Tagebuch

5. Juli 2020

Der siegreiche Einmarsch der Deutschen in Frankreich 1940 allein war es nicht, der eine wahre Selbstmordwelle unter Emigranten auslöste; zunächst Ernst Weiß, dann Walter Hasenclever, dann, heute vor 80 Jahren, Carl Einstein. Walter Benjamin wartete bis September, ehe er sich seinen Vorgängern anschloss. Es war ein perfider Paragraph, den die Franzosen unterschrieben hatten innerhalb des Waffenstillstandsvertrages: sie verpflichteten sich, auszuliefern, wen immer die Deutschen haben wollten. Das erzeugte Panik unter allen, die wussten oder glaubten, sie könnten auf einer diesbezüglichen Wunschliste stehen. Die Sonntagszeitung fragt heute in ihrem Feuilleton, warum Theaterkritiker nicht klatschen. Mitten im Text kommt dann der Satz: „Der Standesdünkel lässt nach.“ Und es stehen ein paar Argumente der Großkritiker-Generation 2.0 da. Ich klatsche, seit ich Kritiken schreibe, nicht mehr und nicht weniger, als ich früher klatschte. Das zeugt gegen mich.

4. Juli 2020

Den fröhlichsten Dänen, den ich je belichtete, erwischte ich in Hasle am 4. Juli 1995, er würzte eben diverse Filets mit verschiedenfarbigen Würzmischungen. Hasle hat mehrere Räuchereien, die Fische sind herrlich und nur 1900 Einwohner leben da. In Gehren war ich heute nach längerer Pause wieder einmal im „Steinbruch“, kam zu spät, weil ich von zwei Einladungen nur eine bekommen hatte. In jungen Jahren war ich selten dort, warum auch immer, zuletzt aber wegen der Vorbereitung von Klassenfeiern und der Klassenfeier selbst mehrfach. Gut, dass ich das Auto hinterm Friedhof abstellte, Parkplätze waren alle besetzt. Mein heutiger Text zu Max Klinger überrascht mich selbst, weil ich nicht nur nicht gedacht hätte, ihn je zu schreiben, sondern auch, weil er sich fast wie von allein schrieb. Dafür ersetze ich morgen einen möglichen Text zu Carl Einstein durch einen alten aus dem fernen Jahr 1989. Der brachte damals 90 Mark Honorar, für uns eine ganze Monatsmiete.

3. Juli 2020

Die Mitte der Gesellschaft müssen wir uns als eine Art Kopfbahnhof vorstellen. Ständig kommt etwas in der Mitte der Gesellschaft an, nie fährt etwas von dort weg oder geht zu Fuß in Richtung der Ränder. Einige Abende öffentlich-rechtliches Fernsehen und man erfährt: der Antisemitismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen, rechtes Gedankengut sitzt dort bereits auf der Bank, nachdem es in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Gestern hörte ich, dass nun auch der Kampf ums Tierwohl in der Mitte der Gesellschaft angekommen sei. Ich mache mir ernste Sorgen um die Mitte der Gesellschaft. Die meisten Menschen, die an der Bahnsteigkante stehen, wenn etwas ankommt, machen beim Bericht darüber ernste Gesichter. Noch ernster sind die Gesichter derer, die die Ankunftsberichte an- und abmoderieren. Dürfen wir eigentlich die platonische Liebe noch so nennen, wo doch Platon alle Nicht-Griechen Barbaren nannte, diese rassistische Sau?

2. Juli 2020

Gestern, verraten wohlunterrichtete Blättlein des Waldes, gab es im Kreistag eine Gedenkminute für Horst Höhne, von dessen Ableben im Alter von 80 Jahren ich auch erst aus dem Amtsblatt erfahren hatte.  Ach, wie lange kannte ich diesen Horst, der gerne Bratwürste briet, noch lieber Bratwürste aß und in allen Ausschüssen und Vereinen saß. Eine Zeit leitete er den Schulausschuss, mit dem ich auf familiärem Wege sehr verbunden war. „Dokter!“, rief er, wenn er mich sah, „Hoast!“ rief ich, wenn ich ihn sah und meistens riefen wir beide zugleich. In den Jahren nach meinem Abgang aus der lokalen Zeitungswelt sahen wir uns selten, begrüßten uns aber umso herzlicher. Manchmal machten wir Scherze über die Zeit, als Arnstadt und Ilmenau sich noch gegenseitig Erdrutsche und Erdbeben an die Hälse wünschten, Arnstadt immer deutlich heftiger als umgekehrt Ilmenau. Horst ließ sich, als ich 1992 nach Arnstadt kam, immer gern von mir fotografieren, nicht selten sogar mit Erwin.

