Tschechow: Der Kirschgarten; Maxim-Gorki-Theater Berlin

Zwei Stunden und zehn Minuten Tschechow. Tschechow? Nun ja, irgendwie lässt es sich nicht völlig leugnen, dass hier ein "Kirschgarten" geschieht. Wer das Stück Monate nach der gefeierten Premiere sieht, hat keine Chance, sich einfach naiv zu stellen. Wenigstens das Echo des Jubels ist bis zu seinen Ohren gedrungen. Es ist ein Jubel gewesen, der Gebieterisches an sich hatte. Schon wegen des bis ins vorletzte Anzeigenblatt durchdeklinierten Begriffs des postmigrantischen Theaters. Wir wissen, dass die Einführung von Wörtern mit Post-Vorsilbe schneller ist als die Post selbst. Ebenso ist mit bester Regelmäßigkeit der Begriffsverschleiß höher als der beliebiger pünktlich zum Ende ihrer Garantiezeiten dahinsterbender Markenartikel jeglicher Produktart. Noch wissen wir nicht, ob da wirklich eine Marke im Kommen ist oder nur Saisonware für das ewig gelangweilte Feuilleton in seiner ewigen Trendgier.

Der "Kirschgarten" ist bekannter als bekannt. In Berlin zumal, wo die führenden Häuser einen seltsamen Eifer entwickeln, genau das Stück in den Spielplan zu nehmen, das die werten Wettbewerber auch gerade oder eben erst daselbst hatten. Das hat den Vorteil, dass man schon kenntnissatte Foyergespräche belauschen kann, ehe man den ersten Bühnenton vernahm, weil immer einige da stehen, die die beiden anderen Inszenierungen erst kürzlich sahen und folglich den Vergleich ganz frisch vollziehen wollen. Im Falle des "Kirschgarten" geht es mir ähnlich, ich sah ihn im Deutschen Theater, ich sah ihn im Berliner Ensemble und nun muss ich zusehen, wie ich damit zurechtkomme, dass man diesen türkischen Tschechow mögen wollen muss, um ihn mögen zu können. Reizvoll ist er, ohne Frage. Teilweise hat er Bestechendes. Und etliche Ideen wollen dennoch nicht aufgehen. Will mir scheinen.

Nurkan Erpulat hat erst einmal die eigene Fassung einer vorhandenen deutschen Fassung nach einer neuen und wenig bekannten Übersetzung zur Spielgrundlage gemacht. Er hat die Wichtung der Figuren des Originals verschoben. Einige gewinnen bei ihm ein erstaunliches Eigenleben, andere treten in den Hintergrund und viele der von der Rampe direkt ins Publikum gesprochenen Tiraden, die insbesondere der Student Trofimow (Aram Tafreshian) und der Onkel-Bruder Gajew (Falilou Seck) vortragen müssen, wirken erstaunlich humorlos neben den doch recht kräftig gesetzten komischen Akzenten im Spiel. Der Verdacht ist nicht einfach von der Hand zu weisen, dass die Phrasen, die teilweise schauderhaften Phrasen dieser beiden streng genommen für das wirkliche Leben untüchtigen Männer in dieser Stücklesart zutiefst ernst genommen werden. Dazu passend gehen alle Ansätze zu ihrer Relativierung, so sie überhaupt gezeigt werden, fast vollkommen unter.

Der Gesamteindruck: Die Regie setzt auf harte Schnitte. Eben noch die lärmenden, die krachverrückten Momente und unvermittelt danach die leise berührenden. Allein die Rolle der Charlotta (Fatma Souad) verselbständigt sich zu einer Art Nummern-Revue, die natürlich Vergnügen bereitet. Es gibt diverse Zitate für alle Entdeckungsfreudigen unter den Zuschauern, jede Anspielung spekuliert auf eine Minderheit von Wissenden. Eine unaufdringliche Dominanz entfaltet Sesede Terziyan als Warja. Ihre Präsenz schwindet selbst dann nicht, wenn sie einfach nur im Hintergrund steht. Irgendwie aber will sich alles nicht zum Ganzen fügen. Warum ist diesen Russen überhaupt Türkisches zugegeben? Warum muss ausgerechnet Lopachin (Taner Sahintürk) sich eingangs mit Kant herumschlagen? Der nach eigenem Bekenntnis nie den Ton traf, trifft ihn hier auch nur nach dem Willen der Regie.

