Tagebuch

26. Januar 2020

Als Gott die Baumhasel erschuf, hatte er keinen Plan, wo sie wachsen solle. Niemand riet ihm zu einem Abstandsgebot, wie es heute die Windkraft lahm legt. Baumhasel direkt unter meinem Arbeitszimmer, direkt am Weg zu meiner Tankstelle, wo ich meine Zeitungen hole am Wochenende. Was sonst gesund ist: frische Luft, zusätzliche Schritte für den Schrittzähler, ist in diesen Tagen versuchte schwere Körperverletzung. Würde der Klimawandel, ja er, eine solide Schneedecke auf diesen dämlichen Hasel-Schnasel legen, würde es wenigstens ordentlich regnen als Schneeersatz, dann müssten nur die Würmer in der Erde sehen, wie sie das Reißen in der Brust ertragen. Ich verweigere den Sonntagsspaziergang, es scheine die Sonne wie sie wolle. Die jungen Orchideen-Triebe freuen sich, der alte Orchideen-Pfleger wäre gern Regenkönig. Unsere lieben Medien machen selbst aus dem Auschwitz-Gedenken einen Hype mit allen Übersättigungsfolgen: schlimm.

25. Januar 2020

Die Therapie mit den Stichen in den Ellenbogen gestern hat ein wenig geholfen. Es ist ausgemacht unangenehm, wenn man nachts beim Umdrehen seinen eigenen linken Arm mit dem rechten anheben muss, weil sonst die Schmerzen ins Unerträgliche gehen. Wie alt sind Sie, Herr Doktor? Nein, nein, das hat mich niemand gefragt. Wir haben nur über Kohlendioxid geredet, den einen ist es Klimagas, den anderen eine Therapie. Heute Auffahrt nach Neustadt, wo es aussieht wie auf der schönsten Kitschpostkarte. Kein Schnee auf dem Boden, aber die Bäume, die Bäume. Schlachtfest seit 25 Jahren, ich rede mit Kollegen, die die Presse repräsentieren. Alles ist nicht mehr wie früher, auch die Lokalpresse setzt auf Home-Office mittlerweile. Ich hatte das unfreiwillig bei meinem kurzen Intermezzo für die „Thüringische Landeszeitung“. Das war schon, als die Blüten blühten, die Landschaften ließen sich noch etwas Zeit. Die Pollen-Allergie reißt an meinem Inneren.

24. Januar 2020

Weil ich eben zwei Seiten von Eva Strittmatter über Wassili Below las, schaute ich, was es von dem eigentlich alles gab in den völlig neuen Bundesländern, als die noch Bezirke hießen. Und da staunt man: weit mehr als die beiden Büchlein, die ich besitze und ein Antiquar, der keine Probleme damit hat, seine eigenen Vorurteile dem weltweiten Web anzuvertrauen, stellt angesichts des Buches, das er anbietet, fest, Below sei offenbar doch nicht so angepasst gewesen, wie seine beiden staatlichen Auszeichnungen vermuten ließen. Ich zum Beispiel bin einmal Aktivist der sozialistischen Arbeit geworden, während mich gleichzeitig die Genossen von der unsichtbaren Front mit argen Augen (sprich: Argusaugen) beobachteten. Was auf meine Anpassung hindeutet. Eva Strittmatter hat anno 1977 die einzig wichtigen Fragen vermieden, die an das Buch zu stellen gewesen wären. Geschieht, was Below erzählt, tatsächlich mitten in der Sowjetunion, mitten im Sozialismus? Antwort: ja doch.

23. Januar 2020

Die jüngste Ausgabe von Text+Kritik, begründet von Heinz Ludwig Arnold, ist Sibylle Berg gewidmet. Man sieht die einst in Weimar geborene und lange schon in der Schweiz lebende Dame mit zwei dicken Ringen an der linken Hand auf dem Titel, sie schaut listig nicht in die Kamera. Sie stellte 1984, lese ich hinten, einen Ausreiseantrag. Ich kann mich gut erinnern, wie das damals war mit den Ausreiseanträgen, die einen stellten sie und kamen raus, die anderen litten, weil sie die kannten, die raus durften. Aber das war in einem anderen Land. Als Kind hörte ich von den großen Schwierigkeiten, die Sophia Loren erstens hatte, weil sie sich scheiden lassen wollte und zweitens, weil sie die Schweizer Staatsbürgerschaft erstrebte. Vielleicht habe ich das aber nur völlig falsch gespeichert. Ich würde mir im Zweifel gern die Schweizer Staatsbürgerschaft aufdrängen lassen, nur die drängen dort nicht, das ist das Problem. So bleibe ich gelernter DDR-Bürger der BRD.

