Williams: Orpheus steigt herab, Theater Rudolstadt

Es gibt Theater, die ihren Besuchern mitteilen, wenn eine Abendbesetzung anders ist als im Programmheft ausgedruckt. Rudolstadt vertraut offenbar darauf, dass man im Parkett schon merkt, dass die dämlich-dreiste Beulah Binnings nicht von Charlotte Ronas, sondern von Verena Blankenburg gespielt wird. Sie hüpft, trippelt, nervt und sägt, sägt und nervt an der Seite von Laura Göttner als Dolly Hamma, damit die weiblichen Kotzbrocken dieses Südstaatendramas im fließenden Übergang zur reinen Karikatur vorstellend. Dass die Südstaaten der USA nicht zwingend Südamerika sind, hat sich zwar in manchen Redaktionen Ostthüringens noch nicht durchgehend herumgesprochen, dafür haben die aber ein Sack voll „wunderbar!“ und „großartig!“ so weit geöffnet, dass man glauben könnte, die Wiener Burg hätte ein Gastspiel zu Füßen der Heidecksburg absolviert, was nur mit mangelnder Kenntnis wirklich wunderbaren, wirklich großartigen Spiels, es dürfte sogar Ensemblespiel sein, erklärt werden kann.

Es nützt einem Haus wenig, wenn wohlwollende Nachrede alle Beteiligten in der Scheinsicherheit wiegt, mal wieder ganz phantastisch gewesen zu sein. In Theatermetropolen wird brutal von C-Häusern oder Provinz geredet, was mit Folgerichtigkeit in der C-Provinz Wagenburgmentalitäten erzeugt. Dabei liegt das einfachste Problem aller kleinen und kleinsten Häuser, alle wissen es, keiner redet gern, schon gar nicht öffentlich, darüber, im Personalbestand. Man wagt sich nicht vorzustellen, wie es wäre, wenn die Rollenfächer, so etwas gab es früher, jeweils doppelt besetzt wären, so dass Intendant und Gastregisseur mal die, mal jene erste Liebhaberin einsetzen könnten. Wenn aber Kündigungsschutz und Fluktuation dafür sorgen, dass zwar die Sparte komischer Alter und komische Alte vierfach bevorratet sind, junger Held aber einfach keiner da ist, dann wird das Haus von einer der verheerendsten Bedrohungen bedroht, die es gibt: Unfreiwillige Komik.

Man stelle sich vor, die Inhaber des Freitagsabos dürften es auf Grund ihres Durchschnittsalters sehr gut können, in „Romeo und Julia“ stünde Ingeborg Krabbe auf dem Balkon, während unten Heinz Rennhack die Laute schlägt. Auf Rudolstadt bezogen hieße dies, selbst wenn Laura Göttner göttlich spielte, was als Möglichkeit auszuschließen bösartig wäre, müsste sie in einem Twiggy-Drama in der Hauptrolle als Fehlbesetzung durchgehen. Auf „Orpheus steigt herab“ lastet die Verfilmung mit Marlon Brando, das kann man ausklammern, es wird immer mindestens bleiben die Erwartung an diesen Val Xavier, er müsse einer sein, von dem man glaubt, ihm flögen alle weiblichen Herzen von 13 bis 72 ungegürtet zu. Meiningen hat so einen, der immer aussieht, als wäre er als Paul-Newman-Double auf die Welt gekommen, der muss dann nur noch gut spielen. Rudolstadt hat die Rolle ihrem jüngsten Ensemble-Mitglied Tino Kühn (Jahrgang 1988) anvertraut. Seine Jacke (Ausstattung Mathias Werner) sieht tatsächlich wie eine Schlangenhaut-Jacke aus.