Die wiederholte Aussage, dass Arbeitskräfte bestellt wurden und Menschen kamen, ist keine aus dem ablaufenden Geschehen erwachsende. Lopachin ist der Sohn eines Bauern, der zu Reichtum kam. Das hat mit der ursprünglichen Akkumulation nach der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 zu tun, in Russland, und bei Tschechow, bei Regisseur Erpulat allenfalls bedingt. Das Türkische wirkt fast durchweg hereingetragen, nicht herausgelesen, es hat nicht selten den Charakter von purer Willkür. Und es hat, sehr kalkuliert, Momente des Erschreckenden, wenn der Höllenläm der Feier losbricht, in dem die alte Welt der lebensuntüchtigen, die Realität nicht einmal mehr ansatzweise wahrnehmenden Kirschgarten-Familie buchstäblich im Gewimmel untergeht, im Krach nicht mehr zu hören ist, selbst direkt von der Rampe her unverständlich bleibt. Sie verlieren nicht nur ihr Eigentum, sie verlieren auch vollständig ihre Rolle. Ihre Abreise unter Zurücklassung des alten Dieners Firs (Cetin Ipekkaya) ist auch im übertragenen Sinne ein Verschwinden von der Bühne.

Zu den Verlusten der Umwertung der Figuren gehört die tragende Rolle der Ranewskaja (Ruth Reinecke). Sie ist am stärksten, als sie offenbart, dass sie jenen Tunichtgut in Paris immer noch liebt und seinem Hilferuf folgen wird, auch wenn es genau der Mann ist, der für den Ruin des Besitzes, um den es geht, große Mitverantwortung trägt. Ihre Beziehung zu Gajew dagegen hängt schon arg in der Luft. Was auch damit zu tun hat, dass dessen hier fast beiläufiges Bekenntnis, sein Vermögen für Bonbons ausgegeben zu haben, zwar die Zuschauer zum Lachen bringt, nicht aber sich seinem bisherigen Bild einfügen will. Zu den Verlusten zähle ich die separaten Liebesgeschichten der Komödie, weil sich weder die Beziehung des ewigen Studenten Trofimow zur Tochter Anja (Marleen Lohse) noch die Beziehung zwischen Dunjascha (Mareike Beikirch) und Jascha (Tamer Arslan) auf der Bühne erschließen. Hätte sich die Regie entschlossen, ihren „Kirschgarten“ nach Tschechow zu präsentieren und nicht von Tschechow, wäre manch radikalerer Griff im Sinne der eigenen Idee sicher möglich gewesen.

So bleiben eine Reihe von beeindruckenden Momenten ernsten wie komischen Zuschnitts
letztlich unverbunden. Wenn der alte Firs ins Publikum redet in seiner Muttersprache, die hier natürlich nicht russisch ist, wenn er die Klarinette spielt, das hat viel mehr als nur etwas. Überhaupt ist der Einsatz von Gesang und Musik die stärkste Zutat des Abends. Wie hier „Am Brunnen vor dem Tore“ ins Spiel gebracht wird, das ist hintergründig gut. Und dass alle, buchstäblich alle Darsteller gesanglich beeindrucken, soll nicht unerwähnt bleiben, denn selbstverständlich ist das keineswegs. Insgesamt bleibt die Frage, ob die Geschichte des Aufsteigers Lopachin tatsächlich die im Gorki mit ihr aufgeworfene Integrationsproblematik trägt, ob die Geschichte der Gutsherrin Ranewskaja, die an ihrem Kirschgarten so hängt, dass ihr kapitalistische Grundstücksverwertung undenkbar erscheint, für eine Diskussion des Themas Heimat taugt. Immerhin verlässt die Herrin ihr ehemaliges Gut am Ende recht leicht und zügig.

Vielleicht täuscht der Eindruck, dass die Darsteller mit Migrationshintergrund bisweilen dazu neigten, hiesige Klischees zu stark zu parodieren und zu ironisieren, was immer Wirkung erzielt, zumal in Berlin, aber eben auch Momente verselbständigt, die die Ganzheit des Abends in Frage stellen. Wobei ich vermute, dass Ganzheit gar nicht zu den primären Zielfunktionen der Regie gehörte. Die aus einem alten Schrank einen alten Stuhl macht, was eben nicht ganz gleichgültig ist. Warum auch noch auf Martin Luther King anspielen und seinen Traum? Warum Deutschland gegen Frankreich stellen, nur weil der adlige Verschwender in Paris lebt und nach der Ranewskaja ruft? Hamlet-Zitate und -Anspielungen auch noch, da waltete wohl zuviel an Ehrgeiz für ein einziges Projekt. Dazu passt, das Charlotta nach Kreuzberg will. Vielleicht ist Postmigrantismus erst dann wirklich präsent, wenn ihre Akteure nicht mehr glauben, ihn ausstellen zu müssen. Vorher ist mir ein Film wie „Almanya – Willkommen in Deutschland“ (Regie Yasemin Samdereli) in seiner grandiosen Stimmigkeit einfach lieber.
  www.gorki.de


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