Tschechow: Der Kirschgarten, Berliner Ensemble

Nach der Premiere am 29. Oktober 2011 setzte es Hiebe für den Regisseur Thomas Langhoff. Nicht nur die Nachwuchsautorin des Schnellschuss-Portals Nachtkritik, auch eine erfahrene Autorin der FAZ artikulierten ihr Gelangweiltsein und ihre Ermüdungserscheinungen, beim Nachwuchs kam die erwartungsgemäß herzige Ahnungslosigkeit hinzu, die immer wieder erschüttert. Dazu assoziative Fehlgriffe, wie sie normal sind, wenn der Sack eigener Erfahrungen nicht einmal den Boden bedeckt hat. Es wäre zu fragen, ob Kritiker tatsächlich die Freiheit haben, eigenes Unausgeschlafensein der Inszenierung anzulasten, bei der sie kaum die Augen und wohl auch die Ohren offen halten konnten. Denn dieser „Kirschgarten“ ist keineswegs so dröge, oberflächlich, spannungslos, wie behauptet wurde. Immerhin hat die FAZ für die Nachwelt festgehalten, wieviel Deckenleuchten eine Kritikerin zählen kann, wenn sie sonst mit dem Abend im Parkett nichts anzufangen weiß. Auch darüber wird man, Deckenleuchten für Schäfchen genommen, bisweilen hündinnenmüde.

Ernst beiseite. Tschechow war sich sicher, eine Komödie geschrieben zu haben und schon die Erstinszenierung Stanislawskis stellte ihre Lesart dagegen, es gehe auf diesen Landgut vor allem tragisch zu. Liest man heute, wie detailliert der Autor seine Vorstellungen von einer Inszenierung in seinem Sinne einforderte in Briefen an Olga Knipper, an Stanislawski, an Nemirowitsch-Dantschenko, dann fragt man sich, wie das denn früher war mit dem Theater, als es noch Geräuschkulissen gab und Bühnenbilder, Tiefenwirkung und Kostüme mit Aussagekraft. Jetzt reicht weniger als nichts für Spielfläche und Spielraum, die Auswahl der auf die Bühne gestellten Utensilien scheint der berühmt-berüchtigten mexikanischen Würfelbude zu entstammen. Bleiben die Darsteller und das mag vielleicht der einzige wirkliche Zugewinn jener Entwicklung weg vom angeblichen Naturalismus zu sein, dass diese sich hinter nichts und niemandem mehr verstecken können. Sie bestehen mit Text und Spiel oder sie bestehen nicht.

Den Besuchern der allerletzten Vorstellung fiel nach den reichlich zwei Stunden ohne Pause nichts Besseres ein, als wild zu applaudieren. Vermutlich hat Berlin mehr Ahnungslose unter seinen Theatergängern als die gehobene Kritik zu träumen wagt. Diesem Publikum gefiel nicht nur, was es sah und hörte, es schlief keiner ein, keiner zählte Deckenlampen oder checkte seine mails, während sich die Herrschaften auf der Bühne abmühten, den letzten „Kirschgarten“ irgendwie zu Ende zu bringen. Man kann das Bühnenbild in der Tat vergessen, aber welches Bühnenbild mit Anspruch auf Heutigkeit kann man eigentlich nicht vergessen? Einzig der Eifer, mit dem professionelle Theatergänger immer wieder Sinn und Bedeutung in schräge Kuben, abstrakte Farbkontraste oder postmoderne Treppenkonstrukte hineindeuten, darf als Zielfunktion gesehen werden für die in den Kulissen kichernden Macher, die nur ein Diktat kennen, das des Etats auch der besser ausgestatteten Häuser. Natürlich wäre es denkbar, auf dicke fette und sonderformatige Programmhefte zu verzichten, ein „Dantons Tod“ im Berliner Ensemble kostet vermutlich mehr als die Programmhefte zwei Spielzeiten in Rudolstadt. Die Freunde gedruckter Strichfassungen freilich genießen das eigene Herzklopfen, wenn zur Feier des Abends die feinen Stücke kostenlos zu haben sind.

Dieser „Kirschgarten“ war neben manchem die Demonstration eines uralten Theaterphänomens: wenn eine Nebenrolle sehr stark besetzt ist, kann eben diese Rolle das Stück dominieren. Thomas Langhoff hat dem 1932 geborenen Jürgen Holtz die Rolle des laut Tschechow 87 Jahre alten Dieners Firs gegeben und Jürgen Holtz glänzt in einer Weise, wie ich es lange nicht erlebte von einem einzelnen Darsteller. Jeder Blick, jede Geste, jeder kleine Schritt, jede Drehung des Kopfes, alles, alles, alles war schlicht und ergreifend sensationell. Im Zusammenspiel mit der Carmen-Maja Antoni ersetzenden Anke Engelsmann als Gouvernante Charlotta hatte der Abschiedsabend seine stärkste einzelne Szene, mehr Theater geht kaum. Angemerkt sei nur, das Engelsmann rein äußerlich Tschechow besser gefallen hätte für genau diese Rolle als Antoni. „Er wünscht, daß diese Gestalt unbedingt als große magere Deutsche dargestellt würde“, ist überliefert. Jürgen Holtz hat zudem den Vorteil, dass er als Kind nicht „Pack die Badehose ein!“ trällern musste, jedenfalls ist solches nicht überliefert, während Cornelia Froboess an diesem Päckchen wohl tragen muss bis zum bitteren Ende. Ihr Abend war das nicht, am ehesten noch da, wo sie stumm spielte, vor allem nach der Nachricht, Lopachin habe das Gut gekauft.

