Tagebuch

13. März 2019

Nachtrag: Ich setze meine gestern begonnene Hauptbeschäftigung fort: ich döse oder schlafe vor mich hin, nehme weitgehend flüssige Nahrung zu mir. Der Versand meines Fußballgesichts in den Bilderrahmen, den nur die Empfängerin und die sie ebenfalls beliefernden Teilnehmer sehen auf ihrem Smartphone, löst eine Zwergwelle des Mitgefühls aus, ein Rat an die mich betreuende Rest-Urlauberin lautet: mich gut zu verstecken. Ich verstecke mich aber schon selbst. Genannte Rest-Urlauberin genießt morgen in sechs Wochen den letzten Arbeitstag ihres Lebens mit dem, was man früher einen Ausstand nannte, früher, als man zum Aktivisten noch ernannt wurde mit einer kleinen, in Ostmark ausgezahlten Sofortprämie und sich nicht selbst zum Aktivisten kürte, nur weil man ständig mit handgemalten Plakaten herumreist und auf Kamerateams wartet, die die mehr oder minder interessanten Inszenierungen für die Nachrichten filmen. Ich liebe meine Rest-Urlauberin.

12. März 2019

Nachtrag: In der Tat suggeriert mir der morgendliche Blick in den Spiegel den Anblick eines mit mir nicht identischen Menschen mit einem fußballartigen Mondgesicht. Der mir nach meiner gut zweieinhalbstündigen Operation ausgehändigte Beipackzettel kündigt mir Tage der Enthaltsamkeit an: Rauchverbot, Alkoholverbot, die ersten weichen Nahrungsmittel nach dem Ende der Betäubung. Möglichst keine koffeinhaltigen Getränke, Spülen mit Chlorhexamed ohne Nachspülen, morgens und abends ein Mittelchen namens Amoxi-Clavulan Aurobindo. Von dem ich die erste Tablette eine Stunde vor dem Eingriff bereits einzunehmen hatte. Der Verzicht auf Nikotin fällt mir leicht, der Verzicht auf Alkohol, nun ja, nicht ganz so leicht. Statt meines geliebten Schwarztees braue ich mir heute eine Kanne mit Nana-Minze aus Marokko, ein Geschenk aus dem vorigen Jahr, das so endlich die gebührende Ehre erfährt. Ibuflam 600 soll ich nach Bedarf nehmen, ich habe spürbaren Bedarf.

11. März 2019

Zweieinhalb Stunden sind eingeplant für meinen heutigen kiefernchirurgischen Runderneuerungs-Eingriff, ich bin bestens vorinformiert, vorbereitet von Erfahrungsträgern und Tröstern, ich sah jedes Detail auf dem Computerbildschirm, weiß, was wo gemacht wird und wie ich mich fühlen werde. Glücklicherweise gehöre ich nicht zu denen, die vorab den Heldentod aus Angst sterben, ich neige zu einer gewissen zuschaltbaren Schicksalsergebenheit, außerdem werde ich mittels Spritze in einen Zustand überhöhter Toleranz gegenüber der Schlechtigkeit dieser Welt versetzt, weshalb ich abgeholt werden muss, wenn alles vorbei ist, weil den eigenen Beinen in Kombination mit dem eigenen Kopf für eine längere Weile eher weniger zu trauen ist. Vermutlich wird morgen unter Anti-Biotikum, Schmerzmittel und Gesichtsschwellung keine Schreibleistung von mir zu erwarten sein, die der weltweiten Öffentlichkeit zuzumuten wäre, weshalb ich mich auf ein Schweigen einstelle.

10. März 2019

Schon wieder das dritte Frühstück und damit Abreise-Action. Beim Entsorgen des Leerguts fällt eine ganze Batterie gleicher Sektflaschen auf, es gab eine Hochzeitsfeier im Haus, während wir unsere vier Gänge bearbeiteten, eine Mini-Band spielte im anderen Raum zum Tanz auf: Mittwoch, Sonnabend und Sonntag ist hier Schwoof laut Werbung am Hotel. Das hatten wir vor Jahren in Bad Steeben, wo wir stets staunten, wie groß der Tanzeifer sein kann in den oberen Altersgruppen. Aus mir wird in diesem Leben kein Tänzer mehr. Unterwegs bisweilen Regen, nach genau einer Stunde in Ilmenau-West von der Autobahn herunter und noch zwei kleine Erledigungen, ehe sich unser arg gefüllter Kofferraum in den Fahrstuhl ergießen musste. Die Hälfte des Weinvorrates wieder ins Regal, neun von zwölf Bieren aus dem örtlichen Markgrafen-Getränkemarkt bleibt für zu Hause. Aus Dresden noch vor dem Tatort alle guten Wünsche für meinen morgigen chirurgischen Montag.

