Tagebuch
10. September 2020
Zwölf Stunden waren wir unterwegs von Ilmenau bis Poznan am 10. September 2005, wir trafen unsere Reiseleiterin Cindy wieder, die uns auf der „Tour de France“ begleitet hatte und sie verriet uns, dass sie zum Jahresende aufhören wird in ihrer Firma und nach Südafrika ziehen, dort heiraten will. Poznan überraschte uns sehr angenehm. Unterwegs sahen wir die Straße in Glogau wieder, wo uns 2004 mit Ketten befestigte Ansichtskarten in Erstaunen versetzt hatten: sicher gegen Diebstahl. Zwischen Bautzen und Görlitz hatte es einen schweren Unfall gegeben, wir fuhren an der schon zugedeckten Leiche vorbei. Poznan war nur Übernachtungsort vor der Weiterreise nach Mikolaijki. Heute wollen wir zum Sommerfest an den Großen Teich, noch sieht es nicht wie Sommer aus. An Franz Werfel denke ich natürlich heute auch, sein 130. Geburtstag erinnert mich an Offenes im ganz privaten Pflichtenheft. Gestern Sichtung der Eloesser-Theaterkritiken in meinen Archiv-Beständen.
9. September 2020
Der 9. September 2000 war ein Samstag, wir siedelten von Terenten in Südtirol nach Egg am See am Faaker See um. Kurz vor der Grenze eine dieser Stellen, wo Busse anhalten, um deren Insassen zum Großkauf zu animieren, Jahre später war dort alles fast ausgestorben. Erster Halt hinter der Grenze in Sillian, weil ich Arnolt Bronnens „Anarchie in Sillian“ noch im Kopf hatte, am Ende meiner Studentenzeit gelesen. Am Faaker See der reine Wahnsinn, Unmengen Harley Davidsons, kein Parkplatz zu sehen und als wir vorbei waren an unserem Feriendorf, gab es keine Möglichkeit, zu wenden, wir drehten eine komplette Runde um den See, befuhren später einen Schleichweg und kamen dennoch erst 16.45 Uhr zum Auspacken. Bis spät das unverwechselbare Harley-Geräusch, wir sahen Unmengen von Buden, Zelten, überall Heavy Metal, zwei Zelte mit Striptease. Das Reisebüro hatte uns vorgewarnt, wir die Warnung nicht ganz ernst genommen. Es war ein Erlebnis.
8. September 2020
Gut geschlafen im neuen hohen Bett. Draußen nur zehn Grad, der Himmel aber so blau wie vor zwanzig Jahren, als wir vom Antholzer See zum Stallersattel und nach Osttirol auffuhren. Das ist eine tolle Tour mit genau festgelegten Zeiten für Auf- und Abfahrt, denn die Straße ist für den Begegnungsverkehr zu schmal. 412 Höhenmeter zu überwinden ist ein kleines Abenteuer, oben wartet der Nationalpark Hohe Tauern mit dem kleinen Obersee, den wir umwanderten. Wir bleiben länger als geplant, nutzten erst die 15-Uhr-Abfahrt, unterwegs ein verlassener Grenzbau, ein Kitschblick auf den Antholzer See, der Tag vor der Abreise nach Kärnten, wo wir mitten in die European Bike Week geraten. Und wo meine gute alte Nikon 801 schon vorher gezeigte Marotten zur Blüte bringt, es gibt reihenweise verdorbene Fotos. Auf dem Rückweg von Antholz noch ein Einkaufshalt in Bruneck, ich finde ein belgisches Bier, das ich noch nicht kenne, für die Sammlung.
7. September 2020
Wenn eine Lieferung für die Zeit zwischen 7 und 13 Uhr angekündigt ist, dann nennt man das je nach Temperament einen Scheiß-Vormittag oder einen Scheißtag. Man steht also auf, obwohl man noch nicht muss, um nicht in der Unterhose dem Lieferanten die Tür öffnen zu müssen, falls er zeitig klingelt, dann hat man ständig das Gefühl, nichts Sinnvolles beginnen zu können, weil nach Murphys Gesetz genau dann die Unterbrechung kommt, wenn die Maschine rattert. Wir hatten das extraordinäre Vergnügen, von unserem Lieferanten angerufen zu werden, er stehe etwa 200 Meter Luftlinie von uns und sein Auto springe nicht mehr an. Mein neues Bett kam per Sackkarre von der Pannenstelle und der 150. Geburtstag von Alexander Iwanowitsch Kuprin, dem ich meinen Tag im Wesentlichen widmen wollte, hatte das Nachsehen. Ihm wird es egal gewesen sein, es kennt ihn in der alten Bundesrepublik ohnehin niemand. Und der neue Teil der alten Republik, der zählt nicht.
