Tagebuch

28. Juli 2020

Zwischen Ernst Tollers „Hinkemann“ und Alfred Matusches „Das Lied meines Weges“ las ich Ende Juni 1978 das Buch „Bert Brecht. Erinnerungen aus den Jahren 1917 – 1922“ von Hanns Otto Münsterer. Münsterer war zwischen Herbst 1917 und 1920 in Augsburg eng mit Brecht befreundet, er überlebte ihn um 18 Jahre. Bescheiden endet sein Rückblick: „Es ist anders gekommen. Der Tod verschmähte das kleine Leben und nahm das unersetzliche.“ Es war, soweit ich sehe, das erste Buch über Brecht, das ich las, es folgten etliche nach später. Eine Zeit lang versuchte ich sogar, das freilich vorher, Gedichte nach Brecht zu schreiben, Vorlagen von ihm zu variieren, etwas davon ist sogar gedruckt worden. Allein deshalb will ich heute an diesen Mann denken, der am 28. Juli 1900 geboren wurde und am 30. Oktober 1974 in München starb. Sein Brecht-Buch erschien zuerst 1963 in Zürich, drei Jahre später im Aufbau-Verlag. Er war eigentlich Arzt, Virologe und Volkskundler.

27. Juli 2020

Am 27. Juli 2005 vermeldete die Zeitung, der ich einige Jahre meine Arbeitskraft gegen geringes Entgelt verkauft hatte, dass Geschäftsführer Werner Griego das Haus auf eigenen Wunsch verlässt, er fehlte auch sofort im Impressum. Das heiterte mich nicht wirklich auf, erinnerte mich doch jede Nennung seines Namens an seinen Vortrag über FREIES WORT, als ich ihm 1992 als neuer fester Mitarbeiter vorgestellt wurde. Man hatte ihm weder gesagt, dass ich den Laden bestens kannte, noch dass ich ein Hiesiger war, dem man nicht erzählen musste, wo am Baum die Wurzeln sind. Immerhin, bei meinem Rauswurf hatte er besser informiert gefragt, warum denn die besten Leute rausgeworfen werden. Was mein bald ebenfalls rausgeworfener Chefredakteur antwortete, habe ich nie erfahren. Vielleicht hat er die Frage ja sogar auf sich selbst bezogen, als er an der Reihe war, aus dem Impressum zu verschwinden. Ich las an jenem Mittwoch zur Entspannung Arthur Schnitzler.

26. Juli 2020

Als sie am 25. Juli 1950 an den Folgen ihrer Erkrankung an Multipler Sklerose starb, war sie 51 Jahre alt. Was immer sie an Seltsamkeiten ihres religiösen Weltbildes ausgeprägt hatte, zu welchen teils haarsträubenden Konsequenzen ihr Denken führte: die sehr kurze Geschichte „Saisonbeginn“ ist ganz große Literatur. Und wenn sie nur diese dreieinhalb bis vier Druckseiten geschrieben hätte, müsste sie in jeder deutschen Literaturgeschichte exponiert genannt werden. Gemeint ist Elisabeth Langgässer, deren Ruhm nur sehr kurz währte und sich nie erneuerte. Aus Berlin am frühen Abend die Nachricht, dass alle wohlbehalten wieder zu Hause angekommen sind. Wir vermissen die vielen kleinen Schuhe im kleinen Flur, wir werden vermissen die tägliche Morgenfrage: „Opa, dürfen wir was gucken?“ Immerhin gab es schon die vorsorgliche Erkundigung, ob es beim nächsten Besuch wieder so ein süßes Kästchen zur Versorgung auf dem Rücksitz von Mama und Papa gibt. Gibt es.

25. Juli 2020

Es gibt Menschen, die mit dem Fahrrad zum Fröbelturm fahren, den Wegweiser fotografieren und dann wieder abwärts rollen. Wir sind mit der Bergbahn gefahren, Steilstrecke, Flachstrecke, dann Oberweißbach am Wegweiser Fröbelturm: 1 km geradeaus, 0,4 km eine Wiese steil empor, rechts nach oben abgebogen. Oben besteigen wir den Turm gegen ein geringes Entgelt, ich verspeise eine Wildknacker nebst Brötchen und beobachte nebenher im Kreise der erweiterten Familie die Buben auf dem Spielplatz. Auf dem Rückweg nehmen wir alle die Wiese zwischen Tausenden von sehr kleinen Grashüpfern, erwischen gerade noch den Zug und fahren bis Obstfelderschmiede. Um der Tageskarte einen weiteren Nutzen zu verschaffen, steigen wir in die Bahn nach Katzhütte um und bleiben bis zur Rückfahrt in Richtung Rottenbach einfach sitzen. Am Ende des Tages habe ich den zweiten Enkeltag der Woche mehr als 10.000 Schritte absolviert, die Kondition steigt und steigt.