9. März 2019

Gönne den Gattinnen einen ruhigen Einkauf in der Stadt, dann bist du mit zufriedenen Gattinnen unterwegs. Du kannst währenddessen, den Schrittzähler am Arm, erst in Richtung End wandern, dann zur Reha-Klinik, die bis 1966 eine Lungenheilanstalt war, was auf gute Luft hier schließen lässt und zurück zum Hotel. Ein wenig Lektüre, bis die Tür sich öffnet, die Schnäppchen präsentiert werden, dann kurz entschlossen nach Bamberg. Wir waren 1993 zuletzt in Bamberg, den dortigen überaus berühmten Reiter auf seiner Säule im Dom sahen wir damals gar nicht, jetzt schon. In der Hotel-Sauna schwatzte ich mit einem Mann aus der Heilbronner Gegend über Dampflokomotiven und Thermen. Christa Wolf: „Sozialistisches Bewusstsein für die Masse ist erst bei weitgehender Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu erreichen. Mit Ideen allein geht es nicht.“ Vor 40 Jahren wäre das etwas zum Herumtragen gewesen. Zum Abend das 4-Gänge-Menü. 13393 Schritte sind Hausrekord.

8. März 2019

Wir sind im Zimmer 52 diesmal, eine Etage tiefer als zuletzt, dafür die Zweier-Delegation aus Dresden unmittelbar nebenan und den guten Blick in die Gegend wie gehabt. Den Begrüßungs-Cremant von der Loire haben wir eben noch geschafft, ehe wir zur Mahlzeit schritten. Heute ist die Obermaintherme unser Tummelplatz. Sieben Saunagänge verteilen sich über den Tag, darunter zweimal der Fünf-Sterne-Premium-Aufguss, einmal der Nothelfer. Der volle Parkplatz täuschte, innen verteilte sich alles ganz gut. Wir trieben im Solebecken umher. Mit Christa Wolfs „Moskauer Tagebüchern“ kam ich sogar ein paar Seiten voran. Sie registriert altmodische Kleider in Moskau, aber auch: „Es gibt hier keinen Snobismus, in keiner Sache.“ Max Zimmering, schreibt sie, sei „von einer atemberaubenden Plattheit“. Das ist eine hübsche Formulierung. Peter Huchel ist für sie ein „eitler Fratz“. Das muss Gatte Gerhard als Nachlass-Herausgeber kommentierend zurechtrücken.

7. März 2019

In Deutschland ist dies der Tag der gesunden Ernährung, ich werde sofort, wenn ich im Hotel angekommen bin, das Vier-Gänge-Menü, welches im Preis inbegriffen ist, gleich für heute Abend reservieren lassen, damit wir morgen früh umgehend mit der Gesundheit beginnen können. Ich führe drei Flaschen Cremant mit mir, wir haben auf zwei Geburtstage nachträglich anzustoßen und ich führe ein lustiges Spiel mit mir, weil wir während des Trinkens gern spielen. Es ist ein Spiel, das die Schweizer erfunden haben, die nicht nur bei den Hustenbonbons führend sind. Den morgigen Frauentag verbringen wir mit einer je fünfzigprozentigen Frauenquote. Wir werden uns erinnern, wie wir vor, sagen wir 55 bis 60 Jahren, als Indianer verkleidet Cowboys an südthüringische Bäume banden, um dann ein wenig um sie herum zu hüpfen und krumme Speere schwangen. Ich jagte einst sogar unseren Hahn, in der Hoffnung, er verliere eine seiner Schwanzfedern für den Kopfputz.

6. März 2019

Dies ist der 90. Geburtstag von Günter Kunert, den ich vor allem damit zubrachte, über Günter Kunert zu schreiben. Mein Arbeitszimmer ist zwischendurch fast unwegsam geworden, ich habe Trittbänkchen aufgestellt, Ordner aus dem Regal gezogen, Dateien geöffnet und Schreibmaschinen-Typoskripte gesichtet. Kleinkarierte Blätter aus DDR-Schreibblöcken, auf die ich einst Gedichte abschrieb, jedes Blatt ein Gedicht, Platz für spätere Interpretationen und Bemerkungen, ganze Bände, die sich nicht in meinem Besitz fanden, sind so in meiner Handschrift für spätere Reißwölfe überliefert. Ich schnitt aus, was ich in heutigen Zeitungen fand, es war verblüffend viel, ich druckte aus, was meine e-paper-Zugänge hergaben, es war verblüffend viel. Blätter mit Bezahlschranken boykottiere ich, www.eckhard-ullrich.de hat auch keine Bezahlschranke. Günter Kunert ist knapp vier Monate jünger als meine Mutter. Wie man 90 ist, weiß ich also ziemlich genau, Glückwunsch!