6. September 2020
Für die Stelle des Sekretärs der Deutschen Bischofskonferenz hätte ich mich auch dann nicht beworben, wenn mir die Stellenanzeige eher in die Hände gefallen wäre. So landet sie heute im Papierkorb, der auch die geschredderten Telekom-Rechnungen jener Jahre aufnimmt, die nicht mehr aufgehoben werden müssen, weil die Lagerfrist verstrichen ist. Die Krankenakte meiner Mutter muss zehn Jahre aufbewahrt werden, was die Frage aufwirft, ob die Hausärztin meiner Mutter sie mit nach Hause nimmt, wenn sie in den Ruhestand geht oder ihrer Nachfolgerin übergibt, damit die von Anfang an auch einen hübsch vollen Keller hat. Ich stieß dieser Tage auf einen Ordner, der meine gescheiterte Fonds-Anlage bei Barclays Bank dokumentiert. Die Anlage scheiterte nicht an mir, wohl aber an der Bank, die plötzlich keine Lust mehr hatte, diese Fonds anzubieten und mir deshalb den Rückkauf mit Verlust anbot. Dank Brexit verließ ich diese Bank ohne alles Bedauern.
5. September 2020
Victor Auburtin, Vollblutjournalist, der aus rein biologischen Gründen seinen heutigen 150. Geburtstag nicht selbst feiern kann, verzeiht mir aus seinen himmlischen Gefilden vermutlich, dass auch ich nicht zum Feiern komme an diesem Tag, denn ich habe in selbst auferlegter Pflicht heute den Landesverbandstag des Deutschen Journalistenverbandes Thüringen in Weimar besucht, daselbst gar einen Redebeitrag geliefert. Wir saßen alle sauber getrennt jeder an einem Tisch, hatten jeder eine eigene Kaffeekanne und drei kleine Flaschen Wasser, von denen ich eine fast leer trank. Der Kaffee war sehr gut, nur kann ich nicht mehr als eine Tasse trinken, was mich in dieser Hinsicht zu einem komischen Journalisten macht. Aber ich rauche ja auch schon fast 30 Jahre nicht mehr. Aus Andorra brachte ich uns vier Flaschen andorranischen Liköres mit, was nichts darüber aussagt, ob ich Sorgen habe. Unser aller Suchmaschine findet nichts Aktuelles zu Auburtin. Allzu logisch?
4. September 2020
Nicht weniger als 39 Fotos dokumentieren unseren 4. September 2000. Von Terenten auf der Sonnenterrasse von Südtirol aus starteten wir an der Abfahrt nach Antholz vorbei, wo wir am Vortag die Biathlon-Anlage besichtigt hatten, durch das Gadertal mit seinen vielen vom Weltcup-Zirkus bekannten Ortsnamen zu einer großen Pass-Rundfahrt. Erster Halt Kollfuschg, dann das Grödner-Joch, das Sella-Joch, Abfahrt zum Lago di Fedaia unterhalb des Marmolada-Massivs, dort eine kleine Pause für das so genannte leibliche Wohl, dann neue Auffahrt, nun zum Pordoi-Joch mit seinem deutschen Soldatenfriedhof für 9000 Gefallene, überwiegend aus dem Ersten Weltkrieg. 192 Kilometer legten wir zurück mit unserem noch ziemlich neuen Toyota Avensis, den ich erst 2010 in die ewigen Auto-Jagdgründe beförderte. Das Tagebuch registriert den mit Abstand tollsten Tag in Südtirol, rückblickend kann ich das Urteil kaum einschränken. Heute einfach nur Freitag und grau.
3. September 2020
Gestern muss ein wunderschöner Tag für Donald Trump gewesen sein, obwohl Joe Biden nirgends eine peinliche Schlappe einzustecken hatte. Deutschland, der unzuverlässige Partner, der immer zu wenig zahlt, sich kaum einschüchtern lässt, kaum bedrohen, Deutschland hat endlich einen Grund gefunden, Trumps Fracking-Freunden doch noch zu Willen zu sein und deren Erdgas zu kaufen statt des russischen. Alles nur, weil Unbekannte einen Mordanschlag auf einen ebenfalls Unbekannten verübt haben: mit einem Gift aus, huh, der Sowjetunion, das war das Land, das zwei Weltkriege begann, sechs Millionen Juden umbrachte und die eigene Bevölkerung verhungern ließ. Seit gestern gilt wieder das alte Kaiser-Motto: Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Putin-Gegner. Schluss mit Nordstream 2 fordern Angehörige einer seltsamen Allianz, denen die Aerosole aus den Mund spritzen vor Eifer, der Peinlichste sagt sogar: Wir sind stärker. Wie Napoleon und noch einer.
2. September 2020
Man kann eigene Anspannung gut daran messen, wie man sich fühlt, wenn sie von einem abgefallen ist. Etwas vollmundig versprach uns gestern der junge Mann vom Gesundheitsamt, wir könnten heute Mittag auf der Corona-App unser Testergebnis sehen, bis dahin hätten wir Quarantäne, sollten weder Besuch empfangen, noch jemanden besuchen. Nach unserem Verständnis beginnt Mittag gegen 12 Uhr und endet gegen 14 Uhr, großzügig ließe sich eine halbe Stunde vorn und eine halbe Stunde hinten auf drei Stunden hochrechnen, dann aber wäre die Nachricht fällig. Sie kam aber nicht. 17.26 Uhr erreichte uns dann der erlösende Anruf: negativ. Eben noch Käfighaltung, plötzlich Freiheit. Sofort eilten wir zum Abendspaziergang, schauten zu, wie Ilmenaus Geschäfte ihre Türen schlossen, studierten die Immobilienangebote der Sparkasse, lasen das Kinoprogramm, sahen durch die Scheiben aufgegebener Läden. Falls uns in Andorra ein Virus befiel, hieß er nicht 19, der Gute.
1. September 2020
Kein Nachtrag mehr: einfach nur wieder zu Hause. Vor 50 Jahren starb Francois Mauriac, der immerhin mit vier Büchern in meinen Beständen vertreten ist, gelesen habe ich schon ewig nichts mehr von ihm. In der Post ein großes Paket mit Arthur-Eloesser-Manuskripten, die schon gestern kamen, als wir noch im Bus saßen. Mir fehlt nur noch eine Lieferung aus Wien, dann ist alles beisammen, was mir auf längere Sicht eine neue Aufgabe stellt. Ich schaffe mir in gewisser Weise Baufreiheit. Zum Abend haben wir einen Termin im Gesundheitsamt: Heimkehrer-Test, der zur Pflicht wurde, weil die Bundesregierung am dritten Tag unseres Urlaubs Andorra zum Risikogebiet erklärte. So bringe ich nicht nur 141 Fotos nach Hause, sondern auch Gefahrenpotential, obwohl ich von früh bis spät mit Maske unterwegs war, obwohl ich mehr Desinfektionsmittel verrieb als in allen 67 vorher vergangenen Lebensjahren. Das Ergebnis soll es morgen per App geben, Wahnsinn.
31. August 2020
Nachtrag: Das Hotel Campanile hat uns gut versorgt, die Koffer wurden vor der Abfahrt noch einmal nach Ausstiegen sortiert: wir sind wieder in Waltershausen an der Reihe, in den Zubringer nach Ilmenau umzusteigen. Anders als gestern verläuft die Fahrt heute, obwohl Montag ist, völlig ohne den geringsten Stau. Wir sehen im Burgund gleich mehrere Güter, die Cremant herstellen, die Hinweisschilder an der Autobahn, die ihre Botschaft mit Bildern illustrieren, oft mehrere zu einer Stadt, stehen deutlich dichter als bei uns. Manches kennen wir: Beaune zum Beispiel oder Dijon. Die letzte Rast auf französischem Boden bringt mir noch einmal drei lothringische Biere, alle, die ich bisher hatte, gaben mir ihre Etiketten ohne unüberwindliche Schwierigkeiten her. Wir hatten uns noch extra mit vietnamesischen Rasierklingen für die harten Fälle ausgestattet. Es ging unblutig ab. Kurz nach 21 Uhr zerrten wir die Koffer in unseren Fahrstuhl, das Auspacken kostete gute Zeit.
30. August 2020
Nachtrag: reichlich zehn Stunden brauchen wir von La Massana nach Tassin, wo uns heute das Zimmer 115 erwartet: problemfrei. Unterwegs überraschende Bilder. Was wir als kühlendes Gewitter erlebten, war auf allen Berggipfeln Andorras Schnee. Weiß vor blauem Himmel, wie Postkartenmotive mit Nachkolorierung. Zunächst verläuft alles gut und zügig, schon zehn Minuten vor 9 Uhr verlassen wir Andorra, wir sehen Carcassonne, wohin wir gefahren wären, wenn Spanien gesperrt worden wäre: wir hätten fast drei Stunden Fahrt für eine Strecke gebraucht, La Seu d’Urgell war die gute Alternative. 200 Kilometer vor Lyon begann ein nicht endender Dauerstau, wir verloren eine runde Stunde. Die Zeiten, da französische Autobahnen angeblich leer waren wegen der hohen Mautgebühren, scheinen endgültig vorbei, jetzt ist alles voll, obwohl man keine Touristen sieht, nicht einmal Holländer, die sonst überall sind und immer schon da: Märchen-Igel.