24. Juli 2020

Die enkelzentrierte Reisetätigkeit findet ihre Fortsetzung mit einem Ausflug zur Kunst- und Senfmühle Kleinhettstedt, wo wir nach ausgiebiger Besichtigung des musealen Teiles über alle Etagen später auch zu Mittag essen. Vorher aber sehen wir noch den Straußenhof Kleinhettstedt, der fast 300 Jahre jünger ist als die Mühle, aber neben dem Anblick von Straußen aller Altersstufen auch viele nützliche Informationen auf Farbtafeln bietet. Es gibt dort einen Hofladen, den wir sicher besucht hätten, doch seine Öffnungszeiten harmonierten nicht mit unserer Anwesenheit. Immerhin sind wir fest entschlossen, bei nächstbester Gelegenheit zur richtigen Zeit zu kommen, um auch etwas zu kaufen. Wie schmeckt Straußensalami? Von Straußenbratwurst hörten wir schwärmen. Im Restaurant entstanden zwei Collagen für Mama und Papa am Smartphone. Abends Kurzbesuch auf dem Spielplatz Kopernikusstraße, wo lustige Großfamilien beim Sitzen beobachtet werden können.

23. Juli 2020

Selbst Enkel-Tage gehen vorbei, auch wenn sie lang sind wie angeblich die Kreuzberger Nächte. Aber Kinder aus Charlottenburg kennen diese Nächte ohnehin noch nicht. Unser Ausflug gilt der Mühlburg, die ich seit meiner Kindheit kenne und die nun sogar über Toiletten verfügt und einen kleinen Kiosk. Wir zahlen nicht mehr als 6,50 Euro für drei Personen, weil für die kleinste Person noch alles nichts kostet, wir besteigen den Turm und suchen von oben das Haus vom Opa des Opas. Den Versuch, auch noch die Burg Gleichen zu sehen, geben wir auf mit Rücksicht auf die Kondition des kleinsten Wanderers. Wir sehen ein geschlossenes Gasthaus Freudenthal. Am Abend der zweite Ausflug zum Sportplatz Unterpörlitz, wo die Fußballer wieder trainieren und die Enkel die hinteren Tore benutzen dürfen. Unglaublich, wie lange man mit fünf und acht Jahren auf richtigem Rasen Fußball spielen kann. Zwischendurch gibt es für beide Wasser aus  personengebundenen Flaschen.

22. Juli 2020

Sagen wir so: Die Wahrscheinlichkeit, dass ich in diesem Leben noch einmal ein Titelbild zieren werde, ist eher gering. Als Cover-Boy bin ich zwischen 50 und 60 Jahre zu alt, das eine oder andere Verbrechen, das sogar ohne Verpixelung auf eine Titelseite hilft, gedenke ich nicht zu begehen. Also halten wir diesen 22. Juli 2020 fest als den Tag, da mir eine freundliche Hausmeisterin im weißen Dienstwagen das erste Exemplar des Magazins der WBG Ilmenau mit dem anheimelnden Namen DAHEIM aushändigte, auf dem ich im roten Hemd mit unfassbar freundlichem Gesicht ein Dach über meinem Kopf bilde mit beiden Händen. Man sieht einige meiner Bücher und CDs hinter mir und den Hinweis auf die Seite 6, wo das Interview mit mir beginnt. Soweit die Selbstdarstellung für heute. Ansonsten ist natürlich immer noch Enkel-Woche Nummer 1. Heute mit Badeausflug an den Stausee Heyda und echtem Onkel-Besuch zum Zwecke des Fußballspielens auf dem Sportplatz.

21. Juli 2020

In Gotha gibt es nicht nur Schloss Friedenstein und einen sehr umtriebigen Bürgermeister, es gibt auch einen Tierpark, der für zwei Erwachsene mit zwei Kindern eine Kombikarte im Angebot hat. Wir sahen allerhand interessante Tiere, den syrischen Braunbären fast zum Schluss, vorher das sehr gut beobachtbare Wolfsrudel, natürlich Erdmännchen, zwei Kapivaras sonnten sich fast in Griffnähe, kinderfreundliche Spielplätze und natürlich überall die Hinweise auf die Abstände, die Maskenpflicht in den Innenräumen. Zwischenstopp in Mühlberg, Opa zeigt seinen Enkeln, wo er als Enkel immer seinen Opa besuchte. In Unterpörlitz gibt es freundliche Fußballer, die zwei kleine Bayern-Trikot-Träger hinterm Netz auf die kleinen Tore spielen lassen. Wir sitzen in der Sonne und schauen zu, wie sie mit ihren frisch aus Dänemark mitgebrachten Fußballschuhen mit richtigen Stollen über den Rasen sausen. Es sieht erstaunlich gut aus, wie sie schon mit dem Ball umgehen.

