Gorki: Kinder der Sonne, Deutsches Theater Berlin

3sat beweist einen besonderen Humor, indem der Sender die Stephan-Kimmig-Inszenierung  von Gorkis Stück dem Russland-Thema zuordnet und die Ausstrahlung auf den besten Sendeplatz des Sonnabends festsetzt. Mit Gorki hat die Inszenierung nicht sehr viel, mit Russland gar nichts zu tun. Und ist dennoch ein Erlebnis geworden. Das liegt an den Schauspielern, die auch dann, wenn ihnen Fernsehregie mit Kameras nahe rückt, nicht verlieren, sondern, vermutlich, gegen die Wirkung auf der Bühne in der Reinhardt-Straße sogar noch gewinnen. Ob freilich, wenn Jegor, der Hausmeister, der bei Gorki als Schlosser firmiert, am Ende in die Kamera sagt: „Na, Ihr werdet schon sehen!“, auch nur ein Bruchteil dessen ankommt beim Zuschauer, was vom verdünnten und verflachten Drama noch immer ankommen könnte nach diesen neunzig Minuten, ist zweifelhaft.

Die Strichfassung der Inszenierung setzt auf das Private und dessen Beziehungsgeflecht, es ist ein fast aktionsfreies Konversationsstück geworden, bei dem die Personen zwischen den Stangen, die das Bühnenbild sind, einherlaufen, den Standort wechseln und verschwinden und wiederkehren. Dabei ist es von besonderer Ironie, dass die Hauptfigur Protassow (Ulrich Matthes), deren Leben nur aus Arbeit und damit Blindheit gegen das Leben besteht, immer wegen der Arbeit verschwindet und bald darauf wieder zwischen den Stangen steht. Würde dieser Protassow wirklich ununterbrochen arbeiten, wäre er auf der Bühne nicht präsent, schon bei Gorki nicht. Ob er in einen Gensequenzen-Entschlüsseler verwandelt werden muss, damit er als aktueller Forscher durchgeht, darf bezweifelt werden. Ob die Cholera bei Gorki zur Grippe bei Kimmig mutieren muss, um an die deutsche Schweine- und/oder Vogelgrippen-Hysterie andocken zu können, darf ebenfalls bezweifelt werden. Auch Kritiker assoziieren ja immer nur, was sie kennen. Tschechow also eher und die „Elementarteilchen“ im vorliegenden Falle als etwa eine uralte Utopie eines H. G. Wells, die gar nicht so schlecht passen würde, wenn der Hausmeister von der Seite wie die unterirdischen Proleten bei Wells aus der Gulli-Welt kommen.

Wer einmal, probehalber, nur den ersten der 24 Bände umfassenden großen Gorki-Ausgabe des Aufbau-Verlages in die Hand nimmt, „Kinder der Sonne“ findet sich im Band 21, der wird, schon bei den allerersten Zeilen, Seiten, überrascht sein, wie viel wirkliches Leben in einem Literaturtext sein kann. Bei den Dramen ist das kaum anders und so bleibt es immer eine besondere Leistung jeder Regie, wenn sie es schafft, das Urleben des Dramentextes aus selbigem zu vertreiben, um ein Wasauchimmer daraus zu destillieren. Nach der Theaterpremiere 2010 wurde von der Kritik vermutet, es sei auf Publikumserfolg getrimmt worden, was durch die Übernahme ins Fernsehen ja immerhin nicht widerlegt ist. Nur Wahnwitz kann wollen, dass Theater erfolglos sein soll. Dass es hier um 1905 und eine Zeit der Revolutionen ging, sei geschenkt. Deutschland liebt Revolutionen ohnehin am meisten, wenn sie weit weg in Nordafrika verlaufen oder, wenn näher, dann wenigstens friedlich und a la DDR-Implosion.

