Tagebuch

14. Juni 2020

Nur ausgewählte Bäckereien haben sonntags schon zeitig genug auf, um uns mit Frühstück zu versorgen. Aßen wir gestern noch auf der Hotelterrasse im 7. Stock mit Blick auf die Wilmi, saßen wir heute innen, weil es draußen vom späten Regen zu nass war. Die Park-Gebühren im Kant-Center sind stramm gestiegen, seit wir zuletzt dort standen. Da wir im Gegensatz zu früher das Auto aber nutzten, stand es nicht die ganze Zeit da. Erstaunlicher Verkehr heimwärts, unser neues Navi nimmt die Strecke über Halle deutlich besser an als das alte. Im Raum Halle goss es aus Eimern, kurz vorm Ziel hatten wir noch einen ziemlich heftigen Rückstau vor der Baustelle auf der A 71. An der Tankstelle die Zeitungen von gestern und heute, von der Nachbarin die Poste von vorgestern und gestern und das Leben ist wieder in den gewohnten Bahnen. Ich las in Berlin „Palästina-Reise 1934“ von Arthur Eloesser, nur 30 Seiten inklusive Nachwort, ein aufschlussreicher Reisebericht.

13. Juni 2020

Berlin ist immer für einen Tag mit 13.000 Schritten und mehr gut, gestern klappte es, heute wurden es nur knapp 11.000. Denn unsere Ziele steuerten wir mit dem Auto an, verzichteten auf öffentliche Verkehrsmittel. Die Kantstraße ist ein erweiterter Radweg, wo die Parkplätze auf der Mittelspur sich finden, während links die Radfahrer frei vor sich hin fahren dürfen, falls sie denn wollen. Es wollen kaum welche. Wir fuhren zum Wannsee, Halbinsel Schildhorn, der Nachwuchs stürzte mit und ohne Schwimmflügel ins Wasser, wir sahen das Jaczo-Denkmal oberhalb des Badeplatzes, das auf Friedrich Wilhelm IV. zurückgeht und damit gute Aussichten hat, einem der näher rückenden Bilderstürme zum Opfer zu fallen. Später sahen wir das Gutshaus Neukladow auf der anderen Seite des Sees. Man darf zwar keine Tische zusammenrücken, aber Stühle an einen Tisch stellen, so viele man braucht. Es gibt schlimmere Einschränkungen. Abendessen auf dem Walter-Benjamin Platz.

12. Juni 2020

Nach langer ICE-Phase heute erstmals wieder mit dem Auto nach Berlin. Unser Stamm-Hotel der letzten Jahre hat noch bis zum 30. Juni geschlossen, das, in das wir einrücken dürfen, schon seit dem 1. Juni geöffnet. Wir müssen bis zur 7. Etage nach oben fahren, dort finden wir die Rezeption, dann bis zur 4. Etage wieder herunter, dort finden wir unsere beiden Zimmer. Zimmerservice gibt es während des Aufenthaltes nicht, man kann über ein Bestellsystem Frühstück bestellen, worauf wir verzichten. Wir laufen zur Gervinusstraße, haben dann ein wenig Mühe, das Schild zu entdecken, auf dem Margarete-und-Arthur-Eloesser-Park steht. Schließlich finden wir es und wundern uns, warum wir es nicht gleich gefunden haben. Auch in Corona-Zeiten laufe ich zu Ambrosetti und trage neun Sorten von hinnen. Die Haupt- und Nebengeschenke zum gestrigen Geburtstag werden in froher Erwartung ausgepackt: ein Buch gab es gestern schon. Das kenne ich aus meiner Kindheit.

11. Juni 2020

Autoren-Eitelkeit: Wer schreibt, freut sich über Resonanz. Wer über andere Autoren deshalb schreibt, weil er meint, ihnen gehöre mehr Aufmerksamkeit, freut sich über jede Stimme, die das anerkennt. Und unter diesen gibt es ganz besondere: als mir Irmgard Keuns Tochter Martina schrieb, war ich bewegt und gerührt und bewegt und gerührt. Jetzt hat mir Michael Eloesser, der Enkel von Arthur Eloesser, nicht nur einfach geschrieben, sondern sich mit zwei Büchern bei mir bedankt. Eines enthält die Feuilletons der Jahre 1900 bis 1913, nicht nur die Theaterkritiken dieser Zeit. Das Leben kann herrlich sein für einen, der schreibt. Und eigentlich wollte ich heute nur an meinen Enkel denken, den wir morgen besuchen, nach vier Monaten Corona-Pause, nur per Skype gratulierten wir heute. Und dann wollte ich von Zernez im Engadin schreiben, wo wir heute vor 15 Jahren ein kleines Studio bezogen für die Schweiz-Woche des Jahres, bei nur 6 Grad fuhren wir los.

