Tagebuch

9. Dezember 2019

Zu den Aposteln spontaner Entscheidungen in Reise-Fragen gehöre ich nicht. So buche ich heute die nächsten drei Nächte in Kissingen über meinen Geburtstag hin. Und ich buche eine Tour nach Italien Ende April, die „Von Südtirol bis Monte Cassino“ heißt. Wir werden in Sterzing, im Raum Bologna, zweimal in Rom übernachten, wir sehen fünf Kriegsgräberstätten, von denen wir zwei kennen, eine allerdings nur aus der Distanz, weil es wie aus Eimern goss in jenem Oktober 1999, als wir nach Caserta auch Monte Cassino im Programm hatten. Das Kloster ging eben noch, nicht mehr der Friedhof. Ein Mann war extra wegen seines Bruders die weite Strecke gefahren und sah nun das Grab nicht. Mein Arbeitszimmer voller Stapel heute, Generalsortierung fürs Steuerbüro, viel Ordnung im Nebeneffekt. Für ein Pröbchen „Grete Minde“ bleibt Zeit, ich überfliege das auf sie bezogene 40-Seiten-Kapitel in dem halbwegs seltsamen Buch „Fontanes Frauen“ von Robert Rauh.

8. Dezember 2019

Sonntag mit der Ente vom Freitagsmarkt, ich versuche mit meinen Dateien voranzukommen: „Grete Minde“ ist in Arbeit, ich baue mir eine Literatur-Liste dazu. Bei den Sommerfrischen geht es weiter zu „In Brandenburg und Mecklenburg“, die Basis für Brigitte Birnbaums „Fontane in Mecklenburg“ ist so gebaut. Ihre Besprechung der zweibändigen Brief-Ausgabe aus der preiswerten DDR-Reihe „Bibliothek deutscher Klassiker“ ist erstaunlich vordergründig auf Konformität getrimmt, sie wählt Briefe aus, die ganz spezielle Erwartungshaltungen bedienen. Fontanes Vortrag über „Denkmäler in der Schweiz“ von Ende 1865 führt mich auf eine biographische Lücke, die ich bisher nicht bemerkt hatte: ich verliere viel Zeit mit vergeblichem Nachsuchen in Briefwechseln, Reisebriefen und Tagebüchern, bis ich bestätigt finde, was anderen natürlich längst auffiel: seine Tour vom Rhein in die Schweiz, sein Aufenthalt in Interlaken, das ich ganz gut kenne, ist ein verblüffend weißer Fleck.

7. Dezember 2019

Der Heimweg zu Fuß von der „Tanne“ brachte mir gestern wieder einmal mehr als 10.000 Schritte, ich hatte gute Gespräche und eine gute Roulade mit Kloß und Rotkraut. Heute mit dem Auto zum Stollen, wo ich meine Vermutung bestätigt finde: es gibt Frutti di Mare, die es hier, wo wir sonst kaufen, nicht gab. Die Wochenend-Ausgabe des ND mit Literaturbeilage begrüßt mich mit einem obercool auf dem Rücken liegenden Erdmännchen vorn drauf, die Beilage wandert sofort auf den Stapel, ihr Zeitpunkt ist noch nicht gekommen. In „Fontanes Sommerfrischen“ ist heute das Kapitel „In Thüringen und im Harz“ dran, gestern war es „An Ost- und Nordsee“. Mein vorschnelles Urteil nach dem Kissingen-Kapitel korrigiere ich zügig: spezielle Vorkenntnisse zu einem Sonderthema sind kein gutes Kriterium für die Beurteilung eines umfassenden Buches. Erstaunlich, wie viele Fontane-Objekte verfallen sind, gar abgerissen, er war nicht überall ein willkommener Werbeträger.

6. Dezember 2019

Fast auf den Tag zwei Monate nach der Beisetzung meiner Mutter kam gestern die Rechnung ins Haus: persönlich, nicht alle Bestattungsinstitute nehmen sich diese Zeit. Jeder einzelne Posten wird erläutert, wer die lange Reihe erstmals vor Augen hat, wird möglicherweise der einen oder anderen Illusion beraubt. Andererseits wünschte ich mir eine ähnliche Abrechnung, wenn Ärzte ihres Amtes walteten: wir würden sehen, dass bereits das Öffnen der Tür von innen berechnet wird, vielleicht, auf alle Fälle sicher, das Aufrufen der Patientendatei. Nun gut. Mein Freund Volkmar bringt heute Bücher, die er nicht braucht, aber nicht wegwerfen möchte: Gegenstand Goethe, die Autoren sind Hans-Georg Gadamer, Hans Leisegang und Wilhelm Mommsen, dazu eine etwas beknabberte Literaturgeschichte seit Goethes Tod aus dem Jahr 1921, eine Rousseau-Biographie. Ich bedanke mich mit einem sehr seltenen Streik-Flugblatt aus Gehren, dessen Papier schon mürbe geworden ist.

5. Dezember 2019

„Jugendliche sind schlicht verwöhnter als früher“ betitelte ein von mir immer samstags gelesenes Blatt kürzlich einen Beitrag auf seiner Bildungsseite. Wohl, wohl, möchte man sagen und gleich danach: diese Diagnose stellte schon ein gewisser Theodor Fontane vor 130 Jahren. Nicht auszumalen, wie verwöhnt die Jugendlichen in weiteren 130 Jahren sein werden, sie trinken dann nur noch Rotwein aus Lappland und Norwegen mit völlig neuen Geschmacksnoten und kennen keine sozialen Netzwerke mehr, denn die brauchen Strom und den gibt es nur noch in anderen Ländern, während wir das Klima gerettet haben. Die Hunde sind gestern noch irgendwie erzogen worden: sie bellten heute erst ab 10.02 Uhr. Fontane füllt nicht nur bei mir die Zeilen: auch die „Berliner Zeitung“ gibt ihm heute fast zwei Drittel der Rück-Seite einer großen Edeka-Anzeige. Man sieht das Neuruppiner Denkmal, den Meister mit Mütze und Schal: nur noch 26mal schlafen.

4. Dezember 2019

Die beiden Hunde unter unserem Balkon übertrafen sich heute in bisher ungekanntem Ausmaß: sie bellten mehr als zweieinhalb Stunden ununterbrochen exzessiv und laut, bis gestern lagen sie stets zwischen einer und anderthalb Stunden. Dabei verbellen sie nicht etwa Vorübergehende oder gar Vorübergehende mit Hund, sie bellen von der Mitte des Grundstücks, rasen unmotiviert hin und her und bellen und bellen. Zum Glück lassen sich die Hunde der Nachbarschaft nicht anstecken. Der am Montag bestellte Wein ist heute bereits da, auch ein buntes Buch „Fontanes Sommerfrischen“, das ich in Kissingen schon durchblätterte. Es ist ein Buch für Ahnungslose, die eine Einführung wollen mit vielen Bildern. Vor 40 Jahren starb Walter Matthias Diggelmann, dessen „Schatten“ genanntes „Tagebuch einer Krankheit“ ich im Frühsommer 2018 las, um aus ihm ein Vorwort für ein Buch zu destillieren, das Buch ist zu vier Fünfteln fertig, das fehlende Fünftel hängt in der Warteschleife.

3. Dezember 2019

Mit einem heroischen Ruck beende ich die Lektüre meines erst am vorigen Mittwoch in meinen Besitz übergegangenen Buches über Fontane in Bad Kissingen. Zweimal zog ich nun schon die Handbremse in der Polemik gegen dieses missratene Werk und werde ihm schließlich doch einen eigenen Text widmen. Das Archiv in Kissingen wird mir noch etwas zuschicken über die seltsam späte Buchvorstellung anno 2006, beschwert hat sich über das traurige Produkt bisher niemand. Dass vor 70 Jahren Elin Pelin starb, der Bulgare, zu dem ich vor mittlerweile elfeinhalb Jahren mir, noch mit Schreibmaschine damals, immerhin acht komplette Seiten aufschrieb, ohne es zu nutzen bis heute, registriere ich mit vorwurfsvollem Blick in den Spiegel. Ich las 1998 nur ganze elf Bücher zu Ende, davon zehn bulgarische. Bis März 2001 hielt meine ausdauernde Hinwendung in diese Richtung an, selbst bulgarische Freunde meiner Freunde bestaunten damals meine Kenntnisse.

2. Dezember 2019

Den Medienschaffenden tropft nunmehr das Zähnchen: vielleicht bricht die Große Koalition nun doch endlich zusammen, die beiden neuen Anti-Charismatiker (generisch oder so) an der Spitze der alten Tante Hertha, pardon, der alten Tante SPD, die werden es schon richten, hoffentlich, dann haben wir bis Weihnachten was zu schreiben, brauchen weder einen Tsunami zur rechten Zeit noch ein Attentat auf einem Weihnachtsmarkt. Mein zweiter Fontane ist etwas kürzer, nur 2510 Wörter und schon morgen erscheint er am Fontane-Firmament. Ich bestelle ein wenig Wein im Ruhrgebiet, damit mein katholischer Wein von der Nahe nicht zu schnell alle wird, der Wein aus der Wachau ist nach Beschlusslage des Koalitionsausschusses zwischen meiner lieben Frau und mir, die wir kürzer beschreiben würden, auf Sonn- und Feiertage beschränkt, was mit Vorfreuden zu tun hat. In alter Tradition hatten wir kombiniertes Resteessen mit gebratenem Restkloß: wir retten das Klima prima.

1. Dezember 2019

Heute läute ich mein privates Finale des Fontane-Jahres ein: am 30. Dezember ist, für viele: endlich, tatsächlich der 200. Geburtstag des alten Neuruppiners. 2990 Wörter sind es, die ich gestern schrieb und heute ins Netz stellte, ein zweiter, nur geringfügiger kürzerer Text ist heute fertig geworden, nach Korrektur morgen steht er am Dienstag im Netz. Ich werde diese Schlagzahl natürlich nicht beibehalten bis zum Jubiläum. Aber das eine oder andere, insbesondere das andere, wird noch folgen. Mir kommt entgegen, dass ich zum morgigen 75. Geburtstag von Botho Strauß allenfalls einen Medienblick wagen könnte mit einem Exkurs über Sippenhaft nach der Sippenhaft im Falle Simon statt Botho. Das sollen aber jetzt wirklich nur Insider verstehen. Ich schreibe auch nichts über die vollkommen neue SPD-Doppelspitze. Man wird eben in Zukunft gleich zwei Leute zu demontieren haben, was wiederum gleich zwei neue Jobs schafft, also befristete natürlich nur.

30. November 2019

Die freundliche Sparkasse schickt mir heute Kontoauszüge vom Girokonto meiner Mutter per Post zu. Ich kann sie mir selbst nicht holen, weil ich die Kontokarte nach dem Tod meiner Mutter am 27. September abgeben musste. Verfügen darf ich über das Konto, wie ich es vorher auch schon durfte, nur eben Kontoauszüge am Drucker, das geht nicht. Dafür zahle ich dann, weil sie mir zugeschickt werden. In der kommenden Woche bringt mir das Bestattungsinstitut die Rechnung über alle zum 8. Oktober und drum herum angefallenen Kosten. Danach kann ich das Konto womöglich auflösen, denn alle zu erwartenden Rückzahlungen von TEAG, Telekom und Antennengemeinschaft sind eingetroffen, die Nebenkostenabrechnung wird es erst im März oder April 2020 geben, das geht dann nicht mehr über die alte Bankverbindung. Fundstück in einem alten Fotoalbum aus der Erbmasse: ein Brief unseres alten Freundes Geza aus Budapest an meinen Vater von Anfang 1964.

29. November 2019

Der Statistiker in mir drängt mich zu numerischer Kissingen-Bilanz: 32 Übernachtungen sind seit 2011 zusammen gekommen, nicht viel, aber auch nicht wenig. Inhaltliche Kissingen-Bilanz: es könnte da oder dort, noch besser: da und dort, eine Tafel hängen: Hier wohnte Fontane während dreier Sommeraufenthalte, oder: Hier trank Fontane am liebsten seinen Kaffe (den er ausdauernd mit nur einem e schrieb). In Hofmannsthals „Buch der Freunde“ finde ich diesen schönen Satz: „Der moralische Sieger ist es, der sich am leichtesten zu Tode siegt.“ Mir fällt dazu das Unwort meiner jüngsten Lektüre-Früchte ein. Es heißt Klimaerschöpfung und meint nicht etwa, dass das Klima vor lauter Wandel nun schlapp in den Sielen hängt, es meint: die Leute werden des Themas müde. Als Kulturkritiker müsste ich sagen: die Leute werden jedes beliebigen Themas müde, wenn es, wie medienüblich, bis zur Brechgrenze ausgelutscht wird. Das Unwort prägte Luisa Neubauer.

28. November 2019

Zurück aus Kissingen mit sehr gutem Gefühl, nicht nur wegen der gestrigen Entdeckung. Wir schauten uns danach noch das Haus Nr. 12 in der Kurgartenstraße an, wo die Fontanes dreimal wohnten, heute sitzt dort unter anderem eine Gesellschaft für Neurootologie und Aequilibriometrie, beide Wörter las ich nie vorher. Wir sahen auch die offenbar dem langsamen Verfall ausgelieferten einstigen Top-Adressen „Fürstenhof“ und „Schweizerhaus“ auf der anderen Saale-Seite, letzteres von Fontane gern besucht. Mit nach Hause führte ich ein Buch-Geschenk aus dem Archiv mit dem Untertitel „Theodor Fontane, Bad Kissingen und der Deutsche Krieg von 1866“, eine Dublette, wie ich hörte, und als „Kissinger Heft 4“ ein sehr fest gebundenes Heft. Meine dumme Angewohnheit, Bücher von hinten anzublättern, führte mich leider schon auf Seite 102 zu einem ärgerlichen Fehler. Zu Hause in der Post die Reiseunterlagen für Andorra, das schmale Kleistbuch von Barbara Vinken.


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