Martin Seifert gab einen Gajew, dessen forcierte Lebensuntüchtigkeit stärker wirkte, als seine eher äußerliche Neigung zu Bonbons und Billard-Spiel, um ihn sorgte Firs sich wie um ein 51 Jahre altes Kind. Anna Graenzer entsprach der Rollenforderung Tschechows für die 17-jährige Tochter Anja, sprach aber eine Spur zu hart und zu laut. Laura Mitzkus als Adoptivtochter Warja setzte auf die nonnenhafte Wirkung, die ebenfalls Tschechow für diese Rolle haben wollte, ihre Liebe zu Lopachin hat es schwer, auch nur andeutungsweise an die sichtbare Oberfläche zu dringen. Mehr Leben darf Hanna Jürgens dem Zimmermädchen Dunjascha einhauchen, das rührt schon ans Pralle und und setzt dynamische Akzente. Simjonow-Pischtschik (Axel Werner) und Jepidochow (Thomas Wittmann) bedienen das Komödiantische in der Stücksicht Thomas Langhoffs, die für beide eher auf den Effekt des running gag setzt als auf Wandelbarkeiten. Und dann ist da noch der ewige Student Pjotr Sergejewitsch Trofimow (Christian Hockenbrink), der vielleicht um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert tatsächlich revolutionäre studentische Jugend repräsentierte. Heute ist sein pathetisch-euphorisches Gelaber kaum erträglich, sein lebensfremder Optimismus wirkt eher warnend. Er sieht sicher voller Absicht so aus, als würde er bald mit Ärmelschonern Akten wälzen.

Robert Gallinowski  schafft es als Lopachin nicht durchgehend, nahe liegende Antipathien gegen seine Figur zu überspielen. Er ist zwar nicht der Schreihals, vor dem sich Tschechow am meisten fürchtete bei einer möglichen Rollenbesetzung, aber es fällt auch nicht leicht, jede seiner Äußerungen dem Übergangsstatus seiner Persönlichkeit zuzuordnen. Die Gutsbesitzerin Ljubow Andrejewna Ranjewskaja ist nicht nur tatsächlich unfähig mit Geld umzugehen, sie würde diesen Anschein genüsslich auch erwecken, wenn es anders wäre. Sie erhebt sich über die profane Realität des Niedergangs ihrer sozialen Klasse, sie geht ihren Weg ins gesellschaftliche Abseits mit Anmut und Konsequenz. Gegen sie verkörpert Lopachin, der Nachfahre von Leibeigenen, ohne jeden Abstrich den Fortschritt, er ist Träger der gesellschaftlichen Entwicklung, die im zaristischen Russland keinen anderen Regeln und Gesetzen folgte als im europäischen Westen oder in Amerika. Das zu verkörpern, wäre freilich eine unbillige Forderung an einen Schauspieler. Immerhin wollte Tschechow seinen Lopachin eindeutig: „Lopachin ist zwar Kaufmann, aber in jeder Beziehung ein ordentlicher Mann, er muß sich vollkommen manierlich und intelligent aufführen, nicht banal, ohne Effekthascherei.“

Thomas Langhoff ließ jene Fassung von Thomas Brasch spielen, die auch für Stefan Kimmig am Deutschen Theater maßgebend war. Das Programmheft 132 macht diesen Text nachlesbar und damit vergleichbar mit anderen Übertragungen. Inzwischen antwortet beiden Inszenierungen das neue so genannte postmigrantische Theater im Maxim-Gorki. Auch da sind die ersten Kritiken nicht so, dass man keinen heißeren Wunsch empfindet, als rasch hinzugehen. Die allerletzte Vorstellung im Berliner Ensemble jedenfalls gab für mein Empfinden eher dem Publikum recht als der missvergnügten Kritik von vor zwei Jahren. Und Jürgen Holtz? Ich glaube, ein genau dies wissendes Lächeln in seinem Gesicht gesehen zu haben, als er sich mit den anderen Darstellern verbeugte. Auch das fast beckettsche Format hat er der nachtkritischen Rezensiermaus sicher schon so lange verziehen, dass er sich gar nicht mehr daran erinnern kann.
  www.berliner-ensemble.de


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