5. März 2019

Wie auch immer: heute jährt sich der Tag der späten Uraufführung der im Jahr 1929 zu Papier gebrachten Posse „Rund um den Kongress“ von Ödön von Horvath. Die einschlägige Literatur hat zwei Jahre im Angebot: 1959 und 1969. Für beide Jahre wird als Haus der Uraufführung das Theater am Belvedere in Wien genannt, es handelt sich dabei um ein Theater, das der Google-Suche tapfer widersteht. Regisseur der Uraufführung war Irimbert Ganser, den ich um seinen Vornamen nicht beneide, auch er widersteht der Google-Suche außerordentlich tapfer. Mit etwas Mühe findet man noch die Namen der für Bühne und Kostüme Verantwortlichen und dann ist schon Feierabend. Immerhin hat der ewige Horvath-Experte Traugott Krischke, den ich um seinen kompletten Namen nicht beneide, eine Uraufführungskritik als Zeitungsausriss in seinem klassischen Dokumentenband veröffentlicht. Zu Rewe und zurück sind es 1200 Schritte, ganz unabhängig von Regen und Sturm.

4. März 2019

Es muss draußen nur regnen und stürmen und schon leidet die Gesundheit. Meine heutigen 3397 Schritte übertreffen die Zahl der Wörter, die ich Gabriele Tergit an ihrem 125. Geburtstag widmete, nur unwesentlich. Der Briefkasten blieb leer, mein Anruf bei einem Weinhändler wegen zweier spanischer Rotweinpakete mit insgesamt vier guten Gläsern als Zugabe brauchte eine gewisse Zeit, ehe ich statt der Dame aus der Warteschleife einen leibhaftigen Menschen am anderen Ende hatte, der zu allem mich auch noch in seinem Computer gespeichert fand, obwohl ich schon sehr, sehr lange bei ihm nichts mehr bestellte. Über Tergit las ich, dass sie für 500 Mark monatlich neun Gerichtsberichte zu liefern hatte, alles darüber hinaus wurde extra bezahlt. Klar, warum die Zeitungen heute ihre Geschäftsstellen schließen und ihre Sekretärinnen entlassen: um den gut bezahlten Qualitätsjournalismus zu retten. Wie war das gleich mit dem Essen und dem Kotzen? 

3. März 2019

Der Kaieteur-Wasserfall im Regenwald von Guayana ist der schönste Katarakt der Welt. Trotzdem hat er nur wenig Besuch. So steht es heute im Reiseteil der Sonntagszeitung. Ich kommentiere: Gut so. Wenn wir mit unserem Geld nicht wohin wissenden Menschen auch noch die letzten stillen Winkel der Erde, so schön sie auch sein mögen, fluten, wenn wir in immer größeren Schiffen, in immer dichter fliegenden Fernfliegern den Rest der Welt auch noch kaputt machen und das nie mit dem ganzen Geschwafel um Klimawandel aus Menschenhand in Verbindung bringen, dann ist uns wirklich nicht mehr zu helfen. In Venedig erwehren sie sich nun endlich des Tagestouristen-Wahns, die wirklichen Venedig-Freunde müssen es leider mit ausbaden. In Florenz sahen wir, wie Kollaps aussieht, wenn die Kreuzfahrer anlegen ohne Zeit für die Uffizien, aber mit einem sensationellen Verdrängungseffekt: man kommt nicht einmal in die Nähe. Meine Coburg-Kritik steht im Netz.

2. März 2019

Es ist entschieden besser, einen Großvater gehabt zu haben, der Reichsjugendführer und Gauleiter in Wien war als etwa einen popligen Drechsler, der als Sozialdemokrat seine Dorf-Musik aufgab, um 1933 nicht in die SA übernommen zu werden und nach dem Krieg in seinem Kaff die KPD neu gründete, mit dem alten Mist gar nicht erst wieder anzufangen. Ariane von Schirach hat es nach kühnen Anfängen im SPIEGEL nicht ganz so in alle Power-Marketing-Schübe geschafft wie der Ferdinand. Der Ferdinand aber, der füllt, kaum hat er ein neues Buch geschrieben, halbe ZEIT-Magazine, ganze WELT-Seiten und fast ganze in der BERLINER ZEITUNG, um nur zu nennen, was mir eben auf den Weg hüpft. Ich weiß am dritten Schrittzähler-Tag den Weg zu den Mülltonnen zu schätzen, den zur Tankstelle sowieso und noch der Weg zum Briefkasten trägt bei zum Wissen, wieder zu wenig gelaufen zu sein. Nach Coburg zu fahren ins Theater, ist auch kein Lauftraining.


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