1. Juli 2020

Ein Vierteljahrhundert ist es heute her, dass wir in Swinemünde die M/S Wilanow bestiegen, um mit ihr zur dänischen Insel Bornholm zu gelangen. Unser Ziel hieß Sandkaas, wir hatten ein sehr großes Haus mit zwei Etagen, das Auto dabei, den Schwager nebst Frau und Kind ebenfalls, die Tochter, den Sohn, viele Urlaube in dieser Komplett-Besetzung gab es später nicht mehr. Viel mehr als eine kurze Erkundung der Nachbarschaft schafften wir am Ankunftstag nicht, sahen den Strand, der nicht zu den schönsten der Insel zählt, weshalb wir dann auch lieber nach Dueodde fuhren, zum Boderne-Strand, zum Balka-Strand, wenn wir nicht gerade Rundkirchen besichtigten, Ruinen erkundeten oder Räuchereien besuchten, die zarte Filets anboten, die man frischer sich nicht wünschen konnte. Es war unser zweiter Dänemark-Urlaub nach 1994 und vor 1997. Danach zehn Jahre Pause bis 2007, seither schon wieder Pause. Dafür erreichen uns eben Bilder von dort mit den Enkeln drauf.

30. Juni 2020

Wer an einem 30. Juni in sein Tagebuch schreibt, das halbe Jahr sei um, wird zwar von jedermann verstanden, hat aber erst Punkt Mitternacht wirklich recht. Vor vierzig Jahren war ich mit meiner Tochter gemeinsam enttäuscht, weil wir die Tierschau von Zirkus Aeros nicht ein zweites Mal sehen konnten, hatten aber die wenigen Tiere wenigstens am Freitag davor schon besichtigt. Sechs Seiten Tagebuch an einem Tag, das waren Zeiten. Zwanzig Jahre später hatte ich mich mit mir selbst auf eine Seite pro Tag geeinigt, die letzte dieser Seiten schrieb ich am 9. September 2010. Heute halte ich bei zehn Zeilen pro Tag, auch das läuft im kommenden Jahr bereits wieder zehn Jahre und irgendwann kommt der Punkt, wo Nachlassverwalter zu entscheiden haben, ob sie sich mit meiner sehr gut aussehenden, aber schwer zu lesenden Schrift quälen wollen, oder ob alles besser vernichtet wird. Sollte es dann regnen, sind es nicht meine Tränen von weit oben, hoffentlich nicht.

29. Juni 2020

Dies ist nun nicht nur der erwähnte 50.Todestag von Stefan Andres, dessen letzten Roman „Die Versuchung des Synesios“ ich vor Jahren meinem Vater schenkte und im Oktober mit vielen, vielen anderen Büchern dem freien Markt in einem Buchdorf zuführte. Dies ist auch der 90. Geburtstag von Slawomir Mrozek, der nicht mehr lebt und mich ein wenig herausfordert, weil es mehr als 40 Jahre her ist, dass ich zuerst einige Stücke von ihm las, dann lange nichts mehr. Ich beglückte meine Krankenkasse und meine Ersatzkasse mit den saftigen Rechnungen meines lieben Zahnarztes, das mir von ihnen Zustehende zurückzuholen, die Gesamtrechnung ist bereits bezahlt. Nun, wo die fette Rentenerhöhung ins Haus steht, der im kommenden Jahr im Westen die Nullrunde folgen soll, wirft mich nichts mehr um. Wir im Osten bleiben weiterhin privilegiert. Morgen ist dann der 30. Juni, was uns unmittelbar an den 1. Juli erinnern wird vor 30 Jahren, mit seiner knochenharten Währung.

28. Juni 2020

Man bekommt, wenn man brav mit Maske eingetreten ist, von maskierten Frauen einen Platz in der „Altdeutschen Bauernstube“ in Königsee angewiesen, obwohl man nicht vorbestellt hat. Man speist wie in besten Zeiten sehr gut, geht maskiert aufs Klo und wieder raus. Draußen wartet man auf die maskierte Gattin und zu Hause erfreut man sich am zweiten Scheitern des Hamburger Sportvereins beim Versuch, wieder in die Erste Bundesliga zu kommen. Bremen darf gegen Heidenheim spielen, ich weiß nicht, wie viele meiner leiblichen Verwandten in Heidenheim in Aufstiegsvisionen vor sich hin schwelgen. Zum Abend schauen wir einen sehr langen Film mit sehr vielen Superschauspielern in zum Teil nur winzigen Nebenrollen, in den Hauptrollen ein gewisser Orson Welles und ein gewisser Gert Fröbe, die man immer wieder sehr gern sieht. Jean-Louis Trintignant war diesmal kein wildes Schaf, sondern ein böser Verräter. Gott liebt den Verrat, aber nicht die Verräter. Oder so.