10. Juni 2020

Mit Mundschutz an ein Büffet gehen, sich den Teller füllen, an den Tisch gehen, den Mundschutz abnehmen, essen, mit Mundschutz den Nachschlag holen, dazu das Radler trinken, wie man es immer tat, ohne Mundschutz natürlich: so wurde gestern unser Wiedereinstieg in die Gastronomie vollzogen. Ohne Mundschutz las ich heute ein Büchlein von Anfang bis Ende und schrieb auch gleich noch von Anfang bis Ende darüber, ich werde den Text am Sonntag ins Netz stellen. Das funktioniert nur, weil ich einen anderen erst am Montag fertig haben muss und das verschafft mir etwas Luft. Muss ich mich ausruhen zwischendurch? Wäre ich Sportler, würde ich mir uneitel ein spürbares Formhoch attestieren: aber es zählen die Tore, nicht die geschlagenen Pässe, um auch die Geisterspiele nebenher zur Sprache zu bringen. Die Wasserstoffinitiative der Bundesregierung hat mich milde erheitert: vor mehr als 20 Jahren hörte ich Vorträge und sah Versuche: wie es geht.

9. Juni 2020

Dies ist er nun: mein, unser 44. Hochzeitstag. 2001, 2006, 2011 und 2016 waren wir jeweils an diesem Tag in Venedig. Man kann leicht ausrechnen, wann wir wieder dort sein werden, wir sind auch gewillt, wieder unser altes Stamm-Hotel zu nehmen mit Blick auf den Canale Grande. Dass dieser Tag zugleich auch der Todestag von Charles Dickens ist, stand mir natürlich nicht immer vor Augen, heute schon. 2700 Wörter sind es geworden, die ich gestern schrieb und heute der zweiten Korrektur unterwarf, was die Fortexistenz von weiteren Fehlern natürlich nicht ausschließt. Wir trinken am Abend Wein aus St. Michael, genannt Wösendorfer Gelber Muskateller Federspiel. Zur Einstimmung gestern gab es Grünen Veltliner Smaragd Ried Weitenberg vom Weingut Mazza. Das ist das einzige (das ich kenne), welches das Lesedatum auf der Flasche dokumentiert: Wir tranken den 26. September 2018. Mit der Eidechse vorn drauf, die die Qualität Smaragd anzeigt: 14 %.

8. Juni 2020

Was fällt mir beim Titel „Eine Million Trennungen“ ein? Ich tröste mich: Erst einmal gar nichts. Zwei Suchanläufe später weiß ich: am 8. Juni 1980 las ich, es war auch damals schon der Vorabend meines Hochzeitstages, diese Geschichte von Wassili Axjonow, die die Titelgeschichte des gleichnamigen Buches ist, erst am 2. Juli trug ich es als zu Ende gelesen in mein Register ein. Ich las auch etwas von Helga Königsdorf: „Eine Idee und ich“ fand ich schwach, „Rundfahrt“ dagegen recht gut. Schrieb ich damals tatsächlich auch an meiner Diplomarbeit? Mein damaliges Tagebuch zeigt, dass mein Tag offenbar 27 Stunden hatte. Heute bin ich den lieben langen Tag bei Charles Dickens, weil mein Heinrich Lautensack zeitig genug fertig wurde. Ich notiere mir als Idee, von geistigem Kellerbier zu schreiben, naturtrüb wie das flüssige auch, mit Schwebstoffen, die nicht herausgefiltert sind. Wahrscheinlich vergesse ich die Idee, notiert auf einem alten Briefumschlag.

7. Juni 2020

„Am Morgen des 7. Juni 1970 wurde die Fahne am altehrwürdigen King’s College der Universität Cambridge auf halbmast gesenkt. Mit dem 91jährigen Edward Morgan Forster war einer der bedeutendsten englischen Schriftsteller  des 20. Jahrhunderts verstorben.“ So beginnt das DDR-Nachwort zu Forsters vielleicht bekanntestem Roman „A Passage to India“, verdeutscht „Auf der Suche nach Indien“. Das ist jetzt 50 Jahre her, genau zehn Jahre nach Forster starb Henry Miller, das ist jetzt vierzig Jahre her, bei dem immer nur alle an Pornographie denken so wie nicht wenige bei Forster nur noch an Homosexualität. Womit jemand im Gedächtnis der Nachwelt bleibt, kann er sich nicht aussuchen, selbst wenn er sich alle Mühe gibt, darauf Einfluss zu nehmen. In Brasilien breitet sich Springinsfeld CoVid19 wie verrückt aus, was dem lustigen Präsidenten die Idee eingibt, keine Statistiken mehr veröffentlichen zu lassen, die ein falsches Bild abgeben. Grandiose Idee.