20. Juli 2020

Weil ich vor fünf Jahren des 70. Todestages von Paul Valery gedachte, versage ich mir heute einen zweiten Versuch und verschiebe meine Schreibbedürfnisse zu ihm auf das kommende Jahr, da ist dann der 150. Geburtstag auch kein schlechter Anlass. Heute setzte ich einem Mann und seinem mit Abstand erfolgreichsten Werk ein kleines, hoffentlich unaufgeregtes Denkmal: Richard Billinger, dem Oberösterreicher, dessen Namen ich schon sehr früh kannte, weil er ein Kleist-Preisträger war wie nicht wenige meiner alten Lieblingsautoren. Irgendwann kaufte ich mir eine Ausgabe der „Rauhnacht“ antiquarisch, gedruckt in meinem Geburtsjahr, und jetzt endlich fand ich die Zeit, ihm etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Einen zweiten Text zu Mann und Schaffen werde ich kaum schreiben, das scheint mir sicher. Und das hat nichts damit zu tun, dass Billinger 1938 sogar den Einmarsch der Deutschen in Österreich begrüßte. Seine Probleme sind mir einfach zu fremd.

19. Juli 2020

Sonntage sind, wenn Besuch da ist, meist Abreisetage, heute ist Ankunfts- und Abreisetag in einem, vier kommen, zwei bleiben, zwei reisen zurück nach Berlin. Es ist der erste Probelauf des uralten Unternehmens Enkel besuchen Oma und Opa und bleiben da. Die Enkel erobern das Doppelbett, Oma und Opa beschränken sich ein wenig. Wir essen alle gemeinsam im Schortetal: acht Personen, wir schauen noch zur kleinen Bahn des Bergbaumuseums, sehen Grashüpfer-Völker in Aktion. Dass sie sich sogar fangen lassen, zeigt Opa, was den Enkeln zwar imponiert, aber nicht zur Nachahmung anregt. Alles, was wir nunmehr brauchen: Kindersitze, mobiles Fußball-Tor, die Roller – landen im Kofferraum, die Enkel besuchen natürlich auch die neue Wohnung ihres Lieblingsonkels, der als einziger Onkel auch keine Konkurrenz zu fürchten hat. Immerhin sieben Absätze meines Textes für morgen werden fertig. Und am Abend gibt es auf besonderen Wunsch ganze Berge von Eierkuchen.

18. Juli 2020

Auch nach sieben Jahren kommen immer noch, wenn auch nicht in Massen, Stimmen zu meinem „Kulturschock NVA“ zu mir. Erst gestern wieder ein natürlich männlicher Anrufer sächsischer Dialekt-Anmutung, der zeitgleich mit mir seinen Armeedienst in Rostock in der Kopernikusstraße absolvierte, er in der 7. Kompanie, ich in der 4., sein Block war der nächste nach meinem im Karree am Exerzierplatz, es muss der gewesen sein, in dem wir bisweilen kalt duschten, weil das warme Wasser immer schon alle war, wenn wir antraten. Alles weit, alles fern. Der Mann will ganz in der Nähe, in Großbreitenbach, Leute von damals treffen. Mein Buch habe ihm sehr gefallen, das wollte er unbedingt loswerden. Das höre ich natürlich gern. Alles andere wäre gelogen. In Berlin, lese ich, gibt es Aktivitäten, der Mohrenstraße einen neuen Namen zu verpassen. Fragt sich, wie lange noch in unserer schönen Stadt Ilmenau ein Urologe namens Mohr praktizieren will: ganz unreflektiert.

17. Juli 2020

Gesetzt den Fall, es würde sich in Deutschland eine größere Gruppe männlicher Menschen homosexueller Natur entschließen, eine politische Partei zu gründen und es gelänge ihnen wegen der Grundgröße ihrer Population und der damit verbundenen Zuneigung von Wählern, die Fünf-Prozent-Hürde zu überhüpfen, wäre dies dann ein Rückschlag für die Emanzipation? Wenn ja, wäre die Emanzipation der Einen dann die Diskriminierung der Anderen? Müssten Rot-Rot-Grüne, die momentan bittere Tränen weinen über das finstere Verfassungsgericht in Thüringen, ihr Denken neu justieren? Man kann wohl vom Tisch reden, dass Parteien mit wenig Frauen Grund hätten, gegen Quoten zu rebellieren, was aber, wenn eine Partei gar keine Frauen hätte? Wir erinnern uns der immer noch realsatirischen Klage, die Mädchen den Zugang zu Knabenchören ermöglichen sollte. Wegen radikaler Unterrepräsentanz müssten Hähne eine Hahnenquote in Hühnerställen erstreben.


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