gedankengang zu Erinnerungen an meine kurze 1990er Einarbeitungszeit in Eisenach: niemals wäre dort jemand losgezogen ohne gründlichen Blick ins Archiv zuvor: er sollte kennen, was bereits gedruckt war.

5. Januar 2019

Mit mich selbst verblüffender Ausdauer schaue ich Zeitungen durch, markiere, schneide, staple Ausschnitte. Mir kommt die Frage, warum, wenn überhaupt, Optimismus immer versprüht wird, nie, was eine kräftigere Dosis wäre, verspritzt? Insbesondere Politiker und andere Propheten versprühen gern und zielgerichtet diskontinuierlich Optimismus. Offenbar benötigt unsere seit reichlich 2000 Jahren biblisch-apokalyptisch geprägte Kultur zwischen den diversifizierten Endzeit- und Untergangsvisionen Atempausen: ein immer nur geprügelter Hintern wird taub und schmerzt nicht mehr: Salbung baut die Brücke zur nächsten Pein. Ansonsten wäre zu melden, dass nunmehr wohl alle nennenswerten Feuilletons eine ganze, mindestens aber eine halbe Seite für den Roman „Serotonin“ verwendet haben, die Aussage schließt die beiden morgigen Sonntagszeitungen ein, denn wir sind noch immer im Modus der Nachträge. Wir rüsten die Weihnachtsdekoration ab.

4. Januar 2019

Dies könnte man perfektes Timing nennen: ich biege eben um die Ecke Richtung Keplerstraße 2, als der Stammpostbote dort zu unseren Briefkästen steuert. Das kleine Päckchen per Einschreiben ist für mich, ich muss nur unterschreiben und habe es ohne alle Verzögerungen, obwohl es die falsche Adresse zeigt. Nicht auszumalen, welchen Stress es gegeben hätte, wenn ein anderer Postfahrer die Hausnummer nicht gefunden hätte, somit das Ganze zurückgegangen wäre. Von Lenin und meinem fehlbaren Nachfolger im Amte weiß ich, dass nur der keine Fehler macht, der nichts macht. Wie das Mäppchen unter mein Kopfkissen geriet, ist meinem Erinnerungsvermögen unzugänglich, die Idee, ich hätte es verstecken wollen, verlockend, nur war da ja niemand, vor dem ich es hätte verstecken müssen, wir waren allein im Haus. Beim Zahnarzt heute das pure Vergnügen, Kontrolle mit besten Aussichten auf die nächsten Termine, außer mir kein Patient in der Praxis, Heimweg wieder zu Fuß.

3. Januar 2019

Anderthalb Stunden dieses schönen Donnerstages verbringe ich liegend auf einem Zahnarztstuhl, ein Gummiteil hält den Mund offen, mit neun Einstichen, fünf oben zuerst, vier unten später, wird meine orale Empfindungsfähigkeit in die Nähe des Nullpunktes gesenkt, der Rest ist erstaunlich erträglich und es dauert später nur noch bis zum Ende der 19-Uhr-Heute-Nachrichten, bis die letzte Taubheit entschwunden ist. Immerhin gelang es mir, meiner Lieblingszeitungsverkäuferin etwas wie einen Neujahrswunsch hinzunuscheln, ohne dass es mir aus dem Maule troff, ich wechselte einen Schein und nahm die restlichen Kilometer Heimweg zu Fuß. Dort warf ich mich, schwesterlichem Ratschlag folgend, aufs Ohr, die Betäubungszeit aktiv zu verschlafen, was mir zu fast zwei Dritteln durchaus gelang. Am Abend zielgerichtet die Mediathek statt des laufenden Programms, es hat sich Nachholbedarf ergeben, auch morgen wird es so sein. Delia Mayer wird immer schöner, Wahnsinn.

2. Januar 2019

Zwischen den Jahren, um es auch für multipräsente Kolumnistinnen deutlich zu sagen, liegt nichts. Nicht die geringste Nanosekunde, die nicht dem einen oder dem anderen der beiden fraglichen Jahre zuzuordnen wäre. Ausgerechnet die Branche, die sich ausdauernd und dennoch irrtümlich eine besondere sprachliche Sensibilität zuordnet, pfuscht, dass sich die Balken biegen. Dass auf dem Umweg synergetischer Mehrfachveröffentlichungen gleich mehrere Redaktionen beweisen, dass bei ihnen schon lange niemand mehr irgendetwas Korrektur liest, ist nur der matschige Unterboden, auf dessen wankender Oberfläche schillernde Relotius-Blüten treiben. Immerhin, ich muss am Morgen heftig Eis kratzen, ehe ich den Kofferraum mit allem beladen kann, was aus Weißenstadt wieder nach Ilmenau transportiert werden will. Die stille Hoffnung, zu Hause das Mäppchen zu finden, das all diese Tage in Luft aufgelöst schien, zerschlägt sich, unsere Vermieter finden es unterm Kissen.

1. Januar 2019

Dies ist der 100. Geburtstag von Jerome D. Salinger und Danil Granin. Beide haben auf ihre Weise die Literatur des 20. Jahrhunderts geprägt. An wen denken die Medien heute, wenn sie nicht schon dem Gesetz des vorzeitigen Samenergusses folgend gestern bis vorigen Dienstag daran gedacht haben? Richtig: an Salinger. Es hat also auch nicht genützt, dass der uralte Helmut Kanzler Schmidt sich mit dem uralten Granin über die Gräber hinweg anfreundete auf beider späteste Tage. Wenn es um Russen geht, hilft und nützt nichts, selbst Dostojewski muss so lange neu übersetzt werden, bis er als West-Dostojewski erscheint. Nun denn, wir denken heute an fast nichts und niemanden, wir nehmen unseren zweiten Sauna-Volltag, verglichen mit Sonntag ist die Therme geradezu komplett ausgestorben. Ein Aufguss mit drei Düften wird begleitet von Don McLeans „American Pie“ aus dem Jahr 1971. Selig singt die nackte Gemeinde mit, früher war tatsächlich deutlich mehr Lametta.

31. Dezember 2018

Den Weißenstädter See haben wir im Frühjahr schon umrundet, lasen damals brav alle Granitstelen mit Versen von Eugen Gomringer, jetzt konzentrieren wir uns auf die Biberbiss-Stellen. Was diese Nager so zu Boden nagen, ist phantastisch. Wir brauchen eine gute Stunde rundherum, weil wir nur die Softcore-Schrittfrequenz eingestellt haben in unser Laufwerk. Immerhin sehen wir zwei Leute in Faltboote steigen und auf den See hinaus paddeln, was nicht wesentlich komischer ist als unter einer regendichten Kapuze zu wandern. Als wir unser Ferienhaus wieder betreten, leeren wir, wie an allen Tagen, eine Flasche Schaumweines aus französischer Produktion und begeben uns danach zum Silvester-Schmaus. Wir werden freundlich zum mitternächtlichen Feuerwerk eingeladen, was wir uns nach einem grässlichen Konzert von Coldplay und einem feinen Konzert von Rammstein im öffentlich-rechtlichen Fernsehen auch sehr gerne antun. Viele trinken Rotkäppchen, wir nicht.


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