27. Juni 2020

Pflichtgemäß hat Borussia Dortmund sein letztes Heimspiel saftig verloren und somit der ohnehin längst feststehenden achten Meisterschaft von Bayern München in Folge den nötigen zweistelligen Vorsprung verschafft. Würde Bayern nur knapp Meister, wäre es irgendwie peinlich, obwohl in dieser Saison selbst Bayern-Fans hofften, es mögen diesmal andere sein, die mit der Schale hüpfen. Nunmehr ist es endgültig klar: die Erste Bundesliga trägt mit 18 Mannschaften einen Wettbewerb um die Vizemeisterschaft, die Abstiege und ein bisschen auch die internationalen Plätze aus. So schlecht ist das nicht, nur das Wechseln der jeweiligen Meister-Trainer müsste noch irgendwie geregelt werden, denn nicht jeder langweilt sich nach drei Spielzeiten wie Pep Guardiola, der endlich auch einmal Jürgen Klopp gratulieren wollte. Wir sitzen mangels Fernsehprogramm den zweiten Abend in Folge auf unserem blumenreichen Duftbalkon bei Wein und einer Einzelkerze.

26. Juni 2020

Natürlich ist es kein Zufall, wenn ich heute nach leichter Kletterübung das Foto-Album von unserer ersten Ischia-Reise vom Schrank hole. Ich suche die Bilder aus Positano, elf sind es, und finde sie im zweiten Band. Davor Sorrent, wo wir das Intarsienbild vom Vesuv erwarben, danach Amalfi mit Kurzhalt oberhalb der Smaragd-Grotte. So waren sie eben, die Tagesausflüge zur Amalfi-Küste. Es war der 29. März 1994, wir sind seither nie wieder dort gewesen. In Positano aber lebte einer der Lieblingsdichter des Alt-Westens, dem auch der Alt-Osten ein paar Bände gewidmet hatte, vor allem in den christlichen Verlagen. Am 26. Juni 1906 ist er nahe Trier geboren, am 29. Juni 1970 starb er im Krankenhaus in Rom an einer Embolie nach einer an sich harmlosen Operation: Stefan Andres. Sein „El Greco malt den Großinquisitor“ besitze ich viermal: in zwei Andres-Bänden und in zwei Anthologien. Der „Volksfreund“ in Trier gedachte vorsorglich schon gestern des Todestages.

25. Juni 2020

Der neue Holunder ist farbig und duftet wild vor sich hin, er verwandelt sich heute in sieben kleine Gläser und damit ist das Holunder-Thema abgearbeitet. Ich sitze von früh bis spät am alten Hans Marchwitza, weil der ins Netz soll und das gelingt mir auch. Die Post bringt mir ein Buch zum 70. Geburtstag von Georg Lukacs, der war 1955 und ist folglich schon eine Weile her. Vor 15 Jahren wechselten wir vom hohen Südtirol ans untere Ende der Weinstraße nach Kurtinig. Unser Zimmer war ganz oben im Hotel, mit einem winzigen Balkon, der zum Weintrinken eben so ausreichte und viel mehr hatte er auch nicht zu leisten in der beginnenden Woche. Im nächsten Dorf schon spricht man nur italienisch, die DOC für den Wein ist Trentino, wir bevorzugen unter den roten Teroldego Rotaliano und daran hat sich bis heute nicht revolutionär viel geändert. Wir kennen nur mehr, weil wir ständig probieren und das ein wenig über dem Durchschnitt liegende Weingedächtnis haben.

24. Juni 2020

25 Jahre ist es her, dass ich, ein Vater mittlerer bis schlechter Präsenz in den jungen Jahren seiner zahlreichen zwei Kinder mit diesen beiden gemeinsam und ohne die zu uns allen gehörige Mutter-Gattin gen Venedig reiste. Es war, wie man so sagt, das Urerlebnis Venedig. Wir wohnten unweit des Markus-Platzes, wir hatten ein unfreundliches Hotel und waren trotzdem sehr froh, da zu sein. Später speisten wir gelegentlich in just diesem Hotel-Restaurant, wenn wir in Venedig waren, die Idee, dort zu wohnen, kam uns nie. Die Renormalisierung des Alltagslebens führt dazu, dass wir heute bereits den zweiten Fußpflegetermin nach neuer Zeitrechnung haben, ich wandere wie immer in der Gegend herum, wenn ich fertig bin, es gibt auch wieder die guten Landeier im Kühlschrank mit Selbstbedienung und Kasse des Vertrauens. Es sind die Kleinigkeiten, die das Leben machen, wie es angenehm ist. Der Holunder von gestern füllt heute zehn kleine Gläser und wir haben neuen.


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