22. Januar 2020

Es gibt Kuchen, die sehen nicht wirklich gut aus. Selbst bei Elisabeth Raether, deren Rezept-Vorstellungen im ZEIT-Magazin schon schmecken, wenn man sie noch gar nicht probiert hat, weil sie so lekker geschrieben sind, wie unsere niederländischen Freunde sagen würden. Also in diesem Falle rede ich von einem Mandel-Orangen-Kuchen, den Raether einem Kochbuch der ägyptisch-britischen Autorin Claudia Roden entnommen hat. Der enthält keinerlei Mehl, dafür aber zwei Bio-Orangen in Gänze, die vorher anderthalb Stunden am Stück gekocht werden müssen, danach püriert und so weiter. Der Kuchen muss dann eine Weile rumstehen und ehe wir uns im Kino den neuen Udo-Lindenberg-Film von Hermine Huntgeburth ansehen, kosten wir ihn. Mit Schlagsahne drauf. „Hallo-Ballo“ hätten wir früher gesagt, aber das war auch in einem anderen Land. Wer irgendwo  alte ZEIT-Magazine findet, suche nach der Kolumne „Die trinkende Frau“ von Raether: Lekker!

21. Januar 2020

Weißt du, was heute für ein Tag ist, lautet die Morgenfrage am Tisch im Speisezimmer. Natürlich weiß ich. Es ist der Geburtstag meiner Schwiegermutter. Außerdem ist es, was ich nicht weiß, der Geburtstag von Ellen, die heute 65 Jahre alt würde, wenn sie nicht so schrecklich früh an Krebs gestorben wäre. Ich habe das Bild von Ellen und Elke in gleichen Jacken mit großen farbigen Karos noch gut vor Augen, sie standen an der nicht mehr vorhandenen Schlossmauer in Gehren und warteten auf den Schulbus, braun die eine, blond die andere. Das war in einem anderen Land, würde Hemingway sagen. Wir laufen heute die ganz große Runde zum Berufsschulzentrum auf dem Ehrenberg, über das Uni-Gelände und durchs Teichgebiet. Wir sehen Neubauten, die wir noch nicht sahen von der Krebswiese aus und bilden Sätze mit dem Wort früher. Im Berufsschulzentrum gab ich vor 30 Jahren noch Seminare gegen Honorar: als Freiberufler. Das war in einem anderen Land.

20. Januar 2020

Die Frage, warum aus Frankreich uns derzeit in auffälliger Häufung Autoren und Autorinnen beglücken, deren Familienname mit E beginnt, entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage. Man darf sie dennoch stellen angesichts von Jean Echenoz, Mathias Enard, Annie Ernaux und, siehe gestern, Didier Eribon, womit nichts gegen Proust gesagt sein soll, der tot ist und auch nichts gegen die unfassbare fotogene Leila Slimani, die am 3. Oktober 39 Jahre alt wird, wenn wir hier alle mit der Sektflasche auf dem Balkon hüpfen wegen 30 Jahre Einheit. Slimani hat laut SPIEGEL über die Sexualität der Frauen in Marokko geschrieben, die sich vermutlich, ich kenne mich nicht aus, im Kern nicht grundsätzlich von der Sexualität auf der Osterinsel unterscheidet und wenn doch, hält sich mein Interesse daran in spaltengen Grenzen. Legt man Fotos von Annette Kolb neben die von Leila Slimani, ahnt man, wie Medienbetrieb läuft, falls man nicht schon vorher Ahnungen hatte.

19. Januar 2020

Drei Bücher einer Autorin in unmittelbarer Folge, das passiert mir nur noch selten, im vorigen Jahr klappte es einmal mit Volker Braun, einmal mit Hans Bender, beide erwiesenermaßen keine Autorinnen. Heute legte ich „Wera Njedin“ beiseite nach „Die Schaukel“ vorgestern. Und nebenher läuft René Schickele aus nahe liegenden Gründen, läuft Ludwig Meidner aus nicht ganz so nahe liegenden Gründen und Hermann Kesten, der immer laufen könnte, wenn die Welt nicht so organisiert wäre, dass 24 Stunden einen Tag bilden. Die Sonntagszeitung präsentiert mir heute ein schreibendes Skelett aus Dänemark: die Schriftstellerin Madame Nielsen. Wollen wir hoffen, dass die Anzeigenblätter im kommenden Jahr nicht melden müssen, dass Madame nach Anna und Helene auf Platz 3 der beliebtesten Vornamen für kleine dünne Mädchen gelandet ist. Außerdem hat die Sonntagszeitung Didier Eribon mit „Betrachtungen zur Schwulenfrage“ aus dem Jahr 1999.

18. Januar 2020

Mein lieber Schrittzähler, der bald seinen ersten Geburtstag feiern darf, zeigte mir gestern zu später Stunde die Zahl 11111, 11505 waren es am Donnerstag. Auf diesem Wege werde ich vielleicht nicht gleich 97 Jahre alt wie Annette Kolb oder fast 91 wie meine Mutter, aber immerhin, ich komme vorwärts und muss dazu nicht auf einem Fahrrad sitzen, welches mich über die Radwege meiner Heimat trägt. Gestern hätte ich pflichtschuldigst an Anne Brontë denken müssen, die unbekannteste der drei Schwestern, die nicht von Tschechow sind. Leider mangelt es mir an den elementarsten Kenntnissen über sie und ich besitze auch keine einzige Zeile von ihr. Weshalb ich also den 200. Geburtstag ignoriere. Heute wäre in schaumgebremster DDR-Nostalgie an Sigrid Bock zu denken, die Teile ihres Germanistinnenlebens auf Anna Seghers verwendete, doch auch hier fehlt mir zu viel Bock, ich habe dafür mehr Seghers. Und außerdem drängt besagte Annette sehr energisch.

17. Januar 2020

Wenn man als Mädchen von einem Autor missbraucht wird, ist es für die spätere literarische Vermarktung des Geschehens besser, diesen Autor einen Star-Autor zu nennen. So ergeht es derzeit einem Herrn namens Gabriel Matzneff in einem Buch von Vanessa Springora. Obwohl ich in meinem mittlerweile doch schon fast 67 Jahre währenden Leben buchstäblich tausenden von Autoren-Namen begegnet bin, hörte ich von diesem Star de France noch nie etwas. Vielleicht verhilft Frau Springora ihm oder seinen Erben ja zu etwas Umsatz, falls es Werke des Mannes gibt, von denen noch Druckplatten existieren. Was machen eigentlich die Frauen, die von einem unbekannten Redaktionsassistenten oder dem Aushilfsfotografen belästigt wurden? Bisweilen belästigt ein ungelernter Lagerist eine ungelernte Leergut-Sortiererin. Wer schreibt ihre Romane und liefert die Manuskripte vorab in die Redaktionen, die Empörung generieren müssen, wer nur?

16. Januar 2020

Im Duell Handball gegen Zürich-Krimi siegt der Handball. Im Duell Moral gegen Ethik siegt die Ethik. Jedenfalls im Bundestag. Selbst Bürger mit einem Doktortitel, denen man in früheren Jahren jedenfalls eine gewisse elementare Bildung wie selbstverständlich zuordnete, schwafeln am Pult von ethisch, wenn sie moralisch meinen. Ethisch klingt einfach besser, gehobener, das Säuerliche fehlt, weshalb es ja auch der Moraltheologie überlassen bleibt. Deren Vertreter früher, als die Mauer noch realiter und nicht nur in den Köpfen stand, immer an die Kamera gerufen wurden im zahmen Westen, wenn es Moralisches zu bereden gab, nie Ethiker. In den wahrlich nicht mit Höhenflügen zu verwechselnden Ethik-Vorlesungen und Ethik-Seminaren an der Humboldt-Universität zu Berlin, die ich genießen durfte bei Helga E. Hörz und Ursula Wilke, kannte man den Unterschied. Ich habe, mit Westmaßen gemessen, ein Ethik-Examen, weshalb ich mir anmaße, Stuss auch Stuss zu nennen.

15. Januar 2020

Drei kostenlose Anzeigenblätter, mittlerweile alle unter einem Dach, beglücken pro Woche meinen Briefkasten. Die Frage, ob jene vollkommen unbekannten Autoren, die alleweil mit ihren nur in ihren vollkommen unbekannten Verlagen oder bei ihnen zu Hause erhältlichen Büchern vorgestellt werden, für diese Vorstellung bezahlen müssen, stelle ich mir nicht mehr. Dafür stelle ich mir heute die Frage, ob einer, der das 642. DDR-Museum auf dem Territorium der ehemaligen DDR eröffnen will und dafür Exponate und Raum braucht, nicht wenigstens gefragt werden sollte, worin er sich denn von all den anderen unterscheiden möchte, die es alle paar Kilometer schon gibt. Das aber wäre Journalismus. Ich könnte dem Mann ein paar Exponate schenken, die er garantiert nicht hat in seiner Privatsammlung, warum aber sollte ich? Ich bin bis auf weiteres noch immer in der Berliner Ausstellung der „Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ präsent. Mit Foto.


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