Priestley: Ein Inspektor kommt, Südthür. Staatstheater Meiningen

John Boynton Priestley (1894 bis 1984) war ein sehr produktiver Mann, schrieb zahlreiche Romane, zahlreiche Stücke, er engagierte sich dezidiert politisch und hatte keine Hemmungen, klare Botschaften zu formulieren. „Ein Inspektor kommt“, sein mit Abstand erfolgreichstes Stück, erlebte seine Premiere 1946 in der Sowjetunion. Mitten in der Zeit Shdanowscher Kulturpolitik, die Stalins Ansichten und Vorgaben umsetzte. In der die später auch auf die DDR übertragene Formalismus-Debatte geboren wurde, in deren Rahmen alles, was sich unter spätbürgerliche Kunst subsummieren ließ, wie nie vorher (und auch kaum je nachher) mit hoher Aggressivität ausgegrenzt wurde. Dass Priestleys Stück gerade dort und gerade in jener Zeit passgerecht schien, muss man dem Autor nicht anlasten, es sollte aber auch nicht verschwiegen werden. Es war klare, unmissverständliche Kapitalismuskritik aus dessen Mutterland heraus und allein deshalb propagandistisch verwertbar.

Regisseur Peter Bernhardt bekennt sich im Programmheft zur politischen Aktualität des Stücks und der damit verbundenen Wirkungsabsicht. Und immer dort, wo ihm die Aktualität des Textes womöglich nicht ohrenfällig genug erschien, hat er gestrichen oder hinzugefügt oder Jugendsprache ergänzt. Das betrifft vor allem vermeintliche Kleinigkeiten. Wenn etwa verdeutlicht werden soll, dass die Forderungen der Arbeiterinnen in ihrem Streik nicht nur gerecht, sondern  bescheiden ausfielen, dann geht es bei Priestley um zweiundzwanzigeinhalb Schilling Stundenlohn, die auf fünfundzwanzig erhöht werden sollen. In Meiningen liegt der Stundenlohn bei sechs Pfund und soll um 18 Pence wachsen. In Meiningen gibt der junge Eric 3000 Pfund gestohlenen Geldes an die von ihm geschwängerte Eva Smith, bei Priestley waren es insgesamt nur 50 Pfund. Und telefoniert wird natürlich nicht nur mit dem Handy, es geht auch die Rede davon. Ebenso von Grünen, die ins Feindbild des alten Birling aufgenommen wurden, wo im Original nur die Sozialisten ihren Platz haben.

Die Erklärung ist einfach. John Boynton Priestley gibt für sein Drama ausdrücklich die Handlungszeit 1912 an, man könnte versucht sein, im Jubiläum dieses Jahres einen äußeren Anlass für die Wahl gerade dieses Stücks in den Spielplan 2011/12 zu vermuten, denn ein weiteres Faktum spricht dafür. Die Verlobungsfeier, mit der der erste Akt beginnt, die durch den kommenden Inspektor gestört wird, findet wenige Tage vor dem Auslaufen eines als unsinkbar gepriesenen Schiffes statt, sein Name wird im Originaltext natürlich genannt, in Meiningen jedoch verschwiegen, obwohl gerade erst alle Zeitungen das hundertjährige Titanic-Jubiläum mit ausufernd viel Platz gewürdigt und benutzt haben. Der Autor hat also die Handlung seines die Menschenfeindlichkeit des kapitalistischen Systems an einem Kriminalfall vorführenden Dreiakters schon zur Entstehungszeit in unübersehbarer Absicht um dreißig Jahre zurück verlegt. Was in den vierziger Jahren fast vordergründig die Erkenntnis propagierte, dass diese Repräsentanten des Systems, vor allem die Elterngeneration, nicht nur moralisch unendlich verworfen sind, sondern eben auch die Zeittendenzen vollkommen falsch einschätzten.

Denn es geht im Dramentext nicht nur um den herrlichen technischen Fortschritt zu Flugzeugen und unsinkbaren Schiffen, es geht auch um den angeblich nicht drohenden Krieg und die angeblich in Russland nicht mögliche positive Entwicklung. Das wusste 1946 scheinbar jedes Kind besser aus der seit 1912 vergangenen  Geschichte. Aus eigenen Sowjetunionreisen bezog auch Priestley seine Sichtweisen zunächst. Wir heute wissen freilich ebenfalls aus der Geschichte, wie kläglich das Experiment der besseren Gesellschaft versagt hat, wir wissen, wie verbrecherisch das System gerade in der Zeit war, als es John Boynton Priestleys Stück für sich instrumentalisierte. Man sollte darüber nicht großzügig hinwegsehen, es umgekehrt keinesfalls überinterpretieren. Denn auch die absichtsvolle ideologische Missdeutung gehörte zum alltäglichen Repertoire des vor allem von der Sowjetunion repräsentierten Systems.

Man muss allerdings heute nur ein einziges Mal einen Wohlhabenderen erleben, ein „Reicher“ braucht es gar nicht zu sein, wie er aus der Tatsache, dass er mehr Steuern zahlt als der „Arme“, der möglicherweise gar keine Steuern zahlt (wir reden nicht von Griechenland), für sich mehr und größere Rechte ableitet, um zu wissen, dass hier ein von keiner Entwicklug zu überholendes strukturelles Problem vorliegt. Dass, mit anderen Worten, die gegenwärtige Relevanz eines Bühnentextes wie „Ein Inspektor kommt“ gar nicht sonderlich bewiesen und beschworen werden muss. Die von Priestley erzählte und in Meiningen in den Kammerspielen zu erlebende Story ist einfach. In die eben laufende Verlobungs-Party kommt ein Inspektor unangemeldet hereingeplatzt. Mit der Nachricht, dass ein Mädchen sich mit Desinfektionsmitteln vergiftet hat, eines schmerzlichen und jämmerlichen Todes starb, ist der Grund seines Erscheinens schnell genannt. Die vier Birlings, Matthias Herold als Arthur, Christine Felix Pohl als Sybil, Josephine Fabian als Sheila sowie Florian Beyer als Eric, hinzu kommt Raphael Kübler als Gerald Croft, begreifen sehr rasch, dass sie in die Lebens- und Sterbensgeschichte dieser jungen Frau schuldhaft verwickelt sind.

Dass dieser Inspektor Goole (Hans-Joachim Rodewald) von Beginn an eigentlich nicht wie ein Inspektor agiert, merken die Birlings und Croft erst spät. Den Zuschauern wird es auch erst nach der Pause, soweit sie den Text nicht kennen und daher die pure Handlungsspannung genießen können, als fraglich vorgeführt. Der vermeintlichen Pointe des Stückes folgt nach knapp zwei Stunden mit Pause nach siebzig Minuten eine tatsächliche Pointe. Es wird telefonisch ein Inspektor angekündigt, der in Sachen eines Mädchens ermittelt, das auf dem Weg ins Krankenhaus an einer Selbstvergiftung starb. Vorher sind die schrittweise Demontage des verlogenen Selbstbildes dieser Familie und die ignoranten Versuche aller, aus dem eigenen Glashaus möglichst mit Schwung den ersten Stein zu werfen, sichtbar. Es gibt ein einfaches Bühnenbild von Monika Maria Cleres, die Rückwand ist transparent, sie ermöglicht in der damit verbundenen Unschärfe den Blick auf Abgänge und Auftritte, aber auch auf eine Brautkleid-Anprobe.

Hans-Joachim Rodewald erscheint mit Schlapphut und fast fußlangem Mantel, dem Schmuggler aus der Sesamstraße gar nicht unähnlich, vor allem wenn er verschwörerisch aus der Innentasche ein Bild zieht und es sofort wieder verschwinden lässt, nur dass die vier Birlings und Croft nicht den kollektiven Erni ohne Bert darstellen. Dieser Inspektor Goole ist viel eher Ankläger als Ermittler, Rodewald kann ihn fast durchgängig in einer Tonlage spielen und mit abweisender Miene. Das Personal solcher Familie hat etwas von Typengalerie, man kennt sie alle ganz oder teilweise aus anderen Stücken des angloamerikanischen Theaters, den versoffenen Sohn, die tumb-dreiste Mutter, den bösen Vater. Verantwortung wird hier gefordert und zugeordnet und es kann nur moralische Verantwortung sein, für die die Bühnenkunst seit spätestens Schiller in unterschiedlicher Lautstärke besondere Zuständigkeit reklamiert.

Priestley differenziert zwischen den Generationen, gesteht den Jungen Schuld- und Unrechtsbewusstsein zu, den Alten allenfalls eine vorübergehende Störung des Gleichgewichts, die rasch der Sorge um den öffentlichen Skandal weicht. Jeder einzelne aus der Familie Birling, der künftige Schwiegersohn eingerechnet, hat ein Puzzleteil beigetragen, deren Verbund schließlich den Selbstmord des schwangeren Mädchens auslöst. Als sich scheinbar die Möglichkeit ergibt, alles nur als einen großen Bluff, eine bewusste, möglicherweise von persönlichen Feinden des Vaters, des  Firmeninhabers Birling, inszenierte Intrige zu sehen, kehren drei der fünf fast im Handumdrehen zur Tagesordnung zurück. Die echte Pointe nach der scheinbaren belehrt sie eines Besseren. Da aber ist das Stück zu Ende und es gibt zunächst einen irritierten kurzen, dann einen herzlichen und langen Beifall. Alle sieben Darsteller (Sophia Ritzmann als Hausmädchen Edna sei wenigstens  erwähnt) mussten mehrfach an die Rampe, verbeugten sich von Mal zu Mal entspannter.

Lediglich Matthias Herold hatte nach einem ersten Versprecher nach der Pause kurzzeitig Probleme mit seinem Text, Rodewald umschiffte eine Klippe souverän, was nur bei Kenntnis des Textes überhaupt auffiel. Zu loben ist das stumme Spiel, das ausnahmslos alle kultivierten, wenn sie keinen Text zu sprechen hatten. Josephine Fabian wirkte dabei am intensivsten. Das Stück hält bis auf das Hausmädchen alle sechs Rollen überwiegend gleichzeitig auf der Bühne, also drei bis vier Darsteller jeweils stumm. Die Regie hat das ansehnlich gelöst, im Detail wäre da und dort noch zu feilen. Der Inspektor kommt und die Zuschauer sollten es bei den nächsten Aufführungen ebenfalls.

www.das-meininger-theater.de

 

 


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