Tagebuch

2. Dezember 2019

Den Medienschaffenden tropft nunmehr das Zähnchen: vielleicht bricht die Große Koalition nun doch endlich zusammen, die beiden neuen Anti-Charismatiker (generisch oder so) an der Spitze der alten Tante Hertha, pardon, der alten Tante SPD, die werden es schon richten, hoffentlich, dann haben wir bis Weihnachten was zu schreiben, brauchen weder einen Tsunami zur rechten Zeit noch ein Attentat auf einem Weihnachtsmarkt. Mein zweiter Fontane ist etwas kürzer, nur 2510 Wörter und schon morgen erscheint er am Fontane-Firmament. Ich bestelle ein wenig Wein im Ruhrgebiet, damit mein katholischer Wein von der Nahe nicht zu schnell alle wird, der Wein aus der Wachau ist nach Beschlusslage des Koalitionsausschusses zwischen meiner lieben Frau und mir, die wir kürzer beschreiben würden, auf Sonn- und Feiertage beschränkt, was mit Vorfreuden zu tun hat. In alter Tradition hatten wir kombiniertes Resteessen mit gebratenem Restkloß: wir retten das Klima prima.

1. Dezember 2019

Heute läute ich mein privates Finale des Fontane-Jahres ein: am 30. Dezember ist, für viele: endlich, tatsächlich der 200. Geburtstag des alten Neuruppiners. 2990 Wörter sind es, die ich gestern schrieb und heute ins Netz stellte, ein zweiter, nur geringfügiger kürzerer Text ist heute fertig geworden, nach Korrektur morgen steht er am Dienstag im Netz. Ich werde diese Schlagzahl natürlich nicht beibehalten bis zum Jubiläum. Aber das eine oder andere, insbesondere das andere, wird noch folgen. Mir kommt entgegen, dass ich zum morgigen 75. Geburtstag von Botho Strauß allenfalls einen Medienblick wagen könnte mit einem Exkurs über Sippenhaft nach der Sippenhaft im Falle Simon statt Botho. Das sollen aber jetzt wirklich nur Insider verstehen. Ich schreibe auch nichts über die vollkommen neue SPD-Doppelspitze. Man wird eben in Zukunft gleich zwei Leute zu demontieren haben, was wiederum gleich zwei neue Jobs schafft, also befristete natürlich nur.

30. November 2019

Die freundliche Sparkasse schickt mir heute Kontoauszüge vom Girokonto meiner Mutter per Post zu. Ich kann sie mir selbst nicht holen, weil ich die Kontokarte nach dem Tod meiner Mutter am 27. September abgeben musste. Verfügen darf ich über das Konto, wie ich es vorher auch schon durfte, nur eben Kontoauszüge am Drucker, das geht nicht. Dafür zahle ich dann, weil sie mir zugeschickt werden. In der kommenden Woche bringt mir das Bestattungsinstitut die Rechnung über alle zum 8. Oktober und drum herum angefallenen Kosten. Danach kann ich das Konto womöglich auflösen, denn alle zu erwartenden Rückzahlungen von TEAG, Telekom und Antennengemeinschaft sind eingetroffen, die Nebenkostenabrechnung wird es erst im März oder April 2020 geben, das geht dann nicht mehr über die alte Bankverbindung. Fundstück in einem alten Fotoalbum aus der Erbmasse: ein Brief unseres alten Freundes Geza aus Budapest an meinen Vater von Anfang 1964.

29. November 2019

Der Statistiker in mir drängt mich zu numerischer Kissingen-Bilanz: 32 Übernachtungen sind seit 2011 zusammen gekommen, nicht viel, aber auch nicht wenig. Inhaltliche Kissingen-Bilanz: es könnte da oder dort, noch besser: da und dort, eine Tafel hängen: Hier wohnte Fontane während dreier Sommeraufenthalte, oder: Hier trank Fontane am liebsten seinen Kaffe (den er ausdauernd mit nur einem e schrieb). In Hofmannsthals „Buch der Freunde“ finde ich diesen schönen Satz: „Der moralische Sieger ist es, der sich am leichtesten zu Tode siegt.“ Mir fällt dazu das Unwort meiner jüngsten Lektüre-Früchte ein. Es heißt Klimaerschöpfung und meint nicht etwa, dass das Klima vor lauter Wandel nun schlapp in den Sielen hängt, es meint: die Leute werden des Themas müde. Als Kulturkritiker müsste ich sagen: die Leute werden jedes beliebigen Themas müde, wenn es, wie medienüblich, bis zur Brechgrenze ausgelutscht wird. Das Unwort prägte Luisa Neubauer.

28. November 2019

Zurück aus Kissingen mit sehr gutem Gefühl, nicht nur wegen der gestrigen Entdeckung. Wir schauten uns danach noch das Haus Nr. 12 in der Kurgartenstraße an, wo die Fontanes dreimal wohnten, heute sitzt dort unter anderem eine Gesellschaft für Neurootologie und Aequilibriometrie, beide Wörter las ich nie vorher. Wir sahen auch die offenbar dem langsamen Verfall ausgelieferten einstigen Top-Adressen „Fürstenhof“ und „Schweizerhaus“ auf der anderen Saale-Seite, letzteres von Fontane gern besucht. Mit nach Hause führte ich ein Buch-Geschenk aus dem Archiv mit dem Untertitel „Theodor Fontane, Bad Kissingen und der Deutsche Krieg von 1866“, eine Dublette, wie ich hörte, und als „Kissinger Heft 4“ ein sehr fest gebundenes Heft. Meine dumme Angewohnheit, Bücher von hinten anzublättern, führte mich leider schon auf Seite 102 zu einem ärgerlichen Fehler. Zu Hause in der Post die Reiseunterlagen für Andorra, das schmale Kleistbuch von Barbara Vinken.

27. November 2019

Ein freundlicherer Empfang im Archiv ist kaum vorstellbar. Materialien für mich liegen bereit, dabei ein neues Buch über Fontanes Sommerfrischen mit Kissingen-Kapitel, das ich überfliege. Es ist vor allem wegen der Illustrationen interessant. Entdeckergefühl beim Sichten der Kurlisten aus den Jahren 1889 bis 1891. Mit 1890 und 1891 bin ich schnell fertig, für 1889 brauche ich länger und meine die Fontane-Biographik natürlich nicht umstürzende Entdeckung ist tatsächlich eine: Theodor Fontane wurde 1889 als angekommener Kurgast in den Listen wie auch im Nachrichten-Teil der Kissinger „Saale-Zeitung“ vergessen. Während für 1890 und 1891 jeweils Fontane nebst „Gemahlin“ aufgeführt sind, erscheint 1889 als Nummer 4407 in der Ausgabe 112 der Kurlisten für den 4. Juli die „Schriftstellersgattin“ aus Berlin allein. Theodor war da schon eine Woche da, wegen anreisender Kaiserin und angekündigter weiterer Nobilitäten aber wohl übersehen worden. Hübsch.

26. November 2019

Nach dem Frühstück im heftiger werdenden Nieselregen erneut zum Kapellfriedhof, die Fotos fürs Archiv gemacht. Wären wir eine halbe Stunde später los, wären wir trocken geblieben. Auf der anderen Straßenseite die „Trauernde Germania“, die ich gestern nicht sah, weil ich wieder zum Haupttor zurücklief. Am Nachmittag Erkundungsgang durch die Stadt, ich will den Weg zum Archiv kennen, den ich morgen laufen muss. Vorbei an der Stelle, wo früher die Synagoge stand. Die Inschrifttafel nennt „damalige Machthaber“ als Schuldige für das Verschwinden, das geht auch genauer zu formulieren. In Kissingens Rathaus sollte man darüber nachdenken. Die Saale führt wenig Wasser, es erscheint fantastisch, wie hoch das Wasser steigen kann, die Schutzvorrichtungen am Ufer zeigen es sehr deutlich an. Weil das Hotel Sky zur Verfügung stellt, können wir nach dem Abendessen in aller Ruhe Champions League gucken, die Konferenzsendung ist besser als gedacht.

25. November 2019

Das Kapitel „Krieg“ in Gordon A. Craigs sympathischem Buch „Über Fontane“ brachte ich gestern im Hotel noch zu Ende, bei ihm kommt Kissingen nicht vor, er führt aber in aller Knappheit in alles ein. Heute nach dem Frühstück mein Weg zum Kapellfriedhof, an dem wir wohl drei Dutzend Mal vorbeifuhren, ihn aber nie besuchten. Es dauerte ein Weilchen, bis ich die gesuchten Grabstätten fand, nur eine hat neue Tafeln, die anderen sind mehr oder minder verwittert. Der Friedhof ist, folgt man den Sterbedaten, bis Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre noch in Betrieb gewesen, danach nur noch selten bei größeren Familien-Stätten. Die frischen Kränze vom Volkstrauertag noch überall zu sehen. Ein alter Mann frühstückend zwischen den Gräbern, ein jüngerer ziellos umherschauend. Eine Frau am Rollator berührte die Maria im Zugangsbereich und murmelte Gebete. Das Hotel verwöhnt uns wie gewohnt, wir sind munterer als gestern noch, wo wir den Tatort verschliefen.

24. November 2019

Die finale Abrechnung der TEAG für den Stromverbrauch meiner Mutter ergibt eine Gutschrift von 27,11 Euro. Ich überlege, ob ich die in Aktien anlege oder in geschlossene Immobilienfonds. Ein amerikanischer Tabakkonzern, von dem ich nie hörte als Nichtraucher, zahlt mehrmals im Jahr die derzeit höchsten Dividenden weltweit. Wenn man ein Aktiendepot hat und 40.000 auf einen Ruck investiert, kann man 1200 Euro im Jahr, 100 Euro im Monat, erwirtschaften. Ich warte lieber auf die nächste Rentenerhöhung und die erste Dividenden-Ausschüttung der Genossenschaft nach meiner Einlagenaufstockung. Kann sein, dass ich dann im Juli 2020 ein Schild an meine Tür hänge: Wegen Reichtums geschlossen. Heute aber geht es erst einmal an die fränkische Saale, der Platz in der Tiefgarage ist reserviert, die nette Dame im Stadtarchiv legt mir Material bereit über die Zeiten, als in Kissingen und Nüdlingen Schlachten geschlagen wurden, die Preußen vertrieben die Bayern.

23. November 2019

Dies sind die Zufälle, die ich mag. Ich fahre zum zwölften Male nach Bad Kissingen, zum zehnten Male mit Übernachtungen kombiniert – und die taz, die ich nun wirklich maximal dreimal im Jahr kaufe, füllt heute anderthalb Seiten mit Bad Kissingen. Außerdem hat sie noch ein sehr schlechtes Gedicht über Weihnachtsmärkte und eine steile These im Blatt: Männer machen den Klimawandel, nicht etwa, wie bisher fälschlich angenommen, Menschen. Ich würde noch einen Schritt weiter gehen und sagen: es sind alte weiße Männer, die den Klimawandel machen, genau genommen sind es alte weiße Männer mit orangefarbigen Gesichtern oder solche, denen der Stielkamm ins Klo gefallen ist, nennen wir sie Boris oder Donald. Wahlweise könnten wir noch Wladimir dazu zählen, den alten Tigerjäger. Während ich gestern schnöde vergaß, an André Gide zu erinnern oder an die Uraufführung von Barlachs „Der tote Tag“ vor 100 Jahren, buchte ich einen Andorra-Urlaub 2020.

22. November 2019

Eigentlich hieß sie Mary Anne Evans, zu Ruhm aber kam sie als George Eliot. Sie schrieb ganz dicke und ziemlich dicke Romane und der Weimarer Bertuch Verlag hat deshalb alternativ ein nur 40 Seiten umfassendes Büchlein mit dem Titel „Zu Gast in Weimar“ produziert. Ich sah es noch nicht, aber das will nichts bedeuten. Heute ist der 200. Geburtstag von George Eliot und einige Medien sind altmodisch genug, dessen zu gedenken. Danke, Medien. In meinen Beständen steht außer „Silas Marner“ nichts, es steht zwischen „Die Sturmhöhe“ von Emily Brontë und „Die Kunst zu lesen“ von John Ruskin. Meine Lesepräferenzen würden mich derzeit eher auf Ruskin lenken, aber wen interessieren schon meine Präferenzen. Im Veranstaltungskalender von Bad Kissingen las ich von einem Gastspiel des Theaters Hof in der kommenden Woche, das damit wirbt, nicht nur Filme und Romane auf die Bühne zu bringen. Ich fahre hin, verzichte aber doch auf das Gastspiel.

21. November 2019

Zu nachtschlafener Zeit aus dem Bett, einen Gefrierschrank bei Aldi kaufen, man weiß nie, wie die Nachfrage ist und Söhne mit Frühschicht könnten zu spät kommen. 45 Minuten Telefonat mit Ulm. Der Brief mit den Fotos ist angekommen. Viel Mitgefühl für unser siebenwöchiges Schuften in Gehren. Traurige Botschaft von der Frau meines Cousins. Meinen Tagebuch-Eintrag vom 13. Februar zu Iwan Krylow müsste ich zitieren, das Lesezeichen im Reclam-Buch steckt noch an derselben Stelle. Nur ist heute bereits der 175. Todestag. Gedenken müsste ich auch des Herrn de Voltaire, den man laut Charles de Gaulle nicht verhaftet. Mein Kalender weist mich auf dessen 325. Geburtstag hin, der freilich so wenig wichtig ist wie fast alles. Immerhin las ich sein Stichwort „Todesurteile“ in seinem „Philosophischen Wörterbuch“. Großer Kopf, aber das weiß man ja, wenn man etwas weiß. Kleiner Text zu Fontane fertig, muss morgen nur noch Korrektur gelesen werden.


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