Es gleich zu sagen: das Blues-Duett zwischen ihm und Carol Cutrere (Anne Kies) war mir der Höhepunkt des Abends, auch wenn mein Auge vom ersten Auftritt an, man verzeihe das erzschräge Bild, über diese wirklich dämliche wasserstoffblonde Mittelscheitel-Perücke stolperte. Anne Kies hat eine der beiden Frauenrollen mit Bandbreite (die andere ist Lady Torrance – Carola Sigg). Und doch nimmt man ihr das einstige Aktivistinnen-Sein mit medienwirksamer Ein-Frau-Demo nicht ohne leises Bauchgrimmen ab. Dazu ist sie dann zu oft im Doppelsinne der Geist aus der Flasche, der zwischen Bühnenhintergrund und Rampe irrlichtert. Und natürlich lachen zu viele Zuschauer, wenn Tino Kühn auf ihre zerbrechliche Zartheit anspielt. Es sind die Zuschauer, die von Abo-Tag zu Abo-Tag sich herzlich wünschen, Anne Kies würde doch bisweilen etwas mehr Leberwurst aufs Brot tun. Genau dies sind die gemeinten gefährlichen Effekte. Markus Seidensticker, der den Dog Hamma und Carols Bruder David Cutrere zu spielen hat, ist mindestens in jeder zweiten Rudolstädter Inszenierung von diesem ihm natürlich Unrecht tuenden Effekt bedroht. Oder glaubt irgendjemand, dass diese Carola Sigg diesen David vor Jahren einmal bis zur Selbstverleugnung lieben konnte? Wenn Seidensticker dagegen die Keule schwingt gegen den und das Fremde, dann passt sogar seine Haartolle.

Als „Orpheus steigt herab“ kein halbes Jahr nach seiner US-Premiere seine deutsche Erstaufführung in Düsseldorf erlebte und dann schneller im amerikahörigen Westdeutschland als je der schnellste neue Sowjetrenner im Osten herumsauste, gab es sofort sehr kritische Stimmen. Man mäkelte am Antike-Bezug, denn die Bildlichkeit von Orpheus und Eurydike geht eben nicht auf, wierum man sie auch wenden mag. Man stellte Bezüge zu Vorbildern wie Ibsen und Tschechow auf, gegen die die mehr und mehr nach Hollywood schielende Broadway-Routine von Tennessee Williams fast nur noch negativ abstach. Die Horrorbilder aus den amerikanischen Südstaaten nutzten sich durch Wiederholung von Erfolgsmustern eben doch ab, was beispielsweise die jüngste Nübling-Inszenierung, die gar zu den Berliner Theatertagen eingeladen wurde, dazu brachte, die USA-kritischen Aspekte fast völlig zu verflüchtigen. Dazu wollte sich Regisseur Alejandro Quintana nicht bequemen, wofür ihm nicht genug gedankt werden kann. Und doch produziert die Regie diffuses Unbehagen mit ihrer letztlichen Unentschiedenheit.

Natürlich freuen sich alle Theaterabteilungen, wenn sie mal wieder ein „richtiges“ Bühnenbild bestücken können, es waren Zikadengeräusche ebenso vom Band zu spielen, wie Bluthundegebell, verschiedene Musik von Jukebox-Hits bis Live-Blues, man konnte Draperie für die Konditorei-Neueröffnung von oben herab sinken lassen und wieder verschwinden, echte Cola-Flaschen wurden geöffnet. Das alles sieht verdammt nach kaum verfremdetem Naturalismus aus, der Autor hat das alles auch sehr ausführlich, meist zu ausführlich zu Papier gebracht. Dann aber plötzlich erlebt der Zuschauer, der den Text kennt, dass der Neger, der bei Williams, der nun wirklich ein dezidierter Antirassist war, auch Neger genannt wird, gewissermaßen im Regelvollzug der Blackfacing-Debatte, zu der Rudolstadt mit einer sehr unglücklichen Szene in der noch viel unglücklicheren „Othello“-Inszenierung beitrug, zu einem verdreckten Onkel Pleasent mutieren musste (Dietrich Höhne). Realismus verwandelt sich so im Handumdrehen in krude Correctness.

