Schiller: Die Räuber, Staatsschauspiel Dresden

Man kann den Abend als ein großes Feuerwerk betrachten. Regie (Sebastian Baumgarten) und Dramaturgie (Robert Koall) haben eine Vielzahl von Punkten festgelegt, von denen aus die einzelnen Raketen gezündet werden, um in der Höhe ein überraschendes Bild zu ergeben, zusammengesetzt aus Farben und Knalleffekten. Staunenden Mauls kann der Zuschauer mit nach oben gerichtetem Blick eine Choreographie sehen, die sich ihm nicht unbedingt erschließt, die aber eine phantastische, eine überraschende und, bittesehr, auch schöne Gesamtwirkung ergibt. Dann kommt eine Pause und die Feuerwerker stellen erschrocken fest, es ist noch eine Menge Zeug übrig geblieben. Was tun damit? Und so schießen sie nach der Pause alles an den Himmel, was blieb, ein paar China-Böller, auch gewöhnliche Knallerbsen, echte Rohrkrepierer sind dabei und viel, was pufft und zischt und wenig leuchtet.

Dass der Gedanke an Feuerwerk nicht an den Haaren herbeigezogen ist, weiß jeder Schiller-Kenner natürlich sofort. Wurden doch der junge Schiller und sein Fluchthelfer Andreas Streicher auf ihrer Flucht aus Stuttgart von einem solchen Spektakel gewissermaßen eigens illuminiert, es erlaubte ihnen das halbwegs gefahrlose, risikoarme Entkommen aus den Fängen des Herzoges hin in eine für beide ungewisse Zukunft. Schillers „Räuber“ sind, je nach Euphorisierungsgrad der Quellen-Interpreten, der größte oder einer der größten Theaterskandale der deutschen Bühnengeschichte gewesen. Wenn man die Schilderung der rollenden Augen und der schluchzenden Frauenzimmer wörtlich nimmt, die niemand nicht zitiert, wenn es um Franz und Karl Moor geht und das schwäbelnde Kraftgenie, der sie in die Welt setzte, ohne eine Aufführung, ohne kalkulierte Bühnenwirkungen vor Augen zu haben.

Die Inszenierung des Dresdner Staatsschauspiels hat dagegen fast ausschließlich Bühnenwirkung im Kalkül. Was herausgekommen ist, ist imposant, streckenweise durchaus kongenial, nur Schiller ist es nicht. Es ist ein Stück, das man vielleicht „Franz und Amalie“ nennen könnte. Der Regisseur hat nicht nur gestrichen, umgestellt, Akzente verschoben, hinzu erfunden, er hat vor allem größten Wert darauf gelegt, ein Anspielungs- und Assoziationspuzzle auf die Bühne zu stellen, das größtmöglichen Beschämungseffekt für den Zuschauer garantiert. Man nennt dieses Operieren mit versteckten oder auch aufdringlichen Zitaten wohl immer noch Postmodernismus. Der hat allerdings seine erste Jugendfrische längst verloren. Ob die Zahl von Zuschauern wirklich je hoch war, die in ein Theater geht, um dort drei Stunden lang Millionenfragen gestellt zu bekommen, gemischt mit 50-Euro-Fragen und überall durchschimmerndem Ehrgeiz? Könnte man seinem noch knapp minderjährigen Sohn, den auf seinem Weg zum Abitur dieser Klassiker interessiert, halbwegs reinen Gewissens empfehlen, sich dieses Spiel anzuschauen? Das Staatsschauspiel stiftet mehr Verwirrung als Aufklärung oder Darstellung, streckenweise nur Verwirrung.

Aber es hat etwas, das fast ganz entschädigt. Es hat einen starken, einen sehr starken, einen fast monströs starken Hauptdarsteller. Wolfgang Michalek ist Franz Moor, er spielt bis zur Pause ein Monodrama, er ist überwältigend. Wenngleich es hilfreich ist, den Schiller vorher am besten ganz gelesen zu haben. Neben einem solchen überbordenden Franz muss sein Alter Ego Karl (jedenfalls bei Schiller sind die Brüder etwas wie die üblichen zwei Seelen in einer Brust) blass wirken, wobei es Unfug ist, dies dem Darsteller Matthias Reichwald anzukreiden. Neben dem gewollten Berserkerspiel des Wolfgang Michalek blieb für alle anderen fast nur die Minderwirkung. Mit einer Ausnahme, die man guten Willens als Versuch deuten könnte, Meister Friedrich Schiller selbst substantiell zu verbessern. Die Ausnahme heißt Amalie von Edelreich, wird gespielt von Sonja Beißwenger. Seit der Uraufführung gab es immer wieder Kritik an der Blässe, Schemenhaftigkeit, Leblosigkeit, Dürftigkeit dieser Frauenfigur. Es hat sich, könnte man nicht ganz ernsthaft sagen, ein eigener Zweig der Frauenfiguren-Exegese entfaltet, man fühlte sich in besseren Kreisen schon zu späten Lebzeiten Schillers berechtigt, beim Thema „Schiller und die Frauen“ zuallererst ein wissendes Grinsen aufzusetzen.

Sonja Beißwenger ist eine agile, eine wortstarke, eine mobile Amalia, die fast ständig sich selbst und eine Parodie ihrer selbst zu spielen hat, die ein sehr breites Nuancenspektrum souverän vorführt, die aus einer Quasi-Nebenfigur Schillers das zweite Ereignis des Abends macht (das dritte wäre Rammstein). Großes Kino das, zweifellos. Was aber verführte Regie und Dramaturgie auf den seltsamen Gedanken, jenes vermeintliche Revolutionsstück aus dem deutschen Sturm und Drang, in dem in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Erwin Piscator rote Fahnen schwenken ließ und aus dem Spiegelberg nicht nur optisch einen Leo Trotzki machte, dieses Nazi-Spiel zu basteln mit Räubern, die wie paramilitärische Hampelmänner agieren, was zum wohlfeilen Begriff der Wehrsportgruppe weiterleitet? Warum macht der alte Maximilian Moor bei diesen holzhackenden, stiefelputzenden, herrenwitzelnden Typen Stubendurchgang? Ende der sechziger Jahre schienen die „Räuber“ fast zwanghaft ein Stück zur Studentenbewegung zu sein, in Ostberlin ließ eine Inszenierung diese sich gewissermaßen selbst entlarven über das Vehikel Karl und Franz Moor.

Gespielt wird Gebrauchs- und Missbrauchsgeschichte eines Stückes und eines Autors, wispert die Fama. Das Stück hätte es auch getan. Natürlich ist es großartig, Michalek plötzlich in den großen Faust-Monolog fallen zu sehen und zu hören und man ist froh, wenn man bei „Mörder, Hoffnung der Frauen“ zu denen im Parkett gehört, die wissend lachen, weil sie den Kokoschka-Titel aus dem Jahr 1909 erkennen und auch noch wissen, dass Kokoschka etliche Jahre in Dresden verbrachte. Aber alles in allem führt die Ideen-Eruption der Regie vor allem nach der Pause zu einem recht krassen Auseinanderfallen dessen, was man hört und dem, was man sieht. Alles ist, als hätten reiche Gewürzspezialisten das Teuerste und Seltenste vom Markt mit Blick auf wenige Feinschmeckerzungen zu einem großen bunten Eintopf verrührt, dem genau das insgesamt fehlt, was alle einzelnen Teile für sich hätten, wären sie allein: Maß und Abschmeckung.

Sechs Darsteller spielen den Diener Daniel mit Gruselmasken, das sieht wunderbar aus. Sonja Beißwenger liest dem alten Moor aus „Emanuelle“ vor, wie die Heldin sich beim Lesen selbst streichelt, immer wieder unterbrochen und immer energischer, das hört sich wunderbar an. Spiegelberg (Thomas Eisen) hüstelt und kichert, witzelt und blödelt, fällt aus Rahmen und Rolle innerhalb der „Wehrsportgruppe“,  das ist ein Kabinettstück ohne Längen. Und wenn Annika Schilling im Verlauf der drei Stunden in verschiedene Rollen schlüpft, zum Schluss gar als zweite Amalia auftaucht und gleich noch den Kosinsky mitspielt, dann hat das etwas. Selbst Albrecht Goette, der Dieter Mann ersetzen muss, weil der nach der Premiere kurzfristig erkrankte, fällt als Vater Maximilian Moor kaum heraus, auch wenn er mit Textbuch in der Hand agierte. Es ist eine Ensembleleistung herausgekommen, die zeigt, welches Potential im Dresdner Haus versammelt ist. Mit einem guten Gefühl bin ich dennoch nicht vom Platz gegangen. Das in der Pause sich schon ausdünnende Publikum verlor in der letzten halben Stunde noch einmal ganze Gruppen. Vielleicht wollten sie aber nur die letzte Bahn erreichen.


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