Gorki hatte Vorstellungen und Hoffnungen von und auf Zukunft, die heute, ist zu vermuten, weitestgehend flächendeckend verloren gegangen sind. Weshalb seine Stücke in jetziger Inszenierungs-Substanz nicht anders wirken als die dritten Romane junger Autorinnen aus Köln oder Friedrichshain, man belöffelt sich gegenseitig, man äußert, das geht dann auch nur in einer eigenen Textfassung, Befindlichkeits-Konflikt-Prosa von durchgreifend dürftigster Welthaltigkeit. Natürlich müssen auch die Laber-Akteure und Akteurinnen irgend einen Beruf ausüben, man kann das aber, wenn man schon den Protassow zum Genforscher macht, um beim Stück zu bleiben, bei allen anderen gleich stracks vernachlässigen. Diesen Figuren ist ohnehin nur ihre Innenwelt wichtig, die Außenwelt kaum Staffage, deshalb darf sie auf der Bühne aus Alu-Stangen bestehen.

Protassow kaut und staunt, er löffelt Kirschen aus einem großen Einmachglas, er kann sich nicht vorstellen, dass andere nicht verstehen, was ihm wichtig ist, weil, das ist sein freilich berechtigtes Wissen, das, was er macht, in der Tat wichtiger ist, als das Kunstgetue des Wagin (Sven Lehmann), der modisch Düsteres fabriziert, wie man hört, nie sieht. Nina Hoss ist Protassows Frau, die sich vernachlässigt fühlt und zugleich über diesem Gefühl steht auf eine eigene, wunderbar gespielte Weise. Alexander Khuon ist der Tierarzt Boris, der sich umbringt, weil er mit seiner Werbung um Lisa, Protassows Schwester (Olivia Gräser, bei der Bühnenpremiere als Gast Katharina Schüttler) scheitert, obwohl diese ihn, als es zu spät ist, plötzlich auch zu lieben meint und es möglicherweise sogar wirklich tut. Und dann ist da noch Katrin Wichmann als Melanija, die in einer fast selbstverleugnerischen Weise Protassow liebt und erschrickt, wie weit dieser Mann von allem weg ist. Erst als Protassow meint, seine Frau Jelena könnte sich beim Versuch, der kranken Frau des Hausmeisters zu helfen, angesteckt haben, wird er panisch und damit noch neudeutsch-unrussischer, als er schon war.

Es gibt viele einprägsame Momente in dieser kurzweiligen Fernsehaufzeichnung: wie Matthes staunt, als ihm Jegor (Markus Graf) klar sagt, warum, und mit aus seiner Sicht wie viel Recht, er seine Frau schlägt, ist nur der Auftakt. Die Dialoge dieser Leute entlarven sich bei Gorki selbst, bei Kimmig letztlich auch, aber mit einer seltsamen Zeitverschiebung. Immer wieder ist man durchaus geneigt, vor allem den Anklagen Lisas Gehör zu schenken, auch die große Tirade, mit der Nina Hoss, den sie angeblich liebenden Wagin auf das hinweist, was Kunst sein sollte und leisten könnte,  klingt verführererisch und ist ja nicht etwa falsch. Nur wäre das Bekenntnis zu solchem Kunstprogramm heute noch mehr die Selbst-Freigabe zum Ausgelachtwerden als ein Bekenntnis eines auf sich haltenden Theater-Regisseurs zu Angela Merkel als Kanzlerin  und zu ihrer Politik. Man ist darüber wie über alles hinaus.

Die Substanz der Kimmig-Inszenierung steckt in Protassows Klage, dass der Kühlschrank kaputt ist, die Frau des Hausmeisters krank, der Hausmeister nicht in der Lage, den Kühlschrank zu reparieren. Der Rest ist Sülze, gehobene Sülze, denn darin unterscheidet sich diese Schicht nun wirklich von ihren Hausmeistern, dass sie nicht Hausmeister-Sülze redet. Die Drohung der Hausmeister wird allenfalls ernst genommen, wenn sie auf einem Flugplatz die Abwicklung verzögert, falls die Kinder der Sonne zeitgemäß in selbige fliegen wollen.


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