Jabe Torrance (Joachim Brunner) kommt eingangs aus dem Krankenhaus nach Hause, er ist dem Tode geweiht, den er zu Hause erleben soll, alle wissen es, dennoch wird eine blöde Willkommensparty inszeniert, in die dann der Pseudo-Orpheus hineinschneit, damit alle Unglücke ihren Lauf nehmen können. Tut mir sehr leid, es sagen zu müssen, Joachim Brunner sah aus und bewegte sich wie Frankensteins Monster und wenn er links oben aus dem Tapetenfensterchen nach unten brüllte, war die nächste unfreiwillige Komik inszeniert. Denn auf der anderen Bühnenseite oben guckt gelegentlich in Irland ein Gelbbart eigens als Lachanlass. Williams hat aber eine abgrundtraurige Geschichte geschrieben und man soll, nur weil ein Publikum vielleicht spaßgesellschaftlich endverdorben sein könnte, nicht jeden Trauerfall durch Mumpitz aufheitern. Dieser Jabe ist ein Lynchmörder, alle die Weißen dieser Kleinstadt sind tatsächliche oder potentielle Lynchmörder. Die Regie hübscht aus unbekannten Gründen das brutale Ende auf. Denn Erschießen ist verglichen mit den Bluthunden draußen, die es bei Williams besorgen, fast humaner Mord.

Eurydike in der Unterwelt, kurz der antiken Fabel zu folgen, muss bleiben, wo sie war, weil sich Orpheus nach ihr umdreht. Vielleicht sollte aber eher Carol die Eurydike sein, nach der sich Orpheus freilich auch umdreht. Es gibt selbst in der Ende der 50er einheitlich von allen Kritikern verrissenen Eindeutschung von Hans Sahl, Rudolstadt spielte den Text von Wolf Christian Schröder, eine Menge guter und tiefer Sätze. Die Regie hat wenig davon gestrichen. Sie hat den finalen Fazit-Text über jenes Amerika, das auf der Bühne am Pranger steht, an den Anfang und an das Ende der Inszenierung gestellt, Anne Kies spricht im Lichtkegel vom einst wilden und nun kranken Amerika. Bei Williams aber ist das Primärsymbol des Krankseins ausgerechnet das Neonlicht, Chiffre mit mäßiger Tauglichkeit. Es ist der Strichfassung zum Opfer gefallen. Das ist zu viel Milde gegen den Dramatiker. Der mit Nebenrollen wie dem Sheriff Talbot (Matthias Winde) und seiner Gattin Vee (Ute Schmidt) sein Kleinstadt-Panorama weitete ohne zwingende dramaturgische Notwendigkeit solcher Figuren. Ute Schmidt nutzte sehr beherzt die Chance, ihr ganzes Können zu zeigen. Matthias Winde malmte zu sehr, blieb aber in seiner sublimeren Gefährlichkeit einprägsam.

Lady Torrance ist eine Rolle, die auf ihr hin Kippen angelegt ist. Brutaler kann ein Leben einer noch jungen Frau kaum mitspielen. Sie mit fast angestrengt starrer Miene zu spielen, die viel zu symbolisieren hat: Kälte, Abwesenheit von Liebe, Verlorensein, beherrschten Hass, Entsagung auch, ist eine nahe liegende Lösung. Immer wenn sich Carola Sigg für Momente, später länger, von Situationen überwältigen lässt, sich ein Lächeln erlauben, eine Weichheit, ein Sichöffnen, Entgegenkommen, legitimiert sie ihre vorherige und ihre folgende Erscheinungsweise. Die Figur wird reich. Dazu gehen Schauspieler idealerweise auf Bühnen. Manchmal ist weniger mehr, dies als Satz fürs Phrasenschwein, und so hätte ich nach den knapp zweieinhalb Stunden mit Pause heftiger geklatscht, wenn es weniger Schreianfälle gegeben hätte. Carola Sigg hätte stumm zusammenbrechen dürfen, ohne der Situation etwas genommen zu haben, die ihr den Ehemann als Mörder ihres Vater verrät.
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