Horvath: Zur schönen Aussicht; Landestheater Coburg

Nach genau 70 Minuten verließen grimmigen Blickes zwei Paare gedämpft lautstark, aber gut erzogen auffällig, den Saal. Auf der Bühne musste sich Philippine Pachl gerade eben in der Rolle der Christine von den fünf Männern des Spiels malträtieren lassen. Da sich die Verärgerung des ranken Frackträgers mit roter Fliege nebst Begleitung, so etwas geht in Coburg eben auch zu einer Premiere, keinesfalls auf die Inszenierung bezogen haben dürfte, ist die Komödie Horvaths in ihrem Textbestand als das Ärgernis zu vermuten. Das freilich wäre bereits wieder hochinteressant, hier aber nicht näher aufzuklären. Auch die auffällig vielen leeren Plätze in Parkett und Rängen sind nur zu registrieren oder in lose Verbindung mit dem sehr langen Brückentagswochenende zu bringen, da sonstige Stamm-Theatergänger wohl auswärts zu weilen beliebten. Sie müssen sich die nächsten Vorstellungen vorbehalten, in denen vielleicht sogar eigens für sie noch an der einen oder anderen Stelle gefeilt ist.

Konstanze Lauterbach (Regie und Kostüme) hat sich dafür entschieden, der Komödie aus dem Jahr 1926 das Komische weitestgehend zu entziehen. Man hörte deshalb auch über alle drei Akte hin nur höchst selten ein verhaltenes Insider-Lachen, deutbar als Freude über gezeigte Darsteller-Leistung. Das ist vollkommen legitim, wenn die vorgeführte Lesart halbwegs aufgeht. Zu sehen ist vor allem das Doppeldrama zweier Frauen, die bis an die Grenzen des Wahnsinns getrieben werden von einer Männerumwelt, an der kein gutes Haar ist. Ödön von Horvath hat für sein Spiel um die Macht des Geldes alles andere als verschämt Textbezüge zu Goethe, Schiller und sogar Kleist hergestellt, Konstanze Lauterbach greift den Verweis auf Goethes „Faust“ auffallend stark akzentuiert heraus, dem Urteil: zu stark würde ich nicht vehement widersprechen wollen. Obwohl die Stimmigkeit dabei nie in Gefahr gerät. Dass bei dieser Stückdeutung die beiden Frauenrollen, Kerstin Hänel ist Ada Freifrau von Stetten, zusätzlich Wirkkraft erhalten, liegt auf der Hand.

Wie viele Premierenzuschauer werden wohl, soweit sie nicht mit Thüringer Kennzeichen am Auto anreisten, den hintersinnigen Einsatz ausgerechnet eines uralten DDR-Schlagers bemerkt haben? Das „Damals“ von Bärbel Wachholz (1938 -1984), aufgenommen 1959, Komponist Gerd Natschinski, verbindet Schmelz mit Schmalz und hat in einer Coburger Inszenierung eines österreichischen Neu-Klassikers fast eine subversive Dimension. Der historische Zufall will es, dass die Sängerin, die über Jahre so etwas wie die Königin des DDR-Schlagers war neben Helga Brauer, in genau dem Jahr geboren wurde, in dem der Dramatiker Horvath viel zu jung (!!!, siehe Schlager-Text) in Paris von einem herabstürzenden Ast erschlagen wurde. Die Wahl des Premierendatums am Vorabend des 1. Juni, eben des Todestages, ist sicher kein Zufall, ebenso nicht die ans Publikum gerichtete Deklamation des Horvath-Satzes: „Der Zufall ist eine eigenartige Einrichtung. Eigentlich undramatisch, aber man trifft ihn trotzdem. Ab und zu.“ Max, der Kellner (Mathias Renneisen) spricht diesen Satz, der Kellner, der ein Designer ist, ein Ästhet, was ihn kaum besser macht.

Wer sich den Kritiker-Luxus leistet, alte Besprechungen von Kollegen zu diesem Horvath zu lesen, der findet signifikant häufig zwei Vokabeln: Lichtgestalt und abgehalftert. Abgehalftert ist immer Ada, Lichtgestalt ist immer Christine, variantenreicher ist die Kollegenschar bezüglich der Männer, wobei der Variantenreichtum natürlich vom jeweiligen Regiekonzept dirigiert wird. Als vor Jahren Martin Kusej „Zur schönen Aussicht“ in Hamburg drei Stunden lang allein dadurch zum Klassiker erhob, dass er meinte, eine Neuinterpretation vorlegen zu müssen, diese Höchststrafe wird immer nur gegen Klassiker angewendet, gab es gute Gelegenheit für alle besoldeten Kunstrichter, ihren jeweiligen Assoziationshintergrund zu offenbaren. Man glaubt kaum, was Menschen alles sehen, wenn sie es vorher schon in ihrem Leben gesehen haben oder meinen so tun zu müssen, als stünde ihnen das Jeweilige dräuend vor Augen, sobald sie ein Theater betreten. Das funktioniert anhand von brachialsymbolischen Bühnenbildern, an denen in den siebziger Jahren schon der große Georg Hensel fast regelmäßig verzweifelte, bis heute am besten. In Coburg hat Gabriele Vöhringer die Bühne wohltuend unpenetrant, wenngleich hotelfern, gestaltet.

Nach und nach, vor allem in den beiden angedeuteten Aktpausen, wird im Hintergrund eine tatsächlich schöne Aussicht sichtbar, ein Bergpanorama mit Ortlergruppen-Gipfel und Herbstlaubbäumen, postkartenbunt. Gespielt wird insgesamt gut 100 Minuten ohne Pause, bei Kusej waren es noch drei volle Stunden, spätere Inszenierungen bevorzugten zwei Stunden, auch schon ohne Pause, der Trend hochgerechnet, bedeutet, dass in zehn bis 15 Jahren „Zur schönen Aussicht“ zur kritischen Einakter-Masse schrumpft. „Alle meine Stücke sind Tragödien – sie werden nur komisch, weil sie unheimlich sind. Das Unheimliche muß da sein.“ Ohne dieses Horvath-Zitat geht gar nichts, in Coburg steht es deshalb sehr weit vorn im Programmheft, in Oberhausen musste sich einmal sogar eine Regie die gründliche Missachtung dessen um die Ohren hauen lassen, was ja den arg komischen Schluss zulässt, Regisseure hätten sich an das zu halten, was Autoren ihnen an Text und Regieanweisungen vorgeben. An so etwas glauben nur Autoren und Menschen hinter den Bergen bei den sieben Theaterzwergen.

„Zur schönen Aussicht“, auch das vergisst selten einer/eine zu erwähnen, geht auf Horvath-Erlebnisse in Murnau zurück (Das tut seine „Italienische Nacht“ auch, herrje), was aber definitiv nebensächlich ist, wenn die aktuelle Regie ohnehin an Irak, Sarajewo, Finanzkrise, SA oder was immer ihr eben so einfällt, erinnern möchte. Natürlich kann einem bei Strasser die alte SA-Charge der Hitler-Zeit einfallen wegen der Namensgleichheit, warum nicht zur Abwechslung dann mal Johano Strasser, den es ja auch gab und gibt oder all die Müller-Bataillone, die die deutschsprachige Welt bevölkern, nur eben leider keinen prägnanten Verweis hergeben. Wieder ist Coburg wegen der wohltuenden Unpenetranz zu loben. Man muss dieser fünfköpfigen Männer-Riege ja wirklich nicht zusätzliche Rucksäcke aufladen, sie tragen an ihrer Jämmerlichkeit vollkommen schwer genug. Ihre Abgründe gewinnen freilich nicht dadurch Tiefe, dass man das objektiv Komische ihres Seins ausblendet und ergänzend dazu auch das szenisch Komische, das Horvath immer hat, so auch hier. Ein gewisser Shakespeare, in seinem Jubeljahr darf daran erinnert werden, hat für immer und ewig gezeigt, wie nahe das eine neben das andere passt, ohne dem jeweils anderen Substanz zu rauben.

Alexander Peiler ist jener Hoteldirektor, der früher Schauspieler war, der sich über Christine hermachte und nun das extrem schäbige Spiel mitspielt, das ihm die anderen aufschwatzen, um die vermeintliche Alimentenjägerin loszuwerden. Diese Konstellation hat Horvath nicht erfunden, ihr aber eine besonders perfide Variante abgewonnen. Das traurig-armselige Personal des Hotels besteht aus dem Kellner Max (Mathias Renneisen) und dem Chauffeur Karl (Thorsten Köhler), beide mit Vergangenheit, beide einbezogen in die Riege, die sich Kerstin Hänel als Ada gönnen darf zu Spaß und Vergnügen. Konstanze Lauterbach hat Kerstin Hänel nicht exponierte Hässlichkeit abgefordert, das verkürzt die Rolle keineswegs. Besonders in der großen Szene der beiden Frauen, da der sicher am häufigsten zitierte Dialogsatz fällt: „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu.“, zahlt sich das mehr als aus. Da stehen die beiden Frauen Hänel und Pachl nicht nur ganz buchstäblich erhöht, da sind sie es von Horvaths Gnaden.

Niklaus Scheibli ist der Weinvertreter Müller, dessen Nazi-Sprüche klingen, als wären sie allzu eifriger Aktualisierungswut der Regie entsprungen: nein, sie stehen so bei Horvath, der eben schon kommen sah, was kam, als manch anderer Theaterautor noch in spätem O-Mensch-Pathos machte. Die kräftigsten Spuren österreichischer Tradition trägt die Figur, die Nils Liebscher verkörpert. Emanuel Freiherr von Stetten ist jener Adel, der durch ganze Regalreihen von Büchern aus der Monarchie geistert (bisweilen auch zu Tschechow ausgewandert), für die wurde eigens der hübsche Begriff Morbidezza erfunden, ein wenig Tuntigkeit wird der Rolle gern angeheftet, so auch in Coburg, was ihr kaum schadet, nur etwas nach Vordergründigkeit schmeckt. Böse sind alle diese Männer, die Spurenelemente an schlechtem Gewissen, die sich zwischendurch und vor allem im Finale, als alles anders ist, zeigen, heben das nicht auf. Für Moraltheologen hat der Dreiakter auf alle Fälle eine verheerende Moral, er belegt ohne alles Ideologie-Gel materialistische Theoreme.

Das Verwirrspiel mit dem vermeintlich oder tatsächlich toten Kind der Christine ist möglicherweise als das Unheimliche gedacht, das dann freilich den Horvath widerlegt, weil es die Tragödie nicht eben komisch macht. Dass Christines „Es gibt einen lieben Gott. Aber auf den ist kein Verlaß. Er hilft nur ab und zu, die meisten dürfen verrecken. Man müßte den lieben Gott besser organisieren. Man könnte ihn zwingen. Und dann auf ihn verzichten.“ weder reduziert noch sogar gestrichen wurde, es war nach früheren Coburger Strichfassungen anderer Stücke nicht gänzlich undenkbar, sei genau deshalb eigens herausgehoben. Denn hier ist wirklich Substanz Horvath. Man kann aus allen seinen Stücke solche und ähnliche Gott-Sätze nehmen, sie waren ernst gemeint und sollten ernst genommen werden. Ich habe überzeugendere Abende in Coburg erlebt, im Großen Haus wie in der Reithalle. Vor allem Philippine Pachl wie auch Kerstin Hänel im Zusammenspiel mit ihr setzen die klar stärksten Akzente des Abends. Die kommende Saison wird es nach dieser schwer haben, die Latte liegt hoch. Auch mit diesem Horvath. (Lesen Sie ergänzend auch zur Weimarer Inszenierung „Zur schönen Aussicht“, THEATERGÄNGE, 29. September 2011)
  www.landestheater-coburg.de


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