6. Juni 2020

Heute hat einer seinen 80. Geburtstag, den ich nur dann näher zu meinen Autoren gemacht hätte, wenn das Projekt „Jahrgang 1940“ im Mitteldeutschen Verlag nicht gleich 1990 gestrichen worden wäre: Reinhard Bernhof. Drei Bücher stehen immerhin in Griffweite neben mir: „Der Angriff des Efeus“, „Leipzig, Hauptbahnhof“, „Tägliches Utopia“. Am 18. Oktober 1989, Honecker war eben aus dem Amt gejagt worden, las ich Bernhofs Kinderbuch „Ben sucht die Quelle“, ich tippte meine Notizen mit einem offenbar ganz frisch eingelegten schwarz-roten Farbband auf meiner guten alten Schreibmaschine. Einen Monat zuvor hatte ich begonnen, rein schwarzes Farbband, mich intensiver mit der Literatur über Bernhof zu befassen, mehr als zwei Seiten sind es aber nicht mehr geworden. Das Smartphone erinnert uns an unsere Venedig-Tour 2016, zeigt Fotos von den quietschbunten Häusern auf Burano. Ein Jahr noch müssen wir warten, bis wir es wiedersehen. Das halten wir aus.

5. Juni 2020

Es gab eine Zeit vor unserer Zeit, vor Corona, also nicht v. Chr., sondern v. Co., da waren sich alle Journalisten mit anderthalb Ausnahmen einig im Streben, Angela Merkel vorzeitig aus dem Amt zu schreiben, Magazine titelten in dieser Richtung, Kommentare kommentierten. Jetzt steht die CDU bei 38 Prozent, Angela Merkel hat Zustimmungswerte von 70 Prozent und einige der Journalisten fragen vorsichtig an, ob die Kanzlerin nicht doch vielleicht noch eine Amtszeit anhängen möchte. Kohl hätte, eben schon im Koma, sofort JA! gebrüllt, Adenauer sowieso, der hätte noch aus der Gruft gekanzelt. Angela Merkel aber wird in die Uckermark gehen und mit Professor Sauer dies und jenes tun. Ein Politikstil wird weg sein und ungekämmte Kerle und Twitter-Vollpfosten werden die wichtigste Gegengröße in der Weltpolitik los sein. Man müsste es eigentlich bedauern. Man kann jedem x-beliebigen Nachfolger nur wünschen, er müsse erst einmal lange keine Krisen managen.

4. Juni 2020

Seit wir in dieser Corona-Krise leben, debattieren die berufsmäßigen Debattierer darüber, wie es danach aussehen wird und zwölf von sieben aus ihren Reihen äußern den Wunsch, alles möge besser werden, wir möchten gelernt haben und so weiter. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich, dass sich nichts ändern wird. Die Leute, die ihre Kinder in den wiedereröffneten Kindergarten bringen oder sie von dort holen, sind immer noch genauso faul wie vorher, auch nur einen Meter zu viel zu laufen, nur dass sie jetzt mit Mundschutz kurven und kurbeln und Chaos verursachen mit ihren Autos, die möglichst alle direkt am Zugang zur Einrichtung halten wollen. Am 4. Juni 1945 starb in Ascona, das ich leidlich gut kenne, der Dramatiker Georg Kaiser. Ich las zwischen dem 10. August und dem 17. November 2003 nicht weniger als 21 Stücke von ihm, stellte am 4. Juni 2015 einen alten Zeitungstext von mir (aus dem Jahr 2003) in meine junge Rubrik ALTE SACHEN.

3. Juni 2020

Manchmal bin ich doch ehrgeiziger, als ich sein sollte: ich wollte meinen Beitrag zu Georg Seidel, der heute vor 30 Jahren starb, noch vor Mitternacht ins Netz stellen und ich schaffte es. Ich wollte nach dem Hinweg zum Zahnarzt, letzte Kontrolle heute und nun Rückkehr zum Normalmodus der Besuche, auch den Rückweg zu Fuß laufen. Geriet dabei in einen derartigen Platzregen, dass ich bis auf die Haut durchnässt nach Hause kam. Dafür zeigt mein lieber Schrittzähler, den ich unterwegs vor Wasser schützte mit meinem noch unbenutzten Brillentuch, schon eben mehr als 11.000 Schritte an, und einige kommen noch hinzu. Das Hotel, das wir kommende Woche nutzen wollten, weil es seit langem unser Stammhotel in Berlin ist, hat noch bis zum 30. Juni geschlossen, wir wechseln in ein Haus, dessen Rezeption in der 7. Etage ist. Die Post brachte mir ein Buch von Reich-Ranicki aus dem Jahr 1965, das tatsächlich überwiegend mir unbekannte Sachen enthält, es freut